Editorial

Mikroglia – Aufräumer im Kopf

von Ann-Kristin Diederich (Laborjournal-Ausgabe 6, 2019)


Stichwort

Bei der Beseitigung von beschädigtem Gewebe im zentralen Nervensystem (ZNS), wie etwa nach einem Schlaganfall, spielen Mikroglia eine wichtige Rolle. Sie gehören zu den Gliazellen, die Stütz- und Stoffwechselfunktionen im ZNS wahrnehmen. Neben der Tilgung und dem Verstärken von Synapsen bei Lernprozessen, sind Mikrogliazellen aber auch essenziell, um Erreger wie Meningokokken im Gehirn aufzuspüren und durch Phagozytose unschädlich zu machen. Dazu tasten sie mit tentakelartigen Fortsätzen ihre Umgebung ab. Werden sie fündig, wandeln sie sich in ihre aktive, amöboide Form um und wandern zum Infektionsort.

Vergleichbar mit den Makrophagen im peripheren Nervensystem (PNS) sind sie die Wächter des ZNS. Gerät die Regulierung der Mikroglia außer Kontrolle, entfernen sie bei Überaktivierung auch gesunde Zellen. Jüngere Forschungsergebnisse zeigen, dass Fehlfunktionen der Mikroglia bei Erkrankungen wie Morbus Alzheimer, Schizophrenie, multipler Sklerose oder Autismus eine Rolle spielen. Seit einigen Jahren wächst das Interesse an den Zellen stetig und Wissenschaftler finden immer neue, bislang unbekannte Eigenschaften und Funktionen. Hier stellen wir drei aktuelle Studien vor.

Lebenswichtig für Neuronen

Die amerikanisch-niederländische Gruppe um James Bennett von der University of Washington School of Medicine (USA), Tjakko van Ham vom University Medical Center Rotterdam (Niederlande) und Robert Hevner von der University of California (USA) beschrieb im American Journal of Human Genetics (104: 936-47) den außergewöhnlichen Fall eines Säuglings. Dieser war mit zahlreichen Hirnfehlbildungen wie der Abwesenheit des Corpus Callosum (dem Balken, der die linke und rechte Hemisphäre des Großhirns verbindet) zur Welt gekommen. Mittels Exom-Sequenzierung stellte sich heraus, dass der Junge eine homozygote Mutation im CSF1R-Gen (Colony Stimulating Factor 1 Receptor) besaß, dessen Genprodukt ein Schlüsselregulator bei der Entwicklung von Myeloidzellen ist. Nach Autopsie stellten die Humangenetiker fest, dass die Mikrogliazellen im Gehirn des Jungen gänzlich fehlten.

Für die Missbildungen machten sie das Fehlen der Zellen verantwortlich, ohne jedoch die genauen molekularen Mechanismen zu kennen. Auch eine heterozygote Mutation im CSF1R-Gen scheint für eine Dysfunktion der Mikroglia auszureichen: Betroffene Patienten entwicklen ab dem Alter von vierzig Jahren Gangfehlbildungen und Anzeichen einer frühen Demenz.

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Vielfresser ohne Grenzen

Bislang dachte man, dass Mikroglia zwar beweglich sind, aber ähnlich wie Astrozyten und Oligodendrozyten das ZNS nicht verlassen. Entgegen der geltenden Lehrmeinung zeigten Lauren Green und Kollegen von der University of Notre Dame in Indiana (USA) in Zebrafischlarven (Danio rerio), dass die Zellen bei peripheren Verletzungen doch aus dem ZNS migrieren (PLoS Biology (17(2):e3000159).

Dazu fügten sie der vom Rückenmark abgehenden Nervenwurzel zunächst minimale Frakturen mithilfe eines Lasers zu, lokalisierten einzelne Mikrogliazellen im Rückenmark und verfolgten deren Bewegungen. Erstaunlicherweise verließ eine beträchtliche Anzahl an Zellen das Rückenmark Richtung PNS und nahm dort eine große Menge Zelltrümmer auf. Auch Makrophagen des PNS wanderten zum Verletzungsort. Dort waren sie zwar in dreifach größerer Zahl vorhanden, phagozytierten jedoch nur acht Prozent der Zelltrümmer im Vergleich zu den Mikroglia, die 92 Prozent verspeisten.

Zelle mit Magen

Interessant für das Verständnis von neurodegenerativen Erkrankungen ist, dass ungefähr die Hälfte der migrierten Mikrogliazellen innerhalb von 24 Stunden zurück ins ZNS wanderte. Im Vergleich zu den im ZNS verbliebenen Mikroglia stellten die Wissenschaftler eine veränderte Morphologie sowie erhöhte Phagozytose fest. Ähnliche Eigenschaften besitzen auch Mikroglia in Gehirnen von zum Beispiel Alzheimer-Patienten.

Wie aber können Mikroglia so beweglich bleiben, wenn sie gleichzeitig große Mengen an Zelltrümmern aufnehmen? Die Heidelberger European Molecular Biology Laboratory (EMBL)-Forscher Ambra Villani, Jørgen Benjaminsen et al. gingen der Verdauung der Zellen genauer auf den Grund (Dev. Cell 49: 77-88.e7).

Sie untersuchten eine Klasse mutierter Zebrafisch-Embryonen, die vergrößerte und aufgeblähte Mikroglia aufwiesen, in denen ein einzelnes großes mit Zelldebris gefülltes Vesikel saß. Als die Gruppe einzelne Phagosomen in vivo verfolgte, machte sie eine merkwürdige Entdeckung: Phagosomen in nach ihrem Phänotyp benannten Bubblebrain (blb)-Embryonen fusionierten zu einem einzigen Organell, welches dramatisch anschwoll und die Zelle schließlich daran hinderte zu wandern. Der Grund dafür: In blb-Embryonen fehlt der D-Gluconat-6-Phosphat-Transporter, wodurch ein osmotisches Ungleichgewicht entsteht. Im Wildtypen sorgt die osmotische Regulierung eigentlich dafür, dass die Phagosomen schrumpfen, sodass nach Fusionierung ebendieser ein Vesikel mit normaler Größe entsteht. Dieses neu entdeckte Vesikel taufte die Gruppe „Gastrosom“.

Nicht nur Aufräumer

Aufgrund der zahlreichen neurodegenerativen Erkrankungen, in denen Mikroglia involviert sind, war bereits zu ahnen, dass ihre Rolle im ZNS wichtiger ist, als bislang angenommen. So sind sie nicht nur Aufräumer, sondern auch essenziell für die neuronale Entwicklung, können in das PNS ein- und auswandern und besitzen das für die Morphologie wichtige, bisher unbekannte Gastrosom.



Letzte Änderungen: 17.06.2019