Verkannte Artefakte

Archiv: Schöne Biologie

Ralf Neumann


Editorial

Schöne Biologie

Lange Zeit funktionierte die moderne Bioforschung hauptsächlich reduktionistisch: Man trennte die Komponenten, die einen interessierten, aus dem System und studierte sie isoliert in „Einzelhaft“. Erfolgreich war das allemal – vor allem Heerscharen von ehemaligen „Proteinputzern“ und „Genklonierern“ können ein Lied davon singen.

Hin und wieder blieben jedoch Restzweifel. Denn woher sollte man wissen, ob etwa das isolierte Enzym im Eppi wirklich genau dasselbe machte wie in dem enormen Durcheinander der Zelle – auch wenn man penibel für physiologische Bedingungen sorgte? Und woher sollte man wissen, ob die Struktur einer Komponente sich nicht schon durch die oftmals ziemlich strammen Vorgänge bei Isolation und Präparation grundlegend verändert hatte?

Doch zum Glück werden in der Bioforschung bestehende Verfahren immer weiter verfeinert – oder es werden gar gänzlich neue Methoden eingeführt. Und mit denen kann man nochmal viel genauer nachschauen.

Editorial

Einen regelrechten Sprung erlebte zuletzt in dieser Hinsicht etwa die Mikroskopie – allein schon deswegen, da man in jüngster Zeit Methoden und Geräte entwickelte, für die man gar keine Präparate mehr herstellen muss, sondern gleich hochauflösend und dreidimensional in lebende Zellen hineinschauen kann. Tja, und was geschah dann? Genau, einige „gängige“ Strukturen von Zellkomponenten wurden als Präparationsartefakte entlarvt.

Nur ein Beispiel: die 30nm-Chromatinfasern, zu denen die 10nm dicken Nukleosomen vermeintlich weiter kondensieren. In klassischen elektronenmikroskopischen Präparaten sah man sie derart oft, dass die 30nm-Fasern schon lange als sogenannte Solenoide in nahezu allen Lehrbüchern stehen. Doch mit neuer 3D-In-Vivo-Mikroskopie suchen die Spezialisten sie jetzt schon seit Jahren vergeblich in lebenden Zellen.

Interessanterweise jedoch war man allerdings hin und wieder auch zu voreilig beim Abwinken von gewissen Reagenzglas-Befunden als Artefakt. Das womöglich bekannteste Beispiel hatten wir schon mehrfach referiert: Die Entdeckung der kleinen regulatorischen RNAs. „Entdeckt“ hatten die kleinen RNAs wahrscheinlich schon Tausende von Forschern – lange bevor deren „wahre“ Bedeutung klar wurde. Doch da RNAsen bekanntlich überall sind, dachten sie wohl alle: „Klar! Abbaufragmente meiner mRNAs, die jetzt im Gel vorneweg schwimmen.“ Und scherten sich nicht weiter darum. Der Rest der Geschichte ist bekannt.

Ähnliches scheint sich jetzt für viersträngige DNA anzubahnen. Diese hatte man schon lange im Reagenzglas beobachtet – entweder als G-Quadruplex- oder als i-Motiv-DNA. Man erwartete es nicht wirklich, aber zumindest viersträngige G-Quadruplex-Abschnitte, die durch die quadratische Anordnung von Guaninen entstehen, fand man ab 2002 tatsächlich auch in vivo – vor allem in den Telomeren, aber nicht nur.

Bei der i-Motiv-DNA (das „i“ steht übrigens für „interkalierend“) war man sich hingegen noch sicherer, dass man sie in lebenden Zellen nicht finden würde. Schließlich bildete sich der verdrehte und besonders Cytosin-reiche „Vierstrang-Knoten“ nur bei unphysiologisch saurem pH-Wert im Reagenzglas. Nichtsdestotrotz spürten australische Forscher die i-Motiv-Knoten jetzt mit einem speziell darauf abgerichteten Antikörper-Fragment mannigfach im Humangenom auf. Und nicht nur das: Die Knoten kamen und gingen dynamisch im Zellgeschehen – und dies kaum in kodierenden, sondern bevorzugt in regulatorischen Abschnitten des Genoms (Nature Chemistry 10: 631-3).

Ob hier womöglich schon wieder ein vermeintliches Artefakt zum wichtigen Regulationsprinzip aufsteigt?



Letzte Änderungen: 07.09.2018