Editorial

Neurobionik

von Winfried Köppelle (Laborjournal-Ausgabe 08, 2000)


"Blinde sehen und Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören." Im Neuen Testament steht's unter Matthäus 11,5 so geschrieben. 1941 Jahre lang war es Glaubenssache, solche Aussagen für bare Münze zu nehmen. Dann kam der englische Arzt Charles Fletcher und das erste erfolgreich verabreichte Antibiotikum - die Aussätzigen wurden rein. Knapp 60 Jahre später könnte sich auch die Sache mit den kaputten Körperteilen endlich ändern: Neurobioniker basteln mit Hochdruck an Methoden, bisher für unheilbar gehaltene Defekte zu reparieren, und in Hannover wurde kürzlich gar eine überaus futuristische Neuroklinik eröffnet, die genau an der Lösung solcher Probleme mitwirken soll.

Neurobionik - was ist das eigentlich? In Laborjoumal 3/99 schilderte Silke Detlefsen an gleicher Stelle Lotos-Effekt und Luftwiderstands-Forschung als Beispiele der "klassischen" Bionik ("Biologie & Technik"). Deren Sinn beschreibt der deutsche Buchautor und Professor Werner Nachtigall als "Lernen von der Natur als Anregung für eigenständiges Gestalten". Entsprechend wird im Spezialgebiet Neurobionik nicht etwa organisches Nervengewebe gezüchtet, sondern die Forscher setzen Hirnelektroden und verpflanzen Mikrochips. Ausgefallene Funktionen des zentralen Nervensystems (ZNS) sollen durch künstliche informationsverarbeitende Systeme ersetzt werden. Devise: Microchip statt Neuron.

Hans-Werner Bothe, Oberarzt an der Uniklinik für Neurochirurgie in Münster, erfand das Kunstwort "Neurobionik" 1992 beim Teetrinken und ist einer der Vorreiter dieser neuen Wissenschaftsdisziplin. Sein ehrgeiziges Projekt: ein Blasenstimulator für Querschnittsgelähmte. Jedes Jahr erleiden in Deutschland weit über 1000 Menschen eine unfallbedingte Querschnittslähmung. Der resultierende Kontrollverlust über Darm und besonders über die nicht zu trainierende Blase stellt eine erhebliche psychische Belastung dar, außerdem können lebensgefährliche Komplikationen auftreten.

Doch für die nahe Zukunft ist eine neurobionische "Wunderheilung" greifbar: Bothes Blasenstimulator. Dieser besteht zum einen aus 20 ringförmigen Elektroden, die im Rückenmark um die für die Blase zuständigen Nervenwurzeln gelegt werden. Der zweite Teil ist ein Mikroprozessor mit einem neuronalen Netz (lernfähig, selbst organisierend und fehlertolerant), der unter der Bauchhaut implantiert wird. Innerhalb von zwei bis drei Wochen - nötig sind laut Bothe 50 bis 100 Versuche - lernt der Chip, die Blasenfüllungszustände zu erkennen und gibt diese Informationen an eine Induktionsspule ab. Der Patient wiederum lernt, deren Signale als Reiz - "es ist Zeit, die Toilette aufzusuchen" - zu deuten.

Wieviel Querschnittsgelähmten hat Bothe bisher Chip und Elektroden eingesetzt? Der vielbeschäftigte Neurochirurg erregt sich am Telefon: "Keinem einzigen! Wir haben die Operation längst an Katzen getestet. Aber was bringt die modernste Medizintechnik, wenn kein deutsches Unternehmen bereit ist, unseren Prototypen in Serie zu bauen?" Auf Nachfrage erfährt man, dass alles, was heutzutage in der sogenannten modernen Medizin an Neuroimplantanten verbaut wird, von der allmächtigen US-Firma Medtronic stammt und teils schon 30 Jahre auf dem Buckel hat.

Vor diesem Hintergrund erscheinen euphorische Schlagzeilen über die Eröffnung der futuristischen INI-Neuroklinik in Hannover leicht naiv. Denn: Winzige Sehprotesen für Blinde, Laufcomputer für Querschnittsgelähmte, wärme- und schmerzempfindliche Hautprothesen: alles entwickelt, vieles erprobt. Doch ehe man die wunderbare neue Medizin hochlobt, müssen die humanen Ersatzteile erst bezahlbar sein. Und das ist eben momentan noch nicht der Fall.



Letzte Änderungen: 20.10.2004