Editorial

Beiträge zur Biochemie seltsamer Lebewesen (7)

Die kleine Meerjungfrau

von Siegfried Bär, Zeichnung: Frieder Wiech (Laborjournal-Ausgabe 09, 2005)


Das erste Retortenbaby kam 1978 zur Welt. Doch welche Chancen hatten zeugungs- oder gebärunfähige Frauen des 19. Jahrhunderts? Recht gute, weiß Siegfried Bär, unser Experte für seltsame Lebewesen - vorausgesetzt, es befand sich eine erfahrene Hexe vor Ort.

Die Existenz von Meerfrauen wird glaubhaft in einem Bericht dargelegt, der im Jahre 1836 von dem Dänen Hans Christian Andersen verfasst wurde.

Danach lebte ein Meerkönig mit seiner Mutter und sechs Prinzessinnen am Grunde des Meeres in einem Palast. Die Prinzessinnen glichen bis zum Nabel einer Frau, die Stelle der Beine nahm jedoch ein Fischschwanz ein. Als die jüngste diese Meerjungfrauen 15 Jahre alt geworden war, durfte sie zur die Meeresoberfläche aufsteigen. Dort sah sie ein Schiff mit einem menschlichen Prinzen und verliebte sich in ihn. Die Meerjungfrau hoffte, durch die Heirat eine unsterbliche Seele zu gewinnen. Für die Liebe des Prinzen musste die Prinzessin jedoch ihren Fischschwanz in Beine verwandeln. Eine Hexe erklärte sich bereit, diese Operation vorzunehmen, verlangte aber als Lohn die Zunge der Meerjungfrau. Nachdem ihr die Hexe erklärt hatte, dass Männer bei Frauen nicht zuerst auf die Sprache schauen, war die Meerjungfrau einverstanden.

Biochemische Schwanz-Umwandlung

Interessanterweise teilte die Hexe den Fischschwanz nicht mit einem Messer, also chirurgisch, sondern biochemisch mit einem Trank. Die Herstellung dieses Gebräus sei der Wichtigkeit halber zitiert:

"Es geschehe!" sagte die kleine Meerjungfrau und die Hexe setzte ihren Kessel auf, um den Zaubertrank zu kochen. "Reinlichkeit ist eine gute Sache" sagte sie und scheuerte den Kessel mit den Schlangen, die sie zu einem Knoten band; nun ritzte sie sich selbst in die Brust und ließ ihr schwarzes Blut hineintröpfeln; der Dampf bildete die sonderbarsten Gestalten, so dass einem Angst werden mußte. Jeden Augenblick warf die alte Hexe neue Sachen in den Kessel, und als es recht kochte, klang es, als ob ein Krokodil weinte. Zuletzt war der Trank fertig, er sah aus wie das klarste Wasser.

Der Trank wirkte und mit zwei hübschen Beinen gelang es der Meerjungfrau die Aufmerksamkeit des Prinzen zu gewinnen. Wegen der fehlenden Sprache konnte sie jedoch auf ihr Anliegen nicht aufmerksam machen und wahrscheinlich wäre der Prinz auch nicht darauf eingegangen. Jedenfalls: Er heiratete eine andere und die Meerjungfrau starb am Abend der Hochzeit, ohne eine unsterbliche Seele errungen zu haben. Dieser Bericht fand weltweit größte Beachtung und wird auch heute noch viel gelesen. Dennoch ist die chemische Zusammensetzung des Hexentranks unbekannt geblieben und damit entzog sich die Verwandlung des Fischschwanzes in Beine jeder rationalen Deutung. Ignoranten bezeichnen Andersens Bericht gar als Märchen.

Zugegeben: in Andersens Bericht fehlen viele wichtige Details und er verwendet Begriffe, mit denen wir heute nichts anfangen können. Aber ist das ein Wunder? Als Andersen den Bericht über die Meerjungfrau schrieb, 1836, setzten Liebig und Wöhler gerade die Anfänge der Biochemie. Man kann also von Andersens Bericht keine biochemischen Termini verlangen, denn damals gab es noch keine, und wenn, hätte Andersen sie nicht gekannt.

Der 1805 als Sohn eines Schuhmachers in Odense geborene Andersen hatte nur die Armenschule besucht und war dann als 14-Jähriger nach Kopenhagen gekommen, wo er als Tanz-, Gesangs- und Theaterschüler dilettierte. Gönner schickten ihn auf eine Lateinschule, wo er ebenfalls versagte. Seine Begabung lag im Betteln. Es gelang ihm immer wieder von Privaten oder vom König Stipendien und Fördergelder zu erhalten. Professorale Begabung ist Andersen also nicht abzustreiten und zudem werden Sie sehen, dass er auch ein guter Beobachter war. Den Begriffen, die er verwendet, muß allerdings der richtige Sinn zugeordnet werden. Der zentrale Begriff ist die "unsterbliche Seele". Was meinte Andersen damit?

Theologisch kann er das nicht gemeint haben, denn er war kein Theologe, und selbst wenn, wäre das nicht hilfreich: Auch die Theologen wissen nicht, was eine unsterbliche Seele ist. Andersen zeigte jedoch großes Interesse an Biologie. Er hat ornithologische Abhandlungen geschrieben, "Das hässliche Entlein" und "Die Nachtigall", eine Untersuchung über das Paarungsverhalten von Insekten ("Der Schmetterling") und sogar eine botanische Schrift ist nachweisbar ("Die Prinzessin auf der Erbse"). Die "unsterbliche Seele" muß also biologisch gemeint sein. Nun gibt es bei Eukaryonten nur eines, was potentiell unsterblich ist: Die Keimbahn, die genetische Information, die an die Nachkommen weitergegeben wird. Wer keine Kinder in die Welt setzt, ist totes Holz am Baume der Evolution. Das meinte Andersen, romantisch verbrämt, mit "unsterbliche Seele". Falls es noch eines Beweises braucht: Es ist dies Andersens Lebensproblem gewesen. Frauen wollten nichts von ihm wissen, nicht einmal als er schon berühmt war. Mehr als schwesterliche Zuneigung hat er nie erfahren, Frauen waren für ihn Meerjungfrauen: Oben menschlich und unten kalt wie ein Fisch. Er ist kinderlos gestorben.


Das ewige Problem der Meerjungfrauen: die Männer

Andersens Problem war auch das der Meerjungfrauen: Von sechs Prinzessinnen ist die Rede, nie aber von (Meer)-Prinzen. Die Meerjungfrauen durchschwimmen die Meere, sie suchen die Ufer ab. Vergebens. Kein Mann in Sicht. Besonders die jüngste sehnt sich nach einer unsterblichen Seele (sprich: nach Kindern). Während ihre Schwestern resignieren, beschließt sie, da kein Meermann vorhanden ist, einen Menschenmann zu nehmen. Das ist problematisch. Weibliche Fische, und Fisch ist die Meerjungfrau vom Nabel abwärts - also sexuell - tragen ihre Jungen nicht im Mutterleibe aus. Sie scheiden Eier aus, die das Männchen im offenen Meer besamt. Letzteres ist einem Menschenmännchen nicht zuzumuten. Der Erfolg wäre auch zweifelhaft, da menschliche Spermien im Meerwasser schnell zugrunde gehen. Will sich eine Meerjungfrau mit einem Menschen paaren, muß sie die Eier im Leibe behalten. Sie braucht also einen Stoff, der die Ausscheidungs-Kontraktionen ihrer Eileitermuskulatur lähmt.

Dies, das "Meerjungfrau empfängnisfähig machen", hat Andersen mit "Fischschwanz in zwei Beine verwandeln" umschrieben. Bedenken Sie: Er lebte in einer prüden Zeit (Biedermeier!), er konnte nicht Klartext schreiben.

In der Tat könnte der Trank der Hexe auf die Eileitermuskulatur wirken. Das ergibt sich aus der Art der Zubereitung. Zuerst scheuert die Hexe den Kessel mit einem Bündel Schlangen, wohl Giftschlangen. Wenn Sie eine Schlange reizen, sondert sie Gift ab. Beim "Reinigen" des Kessels handelte es sich um eine Giftextraktion.

Schlangengifte sind eine Mischung vielfältiger Peptide mit vielfältigen Wirkungen. Es gibt neurotoxische, myotoxische, hämolytische und hämorraghische Peptide. Manche Peptide wirken auf Neurotransmitterrezeptoren, andere auf neuronale Ionenkanäle, wieder andere auf Acetylcholinesterasen. Manche binden nur an Muskel, andere bevorzugen Nervenzellen und wieder andere an Erythrozyten oder gar Blutplättchen. So enthält das Gift der Seeschlange Laticauda semifasciata das Peptid Erabutoxin, ein curare-mimetisches Toxin. Viele dieser Peptide sind durch Disulfidbrücken vernetzt und daher stabil gegenüber Hitze und Proteasen.

Schädliche Peptide müssen aus dem Gift entfernt werden. Das bewerkstelligt die Hexe mit Batch-Affinitätsextraktionen. So gibt sie zu dem Schlangengift ihr eigenes Blut. Dessen Zellen binden hämolytische und hämorraghische Peptide. Bei den "neuen Sachen" die ständig in den Kessel geworfen werden, wird es sich um andere Affinitätsmatrizen gehandelt haben. Diese müssen nach der Bindung abzentrifugiert werden. Wie hat die Hexe das bewerkstelligt?

Nun, nicht zufällig wohnt die Hexe neben einem Mahlstrom, von dem unser Berichterstatter schreibt: ...wo das Wasser gleich brausenden Mühlrädern herumwirbelte. Was ist der Mahlstrom anderes als eine Zentrifuge?

Der Überstand wird auch gekocht. Dies vermutlich, um Proteine wie Albumin, Antikörper und unerwünschte Giftbestandteile zu denaturieren und auszufällen. Die wirksamen Toxine dürften jedoch, dank ihrer Disulfidbindungen, hitzestabil sein. Nach der letzten Zentrifugation im Mahlstrom bleibt eine klare Flüssigkeit zurück, die (fast) nur noch die gewünschten, vermutlich neurotoxischen, Peptide enthält.


Vom Mahlstrom in den Blutkreislauf

Nun müssen die gereinigten Peptide noch in den Blutkreislauf der Meerjungfrau gelangen. Peptide, oral aufgenommen, treten aber als große geladene Verbindungen nicht ins Blut über. Die Hexe wußte auch hier Rat: Sie schnitt der Meerjungfrau die Zunge ab! Durch die Wunde gelangen die gereinigten Toxine in den Blutkreislauf und der transportiert sie zum Eileiter, wo sie ihre Wirkung entfalten. Um eine reine Präparation handelte es sich allerdings nicht. Daher leidet die kleine Meerjungfrau nach der Einnahme an Nebenwirkungen: ...bei jedem Schritt, den du machst, ist dir, als ob du auf ein scharfes Messer trätest.

Andersen nutzt das zu hässlichen Ausfällen gegen die alte Hexe. Er unterstellt ihr zudem beim Zungenabschneiden unlautere Absichten. Der Laie Andersen ahnt nicht, dass die Meerhexe nur dem Zwange der Notwendigkeit folgte. Weit davon entfernt, sich für ihre Bemühungen bezahlen zu lassen, tat sie ihr Möglichstes, und dieses grenzt für die damalige Zeit ans Märchenhafte.

Und was war der Dank? Die Meerjungfrau rauschte davon, ließ die Hexe in ihrer Hütte vor sich hin köcheln, ohne einen Gedanken an sie zu verschwenden oder ihr gar am Hofe ihres Vaters eine Dauerstelle oder wenigstens eine Nachwuchsgruppenleiterstelle zu beschaffen. Und der unwissende Schreiberling Andersen stellt die Forscherin gar als Monster mit unsauberen Beweggründen dar. Heutige Schreiberlinge eifern ihm darin gerne nach.

Wir Forscher dagegen beugen uns in Ehrfurcht vor den biochemischen Kenntnissen der alten Meerhexe.



Letzte Änderungen: 22.09.2005