Editorial

Buchbesprechung

Hubert Rehm




Werner Müller, Stephan Frings & Frank Möhrlen:
Tier- und Humanphysiologie. Eine Einführung.

Gebundene Ausgabe: 838 Seiten
Verlag: Springer Spektrum; Auflage: 5 (5. Februar 2015)
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3662439417
ISBN-13: 978-3662439418
Preis: 59,99 Euro (Gebunden), 46,99 (Kindle Edition)

Ein unerwartet kurzweiliges und informatives Lehrbuch. Nur sein Brennwert enttäuscht.

Wissenschaftliche Bücher zu besprechen ist ein undankbarer Job. Es gilt hunderte von Seiten staubtrockenen Materials durchzuarbeiten, von dem man nicht immer alles versteht und für das man sich nicht immer brennend interessiert. Kein Wunder übernehmen viele Zeitschriften die vom Verlag vorgefertigten Besprechungen; nur Qualitätsjournalisten ändern noch den einen oder anderen Satz ab. Ich jedoch bin kein Qualitätsjournalist; ich bin ein Naivling, der die Verlagswerbung ignoriert und die Bücher selber liest.

Mit anderen Worten: Ich mache mir das Leben unnötig schwer.


Wohl drei Kilo...

Ein schweres Leben braucht Struktur und gelegentlich eine Abwechslung. Die finde ich in der Rottweiler Blumengasse. Jeden Tag punkt 16 Uhr 10 tauche ich dort in meinem Stammcafé auf, um einen Capuccino zu trinken und in dem jeweils zu besprechenden Buch zu blättern. Heute ist es die 5. Auflage der Tier- und Humanphysiologie von Werner Müller, Stephan Frings und Frank Möhrlen. 838 Seiten zusätzlich Umschlag, zusammen wohl drei Kilo, habe ich die Kaufhausgasse hinunter, die Hauptstraße hinauf in die Blumengasse geschleppt.

Das Lehrbuch wendet sich – so versichern die Autoren in ihrer Einleitung – an Biologie-Studenten, Gymnasiallehrer und Wissenschaftsjournalisten. Es sei ein einführendes Lehrbuch, das sich durch Lesbarkeit, klare Sprache und einsichtige Illustrationen auszeichnen wolle. Die Tier- und Humanphysiologie ist also einer jener Wälzer, mit denen gutwillige Professoren versuchen, die Ignoranz ihrer Studenten zu erschlagen.

... zum Erschlagen der Ignoranz

„Was der Müller wohl unter Lesbarkeit versteht?“, frage ich mich. Doch erstmal greife ich zum Schwarzwälder Boten. „Das wird leichtere Kost sein“. Aber im Boten steht außer Todesanzeigen und Vereinsnachrichten nichts, was man nicht auch in anderen Zeitungen lesen könnte. Das ist kein Wunder, denn der Bote gehört, zusammen mit der Süddeutschen Zeitung und den Stuttgarter Nachrichten zu einer „Mediengruppe“. Alle Texte, selbst die lokalpolitischen, wirken ideologisch auf Linie gebügelt. Der Bote unterscheidet sich von der Süddeutschen nur im Stil. Wie die vomeronasalen Organe der Säuger und Reptilien scheinen die Zeitungen heute weniger der Information als der sozialen Kontrolle zu dienen: Ein Schluck Capuccino und man ist durch.

Ich lege den Schwarzwälder Boten beiseite und schlage Müllers Tier- und Humanphysiologie auf. Ich erwarte, noch gründlicher gelangweilt zu werden – und werde enttäuscht. Das Buch von Müller &anp; Co ist tatsächlich lesbar, mehr noch: Es ist witzig und oft sogar spannend. Ich bedauere, dass die einzelnen Kapitel so kurz geraten sind. „Schade, schon Schluss“, denke ich des öfteren und wundere mich über Müller. In seiner aktiven Zeit als Heidelberger Zoologie-Professor galt er als einer, der keinen Spaß versteht.

Schade: Nur so kurz?

Müller & Co verfallen auch nicht der Versuchung, sich als allwissend darzustellen – eine häufige Schwäche bei Lehrbuchautoren. So geben sie beispielsweise zu, nicht erklären zu können, wie Menschen ohne Hilfsmittel bis zu 214 Meter tief tauchen können. Eigentlich müsste der Mensch in diesen Tiefen am vom Blut in die Lunge strömendem Wasser ersticken.

Hier hätte Müller freilich tiefer schürfen können. Bereits eine dreiminütige Literaturrecherche förderte eine Erklärung zutage: So erklärte der Ulmer Mediziner Claus-Martin Muth 2008 auf dem 8. Bonner Tauchersymposium diese Rekordtauchtiefen (also unterhalb von 40 Metern) mit einer Umverteilung des Bluts aus den Extremitäten in den Bauch- und Brustraum, vorwiegend in die Lunge (Fachausdruck „Blood-Shift“). Ferner benutzen Apnoetaucher natürlich auch spezielle Atemtechniken („Lung-Packing“ beziehungsweise „Forced Expiration“), um die physikalischen Grenzen zu verschieben (Claus-Martin Muth: Apnoetauchen – Gibt es medizinische Besonderheiten? 8. Bonner Tauchersymposium, 23.2.2008).

Dennoch: Grundsätzlich ist es zu begrüßen, dass Müller & Co den Leser auf Forschungslücken aufmerksam machen, zum Beispiel auf die Frage nach der Spezifität und Funktion der Duftstoff-Bindeproteine oder die unentdeckten antimikrobiellen und antiviralen Substanzen bei Pflanzen und Wirbellosen. Müller & Co säen Misstrauen gegen gängige Vorstellungen – insbesondere gegen solche aus der Medizin. Sie sagen nicht „So ist es!“, sondern „Die Mediziner meinen, dass es so ist“.

Sie lassen durchblicken, dass nicht alles felsenfest erwiesen ist und mahnen, Lehrbuchaussagen nicht den Stellenwert eines Dogmas einzuräumen. Kurz: Sie behandeln den Leser als mündigen Menschen. Auf den 838 Seiten dieses Lehrbuchs feiern sich keine Lehrkanzel-Autoritäten; hier schreiben Forscher, die wissen, dass man sich irren kann.


Die Autoren, (von links) Werner Müller, Stephan Frings und Frank Möhrlen, lehren und forschen an der Uni Heidelberg. Fotos (3): Uni Heidelberg

Auch Forscher irren

Auf beinahe jeder Seite gibt es eine Stelle, an der ich mir sage: „Schau an, das hab ich nicht gewusst.“ So herrschen in der Plasmamembran einer Zelle Feldstärken, die um den Faktor 105 höher sind als die Feldstärken in einer Hochspannungsleitung. Bei biotopbedingter Sauerstoffarmut schalten manche Tiere anaerobe Stoffwechselwege ein, die bei Butter- oder Essigsäure enden und zwei- bis dreimal mehr ATP produzieren als die Glykolyse. Unter den Druckverhältnissen der Tiefsee denaturieren Proteine; Aktinfilamente und Mikrotubuli zerfallen in Monomere. Manche Wirbeltiere können zeitweise ohne Sauerstoff leben; Schildkröten legen dann ihr Gehirn lahm, indem sie die Ionenkanäle ihrer Hirnnervenzellen schließen. Karauschen und Goldfische dagegen schalten in sauerstofflosen Gewässern einen exotischen anaeroben Stoffwechsel ein, an dessen Ende Ethanol steht – und verwandeln so Wasser in Wein. Manche Prachtkäferarten spüren mit ihren Infrarotsensoren Waldbrände auf, um ihre Eier am angebrannten Holz abzulegen.

Kurzum: Die Welt von Müller & Co ist bunter als die Bleiwüsten des Schwarzwälder Boten.

Zugegeben, auch bei Müller & Co stimmt nicht alles. So stößt man gelegentlich auf orthographische Fehler, aber das ist bei einem Buch von 838 Seiten unvermeidlich.

Wasser zu Wein im Fisch

Auch ist nicht alles konsistent formuliert. So behaupten Müller & Co anlässlich der Tatsache, dass der Erwachsene auch im Hochgebirge kein fötales Hämoglobin mehr produzieren kann, dass der Mensch in der Entwicklung nicht mehr zurück könne. Auf Seite 95 zeigen die Autoren aber, dass der Mensch das manchmal eben doch kann. So wird die Expression der Laktase nach der Entwöhnung abgeschaltet. Der Erwachsene kann daher die Laktose der Milch nicht mehr verdauen; trinkt er sie trotzdem, bekommt er Blähungen (Laktose­intoleranz). Im bronzezeitlichen Europa hat sich aber eine Mutation durchgesetzt, die die Abschaltung der Laktase verhindert. Die meisten erwachsenen Europäer können daher heute Milch ohne Beschwerden trinken. Auch bei nordostafrikanischen Viehzüchtern, den Nuer und Dinka, exprimieren die meisten Erwachsenen Laktase – allerdings liegt dem eine andere Mutation zugrunde.

Auf Seite 79 versichern Müller & Co, dass Schwindsüchtige früher in Höhenkurorten Sonnenkuren machten. Das wisse man aus Thomas Manns Zauberberg. Die Krankheitsursache sei damals noch unbekannt gewesen. Robert Koch hatte den Tuberkuloseerreger jedoch schon 1882 entdeckt; Mann schrieb seinen Zauberberg dreißig Jahre später.

Aber jeder macht Fehler, sogar Robert Koch als er glaubte, mit Tuberkulin ein Heilmittel gegen Tuberkulose gefunden zu haben.

Unterhaltsamer als eine Tageszeitung

Zudem ändern diese Fehler nichts daran, dass Müllers Lehrbuch der Tier- und Humanphysiologie mehr Unterhaltungswert hat als eine Tageszeitung. Ja, wir leben in seltsamen Zeiten.

Um dem Schwarzwälder Boten und der Süddeutschen Zeitung gerecht zu werden, muss ich jedoch erwähnen, dass sie Müllers Lehrbuch in manchem ausstechen. So saugt ihr Papier verschüttete Milch besser auf (Klopapier freilich saugt noch besser!).

Auch lässt sich ein Kachelofen mit dem Boten besser anfeuern als mit den vergleichsweise kleinen und schwer zu knitternden Blättern der Tier- und Humanphysiologie. Zudem können Sie für den Preis von Müllers Buch, 60 Euro, zwei Monate lang den Boten abonnieren und erhalten damit frei Haus eine Papiermenge, die einen ganzen Winter reicht.

Schließlich verschonen sowohl der Bote als auch die Süddeutsche ihre Leser mit unpassenden Nachrichten – zumindest mit solchen, die nicht zur Einstellung der Redakteure und Verleger passen.

Müller & Co dagegen muten einem die Verhältnisse der wirklichen Welt zu. Sie verschweigen beispielsweise nicht, dass selbst vegane Gen-Gegner jeden Tag 3,5 x 1015 Gene verzehren. Deren Glaubensatz „Du bist, was Du isst“ hat also vielleicht eine molekularbiologische Grundlage – was den Verzehr von Kohlköpfen bedenklich erscheinen lässt.

Mein Capuccino neigt sich dem Ende zu; ich muss zum Schluss kommen. Ich empfehle das Buch von Müller & Co: Statt gedopter Konjunkturnachrichten bietet es zeitlose, fast immer korrekte Information, und der Unterhaltungs- übertrifft den Brennwert. Das ist heutzutage schon viel.




Letzte Änderungen: 13.06.2016