Editorial

Reaktive Aldehyde

von Mario Rembold (Laborjournal-Ausgabe 11, 2015)


Stichwort

Stoffwechsel-Aldehyde machen den Schmerz offenbar
noch schlimmer. Foto: www.dental99.com

Wachen Sie öfter mit einem richtig heftigen Kater auf? Obwohl Sie gar nicht so viel getrunken haben? Dann haben Sie vielleicht ein ähnliches Problem wie rund ein Drittel der asiatischen Bevölkerung: Ein Lysin, wo eigentlich ein Glutamin hingehört, nämlich an Position 487 der Aldehyd-Dehydrogenase-2 (ALDH2). Beim Abbau verliert Ethanol zwei Wasserstoff-Atome und verwandelt sich dabei in Acetaldehyd. Das wiederum wird normalerweise durch ALDH2 entsorgt, sofern man nicht die oben erwähnte dominante Genvariante mit sich herumschleppt. Selbst heterozygote Träger des Allels leiden unter einer 60- bis 80-prozentigen Einschränkung der Enzymaktivität und bekommen daher schon nach dem Genuss von wenig Alkohol einen ordentlichen Kater.

Doch nicht nur fleißige Trinker sind mit Aldehyden konfrontiert, sondern jede atmende Zelle. Während die Mitochondrien Sauerstoff verbrauchen, fallen diverse toxische Substanzen an. Diese reaktiven Sauerstoffspezies peroxidieren unter anderem mehrfach ungesättigte Fettsäuren und erzeugen als Abbauprodukte Verbindungen wie Malondialdehyd, Acrolein oder 4-Hydroxynonenal. Diese reaktiven Aldehyde können an Proteine binden und deren Funktion beeinträchtigen. Auch die Zellen konsequenter Alkohol-Abstinenzler brauchen also Aldehyd-Dehydrogenasen wie ALDH2.

Haarige Versuche

Kein Wunder, dass reaktive Aldehyde mit Krebs, neurodegenerativen Erkrankungen und Autoimmunstörungen in Verbindung gebracht werden. In höheren Konzentrationen haben Aldehyde auch ganz akute Effekte. Injiziert man Nagern Formalin in die Pfote, so reagieren sie mit einer lokal erhöhten Schmerzempfindlichkeit. Da die Tiere keine Fragebögen ausfüllen können, ermittelt man den Grad der Schmerzempfindlichkeit durch Verhaltensexperimente wie den Von Frey Hair Test: Der Experimentator nimmt ein Haar und berührt damit von unten durch ein Gitter die Pfote der Ratte, bis sich das Haar biegt. Jedes Von-Frey-Haar ist so genormt, dass es dabei eine definierte Kraft erzeugt. Zeigt die Ratte keine Reaktion, greift der Versuchsleiter zum nächststärkeren Haar, bis die Ratte die Pfote zurückzieht; dann kennt man die Schmerzschwelle.

Dass injiziertes Formaldehyd lokal Schmerzen auslöst, ist nicht neu. Forscher um Daria Mochly-Rosen in Stanford haben sich aber gefragt, ob auch Aldehyde, die durch normale Stoffwechselprozesse entstehen, Schmerzen verstärken. Sie weisen darauf hin, dass man in der asiatischen Bevölkerung nicht nur öfter auf die nicht-funktionelle ALDH2-Variante stößt, sondern die Menschen dort als schmerz­empfindlicher gelten. Vielleicht gebe es dafür ja nicht nur kulturelle, sondern auch physiologische Ursachen.

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Vor einigen Jahren haben Mochly-Rosen und Co. eine Substanz entwickelt, die die Aktivität von ALDH2 erhöht und damit den Abbau von Aldehyden verstärkt (Science 12: 1493-5). Alda-1 heißt das kleine Molekül.

Betrunkene Mäuse

Letztes Jahr wollten die Forscher dann wissen, ob die Aktivität von ALDH2 die Schmerzregulation bei Entzündungen beeinträchtigt (Sci. Transl. Med. 27: 251ra118). Sie testeten transgene Mäuse, die heterozygot für das ALDH2*2-Allel waren – jene Variante, die mehr als einer halben Milliarde Menschen den Genuss alkoholischer Getränke madig macht. Um sicherzugehen, dass der Phänotyp der Tiere auch mit dem des Menschen vergleichbar ist, bekamen sie Alkohol; und tatsächlich waren die Acetaldehyd-Konzentrationen im Blut fünffach höher als in den Kontrolltieren.

Bezüglich ihrer Schmerzempfindlichkeit gleichen sich Wildtyptiere und ALDH2*2-Mäuse zunächst. Das ändert sich, wenn man Carrageen in jeweils eine Hinterpfote injiziert. Carrageen löst eine Entzündungsreaktion aus, die Pfote wird schmerzempfindlicher. Somit reagieren auch die Wildtyp-Mäuse empfindlicher auf mechanische Reize gegen die betroffene Pfote. Noch sensibler aber sind die Tiere mit ALDH2*2-Allel. Außerdem wiesen die Forscher bei diesen Mäusen höhere Konzentrationen von 4-Hydroxynonenal nach. Verabreicht man den Mäusen aber Alda-1,­ steigt die Schmerzschwelle sowohl bei den Wildtypen als auch den heterozygoten Nagern wieder an; der ALDH2-Aktivator Alda-1 wirkt also schmerzlindernd.

Neues Schmerzmittel?

Vergleichbare Ergebnisse bekamen die Forscher auch im Rattenmodell: Alda-1 reduziert die Schmerzempfindlichkeit nach Carrageen-Injektion. Allerdings hat die Substanz keinen Einfluss auf die Schmerzschwelle unbehandelter Tiere ohne Entzündung. Die Wirkung von Alda-1 führen die Forscher aber nicht auf einen anti-inflammatorischen Effekt zurück. Denn auch in Alda-1-behandelten Tieren bleibt die Schwellung der Pfote erhalten; ebenso sind diverse Entzündungsmarker wie Chymase der Mastzellen und Neutrophil-Elastase vergleichbar hoch wie in Carrageen-Ratten ohne Alda-1-Gabe. Hingegen sank die Menge an EGR1-Protein im Rückenmark unter Alda-1 auf das normale Level ab, blieb aber in den Carrageen-Tieren erhöht, wenn sie kein Alda-1 erhielten. EGR1 sehen die Autoren als zentralnervösen Marker für erhöhte Schmerzempfindlichkeit.

Gut möglich also, dass reaktive Aldehyde nicht bloß zelluläre Abfallprodukte sind, sondern bei Entzündungen die Schmerzempfindlichkeit modulieren – evolutionsbiologisch eine durchaus sinnvolle Funktion, denn schließlich sollte eine entzündete Pfote geschont und nicht belastet werden. Dann wären Aldehyde ein geeigneter Angriffspunkt für die Schmerztherapie, und Alda-1 ein Kandidat für ein künftiges Medikament. Vielleicht hilft das dann ja auch gegen Kater...



Letzte Änderungen: 09.11.2015