Editorial

Verborgene Wälder so nah

Archiv: Schöne Biologie

Ralf Neumann


Schöne Biologie

(08.12.2019) Jeder kennt den Spruch vom Wald, den man vor lauter Bäumen nicht sieht. Solche „Wälder“ gibt es auch immer wieder in der Forschung. Man erkennt sie nicht, obwohl einem massenhaft Bäume begegnen.

Ein prominentes Beispiel sind die kleinen nicht-codierenden RNAs. Seit man RNA-Gele fährt, haben unzählige Forscher sie darin mit der Lauffront „vorneweg laufen“ gesehen. Deren Urteil war jedoch klar: Abbaufragmente der großen aber labilen mRNAs – also uninteressant. Es dauerte Jahrzehnte, bis einigen von ihnen langsam dämmerte, dass es sich bei einem guten Teil davon vielmehr um kleine, nicht-codierende RNAs handelt – völlig eigene „Existenzen“ mit zellregulatorischen Funktionen, wie sich im Anschluss herausstellen sollte. Heute kennen wir einen ganzen „Wald“ solcher kleiner regulatorischer RNAs – einen regelrechten „Mischwald“ mit einer stattlichen Zahl verschiedener „Baumklassen“ sozusagen.

Die Erkenntnis der wahren Bedeutung dieses „Waldes“ blieb den Bioforschern demnach vor allem verborgen, weil man die Existenz der „Bäume“ falsch erklärte – und ihn daher schlichtweg als langweilig abkanzelte. Was lernen wir daraus? Man sollte sich solche „Bäume“ immer noch ein bisschen genauer anschauen.

Ebendaran krankte es offenbar auch lange bei... Gallensteinen. Denn so lange man sie als Ursache für schmerzhafte Koliken kannte, so lange rätselte man, wie sie überhaupt entstanden. Erst in diesem Jahr brachten Forscher der Universitätsklinik Erlangen Licht ins Dunkel dieses „Waldes“ – und zwar, indem sie sich die Gallensteine ein bisschen genauer anschauten. Übersät mit neutrophilen Granulocyten fanden sie diese – und hatten bald darauf auch entschlüsselt, wie sie die Steinbildung forcieren (Immunity 51(3): 443-50).

Die weißen Blutkörperchen erkennen nicht nur Bakterien und Co. als Gefahr, sondern stürzen sich auch auf winzige kristalline Klümpchen in der Gallenflüssigkeit. Beim vergeblichen Versuch, diese zu schlucken, sterben sie jedoch und stülpen ihre DNA wie ein Netz über die Kristalle, was als Neutrophil Extracellular Trap (NET) bekannt ist. Fatalerweise sorgen sie dadurch aber dafür, dass die Kristalle in der klebrigen Gallenflüssigkeit erst recht verklumpen – und so letztendlich zu quälend großen Steinen auswachsen.

Wie gesagt: Kennt man die „Bäume“ besser, zeigt sich einem auch der ganze „Wald“ in neuem Lichte.

Nehmen wir noch ein frisches Beispiel, wieder eines mit Kristallen. 1853 beschrieb Jean-Marie Charcot am Pariser Hôpital de la Salpêtrière erstmals bipyramidale Kristalle im ausgehusteten Sekret von Asthmakranken; 1872 bestätigte Ernst von Leyden diesen Befund an der Albertus-Universität Königsberg. Nachfolgend wurden die Charcot-Leyden-Kristalle zwar noch in einer Reihe weiterer chronisch-allergischer und entzündlicher Krankheiten aufgespürt. Ebenso erkannte man, dass diese aus dem Protein Galectin-10 gebildet werden, einem der häufigsten Proteine in eosinophilen Granulocyten. Ansonsten jedoch wurden die Kristalle samt ihrer möglichen Verbindung mit Asthma und den anderen Krankheiten weitgehend von der Forschung ignoriert.

Belgische Forscher schauten sich Galectin-10 und seine Kristalle jetzt genauer an. Und tatsächlich: Gebarte sich gelöstes Galectin-10 noch völlig harmlos, entfesselte es im kristallinen Zustand eine überschießende Immunantwort. Zugleich gab das Einbringen der Kristalle in die Lungen von Modellmäusen den Startschuss für die Ausbildung klarer Asthmasymptome, insbesondere für das vermehrte Absondern des typischen zähen Schleims in den Atemwegen (Science 364: eaaw4295).

Wieder also ein „Wald“, den man nicht sah, obwohl die „Bäume“ lange und zahlreich direkt vor einem standen.

Weitere Beiträge aus der Rubrik "Schöne Biologie" finden Sie hier.

Letzte Änderungen: 08.12.2019