Editorial

Skurrile Regelfälle

Schöne Biologie

Ralf Neumann


Schöne Biologie

(08.02.2021) Stellen wir uns einen Forscher vor, der nach langen Versuchsreihen eines Tages vor einem ziemlich skurrilen Ergebnis steht. Es ist echt, keine Frage – die Daten sind robust und mehrfach reproduziert. Doch das Gesamtbild, das sich daraus ergibt, widerspricht jeglicher Intuition und Erwartung. Und weckt natürlich gleich einige Fragen: Warum sollte so etwas in einem Lebewesen entstanden und etabliert worden sein? Und vor allem: Zu welchem Zweck? Ist das womöglich nur eine skurrile Ausnahme – oder handelt es sich trotz allem um ein etabliertes und generelles Phänomen, das weit verbreitet vorkommt?

So oder ähnlich musste es etwa Barbara McClintock gegangen sein, als sie vor bald neunzig Jahren in Mais erstmals zweifelsfrei ein „springendes Gen“ realisierte. Schließlich galt damals das felsenfeste Dogma vom stabilen Informationsträger DNA, der um Himmels willen unverändert an die nächste Generation weitergegeben werden muss, da andernfalls nur schieres Mutations-Chaos drohen könne. Bekanntlich dauerte es vor diesem Hintergrund eine ganze Weile, bis die letzten Zweifler von Barbara McClintocks Erkenntnissen überzeugt waren. Dann aber wurde schnell klar: Mobile genetische Elemente sind keineswegs skurrile und daher kaum beachtenswerte Ausnahmen, vielmehr springen sie in nahezu allen Genomen vom Bakterium bis zum Menschen herum.

Skurrile Ausnahme? – Diese Frage hatten sich vor vierzig Jahren sicherlich auch die Entdecker des ersten Toxin-Antitoxin-Paars (Toxin Antidote Element) gestellt. Das Ausgangsproblem ergab sich damals aus der Tatsache, dass Bakterien sehr schnell neue Eigenschaften entwickeln können, indem sie durch die Aufnahme von Plasmiden zusätzliche Gene erwerben, mit denen sie nachfolgend den Herausforderungen eines veränderten Selektionsdrucks begegnen konnten – beispielsweise durch neu erworbene Resistenzen oder Stoffwechselleistungen. Diese Plasmide sind allerdings oft instabil und unterliegen zudem bei jeder Zellteilung der Gefahr, aus dem bakteriellen Erbgut wieder entfernt zu werden. Man sollte also erwarten, dass sie aus der Population wieder herausverdünnt werden, sobald der betreffende Selektionsdruck nicht mehr existiert – bis sie irgendwann ganz verschwunden sind.

Doch dies passiert vielfach nicht. Die Population wird die Plasmide einfach nicht mehr los – ob gebraucht oder nicht. Schlimmer noch: Das Überleben der Bakterienzelle selbst ist plötzlich von ihnen abhängig. Als wahrhaft egoistische Elemente sorgen sie dafür, dass alle nachfolgenden Zellen ohne Plasmide absterben – und sichern damit ihr eigenes Überleben in der Population auf ziemlich krasse aber nachhaltige Weise.

Diese Entdeckung war schon skurril genug – auch weil die Plasmide damit schamlos die Gesetze der Vererbung aushebeln. Bei der Entdeckung des ersten Toxin-Antitoxin-Paars als Ursache für dieses Phänomen dürften die beteiligten Forscher allerdings nochmals fragend die Augen aufgerissen haben. Auf dem betreffenden Plasmid lagen nämlich dicht nebeneinander ein Gen für ein Toxin samt einem Gen für das passende Antitoxin. Das Antitoxin ist instabil und muss immer wieder nachproduziert werden, um das stabilere Toxin durch Bindung zu neutralisieren. Bekommt eine Bakterienzelle bei der Teilung kein Plasmid mehr ab, können die verbliebenen Toxin-Moleküle diese dann ungehemmt aus der Population entfernen.

Schnell wurde klar, dass solche Toxin-Antitoxin-Paare auf vielen Plasmiden vorkommen. Dann aber fand man sie auch auf den Chromosomen von Bakterien – wie auch inzwischen auf denjenigen von Insekten, Würmern, Pilzen und Pflanzen (Ann. Rev. Genet. 54: 387-415). Die Frage „Skurrile Ausnahme oder weit verbreitetes Phänomen?“ wäre damit also beantwortet. Sinn und Zweck dagegegen sind vielfach immer noch ungeklärt.

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Letzte Änderungen: 08.02.2021