Editorial

Rasiermesser-Variationen

Archiv: Schöne Biologie

Ralf Neumann


Schöne Biologie

(11.03.2020) Wissenschaftler, die in ihrer Forschung noch klassisch von Hypothesen ausgehen, kennen vielleicht den Namen des mittelalterlichen Philosophen Wilhelm von Ockham. Ja, genau – der mit dem „Rasiermesser“! Bis zum heutigen Tage steht „Ockhams Rasiermesser“ als Symbol für ein gewisses Sparsamkeitsprinzip innerhalb der wissenschaftlichen Methodik. Und das geht etwa so:

Man formuliere ein wissenschaftliches Problem. Dann notiere man ungebremst Hypothesen, wie das zugehörige Phänomen zustande kommen könnte. Fällt einem keine mehr ein, dann zücke man in Gedanken „Ockhams Rasiermesser“ und schäle damit aus dem Wust ungehobelter Hypothesen alles vermeintlich Unnötige und Überflüssige sauber weg. Am Ende nehme man die schlankeste aller alternativen Hypothesen und beginne, sie zu testen. Also diejenige, die mit den wenigstmöglichen Grundannahmen auskommt, das Problem aber immer noch hinreichend erklären kann.

So weit, so gut. Doch leider verstehen viele dieses Prinzip nicht ganz richtig: Denn damit ist keineswegs gesagt, dass die einfachste Hypothese immer auch die richtige ist. Vielmehr gibt „Ockhams Rasiermesser“ lediglich vor, welche von mehreren alternativen Hypothesen man im Zweifelsfall zuerst testen sollte – nämlich eben diejenige, die die wenigsten Variablen braucht.

Die Gründe dafür sind rein praktischer Natur: Denn je einfacher eine Hypothese gestrickt ist, desto leichter sollten dazu auch aussagekräftige Experimente zu entwerfen sein. Und umso leichter lässt sie sich daher theoretisch auch falsifizieren.

Und wenn Letzteres tatsächlich passiert? Wenn es tatsächlich zu „Unpässlichkeiten“ zwischen der schlichten Hypothese und den experimentellen Resultaten kommt? Dann bessert man die Hypothese entsprechend nach, wodurch sie natürlich meist an „Schlankheit“ einbüßt. Oder man schwenkt um auf die nächstkompliziertere Hypothese.

Die Idee hinter „Ockhams Rasiermesser“ ist also, alternative Hypothesen hierarchisch von Schlicht nach Komplex abzuklappern. Denn theoretisch sollte ein solches Vorgehen schneller nützliche Ergebnisse liefern, als wenn man sich sofort an einer komplizierten Hypothese festbeißen würde. Und am Ende würde auf diese Weise der ganze Forschungsprozess an sich beschleunigt.

Editorial

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Klingt plausibel. Allerdings laufen Forschungsprozesse inzwischen häufig völlig anders. Immer seltener steht eine ausgewiesene Hypothese am Anfang, vielmehr häuft man zunächst mal einen Riesenwust an Daten an. Auch, weil man‘s heute einfach kann – oft sogar schneller und leichter als Hypothesen zu formulieren.

Nehmen wir zum Beispiel folgende oft gestellte Frage: Welche unter den Abertausenden Zellmolekülen sind es genau, die als absolut notwendige Schlüsselregulatoren ein bestimmtes Zellphänomen steuern? Viele kann man von vorneherein ausschließen und – experimentell oder bioinformatisch – gleich mal grob „wegbaggern“. Wodurch schließlich nur noch wenige Kandidaten übrig bleiben. Von diesen rasiert man nun weiter und immer feiner einen nach dem anderen weg, bis man das Ganze am Ende auf genau die Moleküle eingedampft hat, die das Phänomen tatsächlich steuern.

Ein schönes Beispiel war etwa die Identifizierung der vier Transkriptionsfaktoren c-Myc, Oct4, Klf4, und Sox2, durch deren Zugabe sich viele Zellen zu den bekannten induzierten pluripotenten Stammzellen (iPSCs) zurückverwandeln lassen (Cell 126 (4): 663-76). Und Ende letzten Jahres konnte quasi mit allerfeinster Klinge tatsächlich auch noch Oct4 aus dem Quartett „geschnibbelt“ werden, ohne dass die Stammzell-Induktion in die Knie ging (Cell Stem Cell 25, 737-53).

Auch in dieser Art Forschungsprozess kommen also „Rasiermesser“ zum Einsatz. Das von Ockham ist aber nicht dabei.

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Letzte Änderungen: 11.03.2020