Buchbesprechung

Daniel Weber

Editorial

Lindsey Fitzharris:
Der Horror der frühen Medizin
Suhrkamp-Verlag (2018)
Sprache: Deutsch,
276 Seiten
Preis: 14,95 Euro (Klappenbroschur),
12,99 Euro (E-Book)
Editorial
Once upon a time in the Victorian era

Wer es blutig und dramatisch mag, ist mit „Der Horror der frühen Medizin” mehr als gut bedient.

Falls Quentin Tarantino jemals einen Dokumentarfilm drehen sollte, wäre das Buch „Der Horror der frühen Medizin – Joseph Listers Kampf gegen Kurpfuscher, Quacksalber & Knochenklempner“ der amerikanischen Autorin Lindsey Fitzharris eine willkommene Vorlage. Der Originaltitel des Buchs spiegelt dies sogar noch deutlicher wider: „The Butchering Art. Joseph Lister´s Quest to Transform the Grisly World of Victorian Medicine“.

Mitten im OP

In der 276 Seiten dicken Biografie über den britischen Mediziner Joseph Lister fließt reichlich Blut, Eingeweide quellen aus menschlichen Körpern und Gliedmaßen werden in größerer Anzahl amputiert. Und das alles im Namen der Medizin. Aus heutiger Sicht erinnern die Beschreibungen, unter denen die Mediziner damals praktizierten, eher an sogenannte Splatter-Filme. Chirurgen waren wie Fleischer, die schnell und blutig arbeiteten und ihr Operationsbesteck auch mal zwischen den Zähnen festhielten. Schmutz war allgegenwärtig, ebenso wie die sensationslüsternen Zuschauer im Operationssaal. Und die Patienten bekamen dies alles bei vollem Bewusstsein mit, denn Narkosemittel wurden zunächst (noch) nicht eingesetzt.

Wenig überraschend gab es unzählige Tote, beispielsweise bei der (nicht belegten) Operation des Chirurgen Robert Liston mit einer beachtenswerten Mortalität von 300 Prozent [sic!]. Der berühmte Mediziner arbeitete so rasant, dass er einem Assistenten drei Finger abtrennte und einem Zuschauer den Gehrock. Letzterer verstarb aufgrund des Schocks sofort, der Assistent und Patient später an Wundbrand (Seite 17). Überhaupt traten Infektionskrankheiten wie Erysipel (akute, nicht eitrige Infektionen der Haut), Gangrän (Absterben von Körperzellen und Zerfall des betroffenen Gewebes), Sepsis und Pyämie (Bildung von eitrigen Abszessen) üblicherweise nach den Operationen auf. Und da die Krankenhäuser personell hoffnungslos unterbesetzt waren und Hygienevorschriften nicht existierten, war es wenig überraschend, dass die Mortalität bei Operationen im Krankenhaus drei bis fünfmal höher war als bei chirurgischen Eingriffen zu Hause (Seite 11 bis 12). Der Volksmund nannte Krankenhäuser daher auch Totenhäuser (Seite 54). Und das obwohl unheilbare Kranke erst gar nicht in den Krankenhäusern aufgenommen wurden (Seite 84 bis 85).

Als Joseph Lister 1865 erstmalig mit Karbolsäure (heute als Phenol bekannt) getränkte Verbände bei der Operation eines 11-jährigen Jungen mit einem offenen Beinbruch verwendete, war der Grundstein für antiseptische Maßnahmen und eine ordentliche Hygiene gelegt. Denn der Junge überlebte nicht nur die Operation, sondern erlitt auch keine Infektionen im Anschluss (ab Seite 175). Seine entwickelte Methode begann Lister ab 1867 in mehreren Teilen in The Lancet zu veröffentlichen (89: 326-9), aber überraschenderweise setzte sie sich nicht umgehend durch. Vielmehr musste Lister gegen viele Widerstände kämpfen und Streitereien mit ärztlichen Kollegen austragen; vornehmlich in Form von Briefen, die ebenfalls in The Lancet veröffentlicht wurden. Diese weigerten sich nicht nur, seine empfohlenen Methoden zu übernehmen, sie bezichtigten ihn sogar der Lüge. Dabei beruhten Listers Überlegungen und Entwicklung der Antisepsis auf der noch heute geltenden Keimtheorie von Louis Pasteur. Lister war aber nicht nur Chirurg, sondern auch Wissenschaftler. Und so entwickelte er seine Methoden stets weiter, die nachweislich zu einer Senkung der Mortalität führten. Darüber hinaus hielt Lister als Professor Vorlesungen in Glasgow, Edinburgh und schließlich London, in denen er „keine trockenen Fakten vermitteln, sondern seine Studenten zum wissenschaftlichen Denken erziehen“ wollte (Seite 208).

Grusel und Geschichte

Ebenso wie die Vorlesungen Listers ist „Der Horror der frühen Medizin“ von Lindsey Fitzharris nicht trocken, sondern ganz im Gegenteil äußerst spannend und anschaulich geschrieben. Sei es die Darstellung des öffentlichen Lebens, die Streitigkeiten im Namen der Wissenschaft oder die Beschreibungen der damaligen Operationstechniken, Fitzharris gelingt es stets eindrucksvoll, ein real wirkendes Bild des Lebens im viktorianischen Zeitalter vor den Augen des Lesers entstehen zu lassen. Gleichzeitig ist das Buch hervorragend recherchiert und der Autorin ist es gelungen, trotz der unglaublich hohen Anzahl an Toten, eine äußerst lebhafte Biografie über Joseph Lister zu schreiben, die sich gut und flüssig liest. So ist das Buch „Der Horror der frühen Medizin“ populärwissenschaftliche Unterhaltung in bester Hollywood-Manier.

Übrigens ist auch heute noch der Name Lister buchstäblich in aller Munde und zwar als antiseptische Mundspülung Listerine, die nach dem britischen Mediziner benannt wurde.



Letzte Änderungen: 10.10.2019