Editorial

Flüchtige Dogmen

Schöne Biologie

Ralf Neumann


Schöne Biologie

(10.05.2021) Warum werden in der Biologie immer wieder Dogmen aufgestellt – und auch wieder gebrochen? Schließlich kommt der Begriff „Dogma“ historisch aus Theologie und Philosophie und bezeichnet vornehmlich eine – meist „von oben“ – beschlossene oder gar verordnete grundsätzliche Lehraussage, deren Wahrheitsanspruch als unumstößlich gilt. Klingt demnach nicht nach etwas, das man im besten wissenschaftlichen Sinne stets neu hinterfragt und auf den experimentellen Prüfstand stellt.

Vielleicht ist es aber gerade die tiefe Sehnsucht nach universellen Lehrsätzen zur Erklärung fundamentaler Lebensprozesse, die Biologen dazu treibt, allzu gerne zu dem starken Begriff „Dogma“ zu greifen. Auch wenn sie damit nur auf diesen einen Aspekt des gesamten Begriffs abzielen.

Paradebeispiel ist wohl das „Zentrale Dogma der Molekularbiologie“, das Francis Crick 1958 formulierte. Dummerweise vereinfachte dessen Doppelhelix-Mitentdecker James Watson das Dogma in seinem Lehrbuch Molecular Biology of the Gene schlichtweg zu dem Schema „DNA —> RNA —> Protein“. Und rief damit bis heute jede Menge besserwisserische Dogma-Umstürzler auf den Plan. „DNA wird nicht nur in RNA übersetzt, sondern auch wieder in neue DNA“, mäkeln einige. „RNA kann via Reverse Transkriptase auch zurück in DNA umgeschrieben werden“, heben andere ihre Zeigefinger. Übersehen haben sie jedoch allesamt, dass Crick bei seinem Dogma immer nur vom Informationsfluss sprach. „... once (sequential) ‚information‘ has passed into protein it cannot get out again“, heißt es in seinem 1958er-Artikel. Und als die Reverse Transkriptase entdeckt war, präzisierte er 1970 nochmals: „The central dogma of molecular biology deals with the detailed residue-by-residue transfer of sequential information. It states that such information cannot be transferred from protein to either protein or nucleic acid"(Nature 227: 561-63).

Aus der Sequenzinformation eines Gens (DNA) wird also über die RNA als Zwischenschritt die Sequenz eines Proteins realisiert – umgekehrt aber fließt die Sequenzinformation eines Proteins niemals zurück in die Produktion einer Nukleinsäure-Sequenz. Und das kann wohl als „Zentrales Dogma“ auch heute noch stehen bleiben.

Andere Dogmen, die in der Biologie formuliert wurden, sind da flüchtiger. Und dies nicht nur, weil Forscher die Bedeutung ihrer Resultate gerne mal zum „Dogmabruch“ aufmotzen (wie übrigens auch zum „Paradigmenwechsel“). Nein, vielmehr wackeln biologische Dogmen oftmals tatsächlich unter dem Gewicht neuer Resultate.

Nehmen wir etwa Christian Anfinsen. 1973 publizierte er seine thermodynamische Hypothese der Proteinfaltung, nach der jedem Protein unter physiologischen Bedingungen seine Sekundär- und Tertiärstruktur aus energetischen Gründen bereits durch die Aminosäuresequenz vorgegeben ist – weshalb es sich dann automatisch und alleine immer gleich faltet. Seit man jedoch Molecular Crowding, Prionen, metamorphe Proteine oder Chaperone studiert, wackelt Anfinsens Dogma beträchtlich. Einige sehen es gar als geknackt an, nicht zuletzt kursiert der Begriff „Quinärstruktur“ bereits seit 1982.

Oder das Dogma, dass sich im Gehirn von Erwachsenen keine neuen Nervenzellen mehr bilden. Dieses wurde tatsächlich geknackt, als man um die Jahrtausendwende vor allem im Hippocampus teilungsaktive neuronale Stammzellen aufspürte. Womit wir endlich an dem Punkt angekommen sind, warum Dogmen-Knacken eigentlich so schön ist: Oft entstehen damit völlig neue und fruchtbare Forschungsgebiete! Bei den neuronalen Stammzellen hat man etwa gerade erst gelernt, dass sie zwei verschiedene Populationen bilden: Eine, die sich schnell zu reifen Neuronen weiterdifferenziert – und eine andere mit deutlich langsamerer Teilungsaktivität, die als stetige und undifferenzierte Reserve in ihren Stammzellnischen verbleibt (Cell Stem Cell, doi: 10.1016/j.stem.2021.03.018).

Weitere Beiträge aus der Rubrik "Schöne Biologie" finden Sie hier.

Letzte Änderungen: 10.05.2021