Editorial

Reverse Vaccinology

von Julia Schlehe (Laborjournal-Ausgabe 05, 2004)


Seit Edward Jenner vor über 200 Jahren mit Hilfe des Kuhpocken-Virus eine Immunisierung gegen das humanpathogene Pockenvirus gelang, feierte die Impfwissenschaft große Erfolge – etwa die Ausrottung der Pocken, welche die WHO im Jahr 1980 nach einer erfolgreichen, weltweiten Impfkampagne verkündete. Um Tot-, attenuierte Lebend- oder Subunit-Impfstoffe herzustellen, mussten die Pathogene jedoch unter Laborbedingungen kultivierbar sein. Zudem konnten nur Antigene identifiziert werden, die in großen Mengen auf dem Erreger vorkommen. Seit aber vollständige Genome entschlüsselt werden, kommt diese konventionelle Art der Impfstoffentwicklung zunehmend aus der Mode; mancher Impfstoffentwickler von heute bedient sich vielmehr der "reverse vaccinology".


Innovation aus der Toskana

Vorreiter dieses neuen Konzepts der Impfstoffentwicklung sind die Arbeitsgruppen um Rino Rappuoli und Antonello Covacci vom Immunological Research Institute of Siena (IRIS) der Firma Chiron. Sie nahmen sich Neisseria meningitidis vor, ein Humanpathogen, das durch Sepsis und Meningitis trotz Antibiotika tödliche Krankheiten verursacht. Die fünf wichtigsten pathogenen Serogruppen sind A, B, C, Y und W135. Gegen A, C, Y und W135 gibt es bereits Impfstoffe – einzig Serotyp B hat sich bisher erfolgreich entzogen, vor allem durch den Aufbau seiner kapsulären Polysaccharide aus Sialinsäure-Homopolymeren, die keine antigenen Eigenschaften aufweisen. Zudem verhinderten Sequenzvariationen der Oberflächenproteine die Entwicklung eines Impfstoffs auf konventionelle Weise.

Die neue Strategie der italienischen Forscher setzte daher an einem ganz anderen Punkt an: Sie nutzten Genomdatenbanken und gründeten damit die "reverse vaccinology".

Bei der Entschlüsselung des Genoms von N. meningitidis Typ B (MenB) half ihnen Craig Venter mit seiner schnellen shotgun-Methode. Anschließend bewaffneten sich die Forscher aus Siena mit Computer-Programmen, die das MenB-Genom nach Genen für potenziell sekretierte oder Oberflächenproteine durchkämmen sollten; nur diese sind für Antikörper leicht zugänglich.

Entscheidend war die richtige Kombination verschiedener Algorithmen: zuerst screenten die Italiener die DNA-Segmente und Contigs auf ihre Kodierungskapazität, dann jagten sie alle vorhergesagten ORFs durch die verfügbaren Datenbanken, um anhand von Homologien bislang unbekannte Gene mit den typischen Eigenschaften Oberflächen-assoziierter Proteine zu enttarnen. Außerdem fahndeten sie im Genom von MenB nach Hinweisen auf Virulenzfaktoren, die sich oft durch Tandem-Repeats an den 5´-Enden eines Gens und Abweichungen vom durchschnittlichen GC-Gehalt des Genoms verraten (Science 287, S. 1809-1815).


Die solchermaßen eingekreisten Leserahmen, immer noch stattliche 25 % aller ORFs des MenB-Genoms, klonierten die Italiener in prokaryotische Expressionsvektoren. Nach einer Hochdurchsatz-Expression in E.coli und affinitätschromatographischer Aufreinigung konnten die Forscher 350 Proteine von MenB als mögliche Impfstoffkandidaten isolieren, um sie dann auf ihre antigenen Eigenschaften zu testen. Mit Immunseren aus der Maus lokalisierten sie 85 Kandidatenpeptide auf der Zelloberfläche des Erregers. 22 dieser Seren hatten in vitro eine Komplement-vermittelte bakterizide Wirkung. Nachdem die 22 antigenen Peptide auf ihre Anwesenheit, Phasenvariation und Sequenzkonservierung in genetisch verschiedenen MenB-Stämmen untersucht waren, blieben sieben Impfstoffkandidaten übrig (Science 287, S. 1816-1820.) Ein Cocktail aus mehreren dieser neu gefundenen MenB-Proteine befindet sich nun in einer klinischen Impfstudie.


Waffe gegen Biowaffen

Mittlerweile konnten durch solche "reverse vaccinology" auch für andere humanpathogene Organismen Impfstoffkandidaten ausfindig gemacht werden. Dar-unter sind Streptococcus pneumoniae, Staphylococcus aureus, Chlamydia pneumoniae, aber auch die waffentauglichen Erreger Bacillus anthracis und Yersinia pestis (Drug Discovery Today 8, S. 459-464). Besonders diese beiden letzteren nutzen Rappuoli und Covacci, um zu betonen, wie wichtig die schnelle und effiziente Impfstoffentwicklung durch "reverse vaccinology" zum Schutz vor Biowaffen sei.

Es ist naheliegend, dass die Möglichkeiten der "reverse vaccinology" nur ausgeschöpft werden können, solange Genomdatenbanken für alle Forscher öffentlich zugänglich sind. In den USA wird das im Zusammenhang mit globaler Sicherheit kontrovers zurzeit kontrovers diskutiert. Die Meinung von Rappuoli und Covacci dazu ist jedoch klar.


Im Rausch der Geschwindigkeit

Um die nächste Phase der "reverse vaccinology" einzuläuten, müsse man sich bei Physikern abschauen, wie sie große Datenmengen bewältigen, und deren Lösungen auf die Auswertung genomischer Daten anwenden. Denn die Analyse einzelner Genome ist nicht länger ausreichend; erst der Vergleich multipler Genome kann diese Forschung weiterbringen (Science 302, S. 602). Große Chancen sehen Rappuoli und Covacci in der weltweiten Vernetzung rechenstarker Computer von Forschungsinstituten innerhalb des von der EU geförderten Projekts "DataGrid". Heute braucht ein Wissenschaftler 48 Stunden, um ein Genom mit den bisher in Datenbanken gespeicherten Sequenzen zu vergleichen. Die Vision der Italiener geht aber bis zu real time-Rechenoperationen.

Ob damit aber die Geschwindigkeit der "reverse vaccinology" tatsächlich gesteigert werden kann? Denn trotz hoher in silico-Geschwindigkeiten bleiben wohl die in vitro- und in vivo- Experimente sowie vor allem die langwierigen klinischen Studien die geschwindigkeitslimitierenden Faktoren bei der vollständigen Entwicklung eines Impfstoffs.



Letzte Änderungen: 20.10.2004