Theorien und Todesküsse

Archiv: Schöne Biologie

Ralf Neumann


Editorial

Schöne Biologie

(11.11.2019) Wie gehen Bioforscher eigentlich mit ihren Theorien um? Oder besser: Wie sollten sie mit ihnen umgehen? Machen wir vor einem konkreten Beispiel einen theoretischen Exkurs:

Theorien entwickeln Forscher aus Beobachtungen. Das beste Beispiel sind Darwins jahrelangen Beobachtungen auf den Galapagos-Inseln, und wie sie schließlich in seine Evolutionstheorie mündeten. Wie ­jede Theorie bleibt jedoch auch diese auf gewisse Art stets vorläufig. Denn generell gilt: Ganz egal, ob rein spekulativ oder umfassend getestet – rein wissenschaftlich gesehen bleibt eine Theorie immer eine Theorie.

Der Begriff „Theorie“ hat in der Wissenschaft folglich eine fundamental andere Bedeutung als im Alltag, wo eine Theorie meist irgendwann zur Tatsache wird. In der Wissenschaft nicht. Sogar eine Aussage wie „­Alle ­Zebras haben Streifen“, die sich auf unzählige eindeutige Beobachtungen stützt, beschreibt streng wissenschaftstheoretisch dennoch keine Tatsache, sondern eine Theorie. Wir könnten schließlich doch eines Tages Zebras ohne Streifen entdecken.

Editorial

Daraus folgt, dass wissenschaftliche Theorien stets testbar bleiben (jedes neu beobachtete Zebra ist ein Test) – und somit auch potenziell falsifizierbar. Tatsächlich kommt es auf diese Weise viel öfter vor, als manchem Forscher lieb ist, dass sich ein wissenschaftliches Bild von einem Teil der Welt am Ende als falsch herausstellt. Aber immerhin gibt uns eine solche Wissenschaft die Chance, herauszufinden, dass es falsch ist und zu einem anderen Bild zu wechseln.

Was heißt das nun für den Forscher? Natürlich verbringt kaum einer seine Zeit unablässig damit, darüber nachzudenken, wie er seine eigenen Theorien möglichst falsifizieren könnte. Wichtig ist jedoch die grundsätzliche Haltung, die daraus resultiert: In einer idealen Welt sollte ein Wissenschaftler stets dazu bereit sein, bei klar negativen Test­ergebnissen auch seiner allerliebsten Theorie den Todeskuss zu geben.

Ob Forscher dies in der realen Welt allerdings tatsächlich derart vorbehaltlos tun – dazu könnte sich gerade eine interessante „Feldstudie“ anbahnen...

Ort des Geschehens ist die lange etablierte Neurotrophin-Theorie. Diese geht aus von der Beobachtung, dass etwa die Hälfte aller sich entwickelnden Nervenzellen während Embryonalentwicklung und Postnatalphase den Zelltod sterben. Ab den 1950ern wurde dann klar, dass das jeweilige Zielgewebe gewisse neurotrophe Faktoren aussendet, um die jungen Neuronen in der Nähe zum Wachstum anzuregen und somit zu sich zu locken. Jedoch wächst immer nur ein Teil der Nervenzellen weiter – der andere stirbt ab.

Die Neurotrophin-Theorie besagt jetzt, dass die begrenzte Menge an neurotrophen Faktoren den Flaschenhals bildet: Diejenigen Nervenzellen, die genug davon binden können, kommen durch – die anderen eben nicht. So weit, so gut; und so weit auch (noch) nicht falsifiziert.

Die Neurotrophin-Theorie geht jedoch noch weiter – und sagt, dass in diesem Prozess die letztlich überlebenden Nervenzellen rein zufällig ausgewählt werden. Und genau da liegt jetzt das Problem. Erstmals analysierten Forscher weniger die Umgebung junger Neuronen im peripheren Nervensystem, sondern untersuchten die Zellen selbst. Und siehe da: Diejenigen Neuronen, die sich nachfolgend weiterentwickelten, wiesen ein deutlich anderes Genaktivitäts-Profil auf als diejenigen, die später abstarben (Nat. Commun. 10: 4137). Die Jung-Neuronen, so die Autoren, zeigen mit diesem Profil bessere Fitness hinsichtlich Wachstum und Synapsenbildung an – und verschaffen sich so einen klaren Vorteil im Wettbewerb um die wegweisenden Neurotrophine. Eine rein zufällige Auswahl sieht anders aus.

Ob die Neuro-Kollegen diesem Teil der Neurotrophin-Theorie daher jetzt den Todeskuss verpassen? Wie gesagt: Feldstudie...

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Letzte Änderungen: 10.10.2019