Editorial

"Mehr Licht"

Von Gutachten, Gutachtern, Geldgebern und allem anderen

Von Alexander Hüttenhofer, Innsbruck


(12.07.2016) Wie Fördergremien die Forscher behandeln, ist manchmal ziemlich dreist – und demotiviert vor allem den wissenschaftlichen Nachwuchs. Doch die sind nicht die einzigen „Motivationsbremsen“.

Essays
Illustration: Fotolia / freshideas

Anfang diesen Jahres erschien eine Studie der US-National Institutes of Health (NIH) zum Thema: „NIH peer review percentile scores are poorly predictive of grant productivity“ (Fang et al., eLife 2016;5:e13323). Zusammengefasst ging es darum, dass zirka 100.000 geförderte Forschungsprojekte, die zuvor bei ihrer Beantragung allesamt innerhalb der besten zwanzig Prozent aller bewerteten Grants gelegen hatten, am Ende in Bezug auf Publikationsoutput und andere „objektive“ Parameter auch nicht besser abschnitten als die übrigen 80 Prozent der eingereichten Projekte. Feng et al. konstatieren daher:

"These observations suggest that despite the overall ability of reviewers to discriminate between extremely strong grant applications and the remainder, they have limited ability to accurately predict future productivity of meritorious applications in the range relevant to current paylines. This may contribute to a pervasive sense of arbitrariness with regard to funding decisions and dissatisfaction with the peer review system. Perhaps most importantly, these findings contradict the notion that peer review can determine which applications are most likely to be productive. The excellent productivity exhibited by many projects with relatively poor scores and the poor productivity exhibited by some projects with outstanding scores demonstrate the inherent unpredictability of scientific research. The data also suggest that current paylines are inadequate to fund the most productive applications and that considerable potential productivity is being left on the table at current funding levels."

Das derzeitige Peer-Review-gestützte Antragswesen sei folglich ungeeignet, die produktivsten Projekte für eine Förderung auszuwählen. Wow! Das muss man erstmal sacken lassen. Anders ausgedrückt hieße das also: Wenn man einen – dressierten – Schimpansen hernähme (Liebe Tierschützer, jetzt bitte nicht anrufen – das ist nur ein hypothetisches Experiment) und ihn Dart-Pfeile auf eine Wand werfen ließe, auf der die Themen aller möglichen eingereichten Grants geheftet sind, dann würde er genauso gut abschneiden wie unser tolles, tolles Peer Review System? Oder vielleicht sogar besser? „I glaab’s nit“, wie man bei uns in Tirol sagen würde – was soviel heißt wie: „Das kann doch unmöglich wahr sein.“ Ist es aber!

Gut. Und was heißt das jetzt? Beziehungsweise, wird sich durch diese Studie jetzt irgendetwas am Peer-Review-Prozess ändern?

Also zunächst mal heißt es nicht, dass alle unsere Gutachterinnen und Gutachter zu dumm sind, um das Potential von guten Forschungsanträgen zu erkennen. Alle, die bereits Gutachten verfasst haben oder gar in Gutachtergremien tätig waren, wissen, wieviel Zeit und Mühe das verursacht. Und in Deutschland, Österreich und der Schweiz wird das in aller Regel nicht einmal finanziell vergütet – im Gegensatz zur freien Wirtschaft. Fragen sie mal bei dem Manager eines Unternehmens nach einer kostenlosen Marktanalyse für irgendein Produkt. Der lässt sie umgehend in eine geschlossene Anstalt einweisen – zurecht! Nur wir Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind so blöd, Anträge unentgeltlich zu begutachten.

Wobei das ja noch ginge. Aber wie man als Gutachter dazu von manchen Fördergremien behandelt wird, ist doch ziemlich dreist. Da heißt es dann: „Sehr geehrter/e Herr oder Frau Prof. Sowieso, wir benötigen ein Gutachten von Ihnen.“ Am besten vorgestern, und wenn man es dann abliefert, kommt in den seltensten Fällen wenigstens ein „Dankeschön“ zurück – geschweige denn irgendeine minimale Vergütung des Zeitaufwandes. Ob sich das letztlich auch auf die Güte der Gutachten niederschlägt? Etwa nach dem Motto: Was nichts kostet, kann auch nichts wert sein?

Woran liegt es also, dass wir Forscher als Gutachter so schlecht in der Vorhersage von vielversprechenden Anträgen sind? Ein Grund könnte etwa die Prämisse der Geldgeber sein, nur Anträge auf Projekte zu fördern, die bereits so weit fortgeschritten sind, dass auch dressierte Schimpansen (siehe oben) die Aussicht auf Erfolg erkennen würden.

Das erinnert mich an einen DFG-Förderantrag vor vielen Jahren, in dem ich beschrieb, wie ich die Beteiligung einer nicht-kodierenden RNA an der Expressionssteuerung einer Serotonin-Rezeptor mRNA zeigen wollte. Die Antwort damals sinngemäß: „Da gibt es aber bisher überhaupt kein Beispiel für eine solche neue Art der Genregulation; wenn sie uns vorher nur ein einziges zeigen könnten, dann würden wir das Projekt fördern.“ Ja, aber: Wenn ich das gezeigt habe, dann brauche ich doch die Fördermittel nicht mehr, oder?!

Ich denke, wir kennen alle solche oder ähnliche Fälle, in denen lediglich etwas gefördert wird, das ich als „Safe Science“ (in Anlehnung an „Safer Sex“) bezeichne. Oder als „Me too Science“ – also etwas, das eh schon klar ist und eh jeder weiß und der Erkenntnisgewinn daher eher minimal ist.

Das erinnert mich übrigens an meinen früheren Chef Harry Noller, der zu meiner Postdoc-Zeit an der University of Santa Cruz in Kalifornien tätig war – und immer noch ist. Der meinte damals in den frühen Neuzigern zu mir: „Alex, it takes as long to work on something boring than on something interesting (und – mein Kommentar! – es kostet vermutlich genauso viele Fördermittel), that’s why you should always ask yourself: What are the most interesting and most important questions in biology?“ Den Ratschlag sollten vielleicht auch mal einige Gutachter beherzigen, dann würde die Output-Rate womöglich erheblich besser ausfallen als allenfalls durchschnittlich.

Allerdings würde dies wiederum mehr Mut zum Risiko für die Förderinstitutionen bedeuten (etwa für die DFG in Deutschland, den FWF in Österreich oder den NF in der Schweiz). Wobei das Schöne ist: Da laut NIH der Begutachtungsprozess ja eh mehr oder weniger „random“ ist, was den späteren Output angeht, müssten wir dabei gar nicht befürchten, in der Qualität unserer Forschung abzufallen – wir hätten aber wenigstens „coole“ Projekte gefördert (also keine „Safe Science“ oder „Me too Science“).

Die Wiener Wittgensteinpreisträgerin Renée Schroeder hat beispielsweise vorgeschlagen, aus allen abgelehnten Anträgen des österreichischen Förderverbandes FWF einige per Los herauszuziehen und diese trotzdem zu fördern. D‘accord! Das entspricht nämlich letztlich meinem „Dressierten-Schimpansen-Vorschlag“ – mit dem Vorteil, dass der Schimpanse entfällt und man die Lotterie vielleicht auch noch medienwirksam mit Lotterie-Feen (wesentlich charmanter als ein Affe....) im Fernsehen übertragen könnte. Spitzenidee – let’s do it!

Ach ja, und bei der Gelegenheit: Bitte auch mit diesem ganzen „translationalen“ Blödsinn aufhören – also damit, dass Projekte auch gleichzeitig irgendwie „angewandt“ sein und einen „humanen Benefit“ haben müssen, um förderungswürdig zu sein. Wäre dies nämlich das Kriterium im Deutschen Humanen Genomprojekt (DHGP) gewesen, an dem ich damals Mitte der Neunziger mitarbeiten durfte, dann wäre das ganze Feld der nicht-kodierenden RNAs (ncRNAs), inklusive der von Thomas Tuschl mitentdeckten ­miRNAs, vielleicht heute noch weitestgehend unentdeckt.

Und wenn wir schon mal beim „Förderer-Bashing“ sind: im Gegensatz dazu nahm das DHGP seinerzeit über das BMBF erhebliche Mittel in die Hand, um das ncRNA-Projekt – das heißt, die globale Identifizierung von ncRNAs in Modellorgansimen – zu fördern (damals eine Zusammenarbeit mit Jürgen Brosius von der Universität Münster). In aller Bescheidenheit war das dann eines der wenigen „Leuchtturmprojekte“ im DHGP, das nicht „Me too“ und nicht „Safe Science“ war. Daher hier auch mal ein großes Lob an das BMBF, denn damals hat sich so gut wie niemand für ­ncRNAs interessiert – im Gegensatz zu heute.

Wozu mir noch was einfällt. Weil’s doch so viele Preise für durchschnittliche Forschung gibt, liebe DFG: Wie wär’s denn mit einem Preis für das Lebenswerk von Jürgen Brosius, der im DHGP das Feld der ncRNAs wirklich ins Leben gerufen hatte – zu einer Zeit, als ncRNAs noch total unsexy waren? Okay, das musste mal gesagt werden...

Denken wir uns jetzt aber mal eine ideale Welt, in der die Fördermittelgeber sich an die obigen Vorschläge halten würden (ja, ja – höchst unwahrscheinlich...) und insbesondere auch total spannende, dafür aber sehr risikoreiche Projekte fördern würden. Stellen wir uns dazu vor, Sie hätten einen solchen Antrag genehmigt bekommen – und nehmen wir weiter an, dass Sie aufgrund dieser Fördermittel ganz, ganz tolle Entdeckungen gemacht hätten. Dann wäre es jetzt Zeit, das Gefundene zu publizieren, da ja Publikationen in entsprechenden High Impact-Journalen die Währung sind, in der offenbar der Erfolg der Förder-Investitionen gemessen wird (siehe obige NIH Studie). Leider landen wir damit unmittelbar beim nächsten Problem: Publizieren.

Ganz früher war’s ja so, dass man solide Ergebnisse (also nicht „Me too“ und nicht „Safe Science“) in soliden Journalen publizieren konnte. Meinetwegen in ­Nucle­ic Acids Research (NAR), wo viele Artikel über die Funktionen von Nukleinsäuren publiziert wurden – also auch in Richtung meines Forschungsgebiets, den ncRNAs. Das hat sich jedoch inzwischen signifikant geändert, seit die Editoren und Journale offenbar nur noch interessiert sind, einen höheren Impact Factor (IF) für ihr jeweiliges Journals zu erreichen. Das führt dann dazu, dass selbst durchschnittliche bis gute Journale versuchen, ihren IF über die Ablehnung von Arbeiten mit solider Forschung aufzublasen.

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Das merke ich übrigens auch selbst beim Begutachten von guten Manuskripten für NAR, für das ich seit Jahren als Gutachter tätig bin. Während ich selbst zwar kritisch, aber oft auch durchaus wohlwollend Manuskripte begutachte, sind meine Reviewer-Kolleginnen und -Kollegen manchmal wirklich extrem bösartig mit ihrer Kritik an wirklich soliden Studien – was offenbar die Chief-Editoren nicht nur goutieren, sondern sogar aktiv fördern. Da man bei den meisten Journals die Gutachten der anderen Reviewer auch selbst zu lesen bekommt, beobachte ich da durchaus einen Trend, den die Editoren der Zeitschriften durchaus zu unterstützen scheinen. Für NAR resultiert daraus etwa, dass sich dessen IF in den letzten zwanzig Jahren nahezu verdoppelt hat.

Dieses System führt wiederum dazu, dass es gerade für unsere jüngeren Forscher, die ganz besonders auf Publikationen angewiesen sind, höchst demotivierend ist, wenn auch ihre guten und soliden Arbeiten abgelehnt werden. Hinzu kommt, dass die Journals oft mehrere Monate brauchen, um Manuskripte zu begutachten, da es immer schwieriger wird, geeignete „Peers“ zu finden, die aufwendige Gutachten erstellen – und dazu noch unentgeltlich (siehe oben). Ich denke, es war zu keiner Zeit leicht, als Wissenschaftlerin oder Wissenschaftler erfolgreich zu sein, aber ich möchte wirklich nicht mit der heutigen Jungforscher-Generation tauschen, die gerade mit all diesen Hindernissen gleichzeitig zu kämpfen hat.

Na ja, wie gesagt – früher war’s auch nicht immer ganz einfach. Zum Beispiel: Thema Stipendien. Ich hatte es offenbar zwischenzeitlich verdrängt, aber jetzt erinnere ich mich doch wieder an mein Ansuchen für ein Habilitationsstipendium bei der DFG. Dort teilte man mir zu meinem Antrag unter anderem folgendes mit: „[...] zum einen haben die gehörten Gutachter den Eindruck gewonnen, dass Sie ein erfahrener RNA-Analytiker mit einer ansprechenden Zahl guter Publikationen – vielleicht einer der besten RNA-Biochemiker des Landes – seien [...]“. Trotzdem wurde der Antrag abgelehnt – und jetzt kommt’s: „[...] Hauptgrund für die Ablehnung Ihres Antrages war die Sorge der Gutachter, dass die Habilitation nicht der richtige Berufsweg sei. Bei der jetzt extrem angespannten Stellensituation könnte Sie eine Habilitation in eine sehr bedenkliche Situation bringen [...]“ Dazu fällt mir nur eine Antwort an die DFG ein, und die ist – zugegebenermaßen – etwas unprofessoral: „Leute, geht’s noch?!“ Also: „einer der besten RNA Biochemiker Deutschlands“ – und dann: „nicht der richtige Berufsweg“?

Zynischer geht’s nicht mehr, würde ich sagen. Und eine offensichtlichere Bankrott­erklärung für eine völlig verfehlte Wissenschaftspolitik gibt es wohl auch nicht. Dazu muss gesagt werden, dass ich während meiner Doktorarbeit in München mit einem Promotionsstipendium, sowie zwei Kurzzeitstipendien (EMBO und DAAD, Forschungsaufenthalt am CNRS Strasbourg) gefördert wurde und für meinen vierjährigen Postdoc-Aufenthalt in Kalifornien ein NATO-Stipendium erhielt. Danach, also nach all diesen Fördermaßnahmen, teilte mir die DFG als 39-Jährigem (!)mit: „[...] derzeitig noch unter 40, könnten sie nach Einschätzung der Gutachter unter Umständen als exzellenter RNA-Spezialist in der Industrie unterkommen [...]; Und weiter: „[...] zusammengefasst wird die Hoffnung ausgedrückt, dass der – für Sie sicherlich harte – Schritt zum jetzigen Zeitpunkt schlussendlich zu größeren Chancen für Ihre berufliche Zukunft führt.“

Ich fürchte, ich muss mich hier nochmals wiederholen: „Geht’s noch (dümmer), DFG?“ Denn klar, die Pharmaindustrie wartet ja ganz sicher auf fast vierzigjährige Akademikerinnen und Akademiker, die den Großteil ihrer Karriere in der universitären Grundlagenforschung verbracht haben – oder?

Das ganze hatte übriges zur Folge, dass ich mich künftig weigerte, selbst derartig vernichtende Gutachten für die DFG auszustellen. Kollegen, die mich der DFG als Gutachter etwa für SFBs vorschlagen, bekommen seither die Antwort, das ginge nicht, da ich „etwas schwierig“ sei. Okay, dann bin ich eben „schwierig“, liebe DFG. Aber es gibt ja sicher noch genügend andere „Peers“, die in der Lage sind, Gutachten wie das obige zu verfassen – dann habt ihr den guten wissenschaftlichen Nachwuchs tatsächlich bald vollständig von den Universitäten eliminiert. Well done – weiter so!

Was mich dazu bringt, dass wir heute sowieso immer mehr gute Forscherinnen und Forscher an die freie Wirtschaft verlieren. Früher war’s eher so, dass die „nicht ganz so guten“ Forscher in die Industrie abwanderten, während die „Genies“ an der Uni blieben und eine akademische Karriere verfolgten. Offenbar hat sich das grundlegend geändert oder gar umgekehrt. Aufgrund der fehlenden Perspektiven als Akademikerin oder Akademiker wandern mehr und mehr der wirklich hervorragenden Nachwuchswissenschaftler in die Pharmaindustrie oder Ähnliches ab. Dieser „Brain Drain“ weg von den Universitäten ist meines Erachtens eine sehr bedenkliche Entwicklung.

Nachdem ich nun bereits über ein Jahrzehnt in Österreich bin, möchte ich das mal aus der österreichischen Perspektive beschreiben. Österreich hatte ursprünglich ein System, bei der eine Habilitation automatisch eine unbefristete Anstellung (eine sogenannte Definitivstellung) an der jeweiligen Universität bedeutete. Das hatte zur Folge, dass sich dann einige, aber nicht alle, nach erfolgter Habilitation quasi zur Ruhe setzten und ihrer Pensionierung entgegenfieberten – was zu einem überalterten akademischen Mittelbau führte, der unkündbar war.

Als dies erkannt war, schwenkte man umgehend auf das „deutsche System“ um (weil in Deutschland ja eh alles besser ist, wie man hier zumindest glaubt). Folglich hatte man jetzt auch hier nach einer Befristung von sechs Jahren die Universität zu verlassen. War aber auch nicht gut, wie man schnell in Österreich erkannte, da nun der gesamte akademische Mittelbau nach jeweils sechs Jahren vollständig eliminiert wurde und an eine Kontinuität von Forschung und Lehre nicht mehr zu denken war. Also nochmals umgeschwenkt zum sogenannten Tenure-Track System ähnlich dem amerikanischen Vorbild, wo gewisse Zielvereinbarungen in Forschung und Lehre getroffen werden, nach deren Erfüllung die Stelleninhaber in ein unbefristetes Dienstverhältnis übernommen werden können. Klingt nicht nur gut, ist es auch! Beim Eurovision Song Contest hieße das: Austria, twelve points!

Damit wieder zurück zu unserer idealen Welt. Wo sind wir jetzt, im Idealfall? Wir haben einen tollen Forschungsantrag geschrieben, den auch bewilligt bekommen und sind nach langer Suche nun Professorin oder Professor an einer Universität. Jetzt brauchen wir erst mal motivierte Studentinnen und Studenten, die für uns im Labor arbeiten; schließlich waren wir selbst da ja wohl lange genug tätig... Da kommt dann aber schon das nächste Problem: die heutige Generation der Studierenden. Diese nennt sich Generation Y (= Why?), weil sie alles hinterfragt und – wie mir kürzlich ein Student sagte – nach einer „Work-Life-Balance“ sucht. Aha, „Work-Life-Balance“. Erzählen Sie das mal jemand in Oxford, Cambridge, am MIT, in Berekley, an der ETH Zürich, etc.... Die erklären ihn gleich mal was „Work-Life-Balance“ ist: nämlich viel „Work“ und wenig „Balance“.

Das heißt nicht, dass alle Studentinnen und Studenten faul, unfähig und dumm wären – im Gegenteil, da gibt’s viele, die hochmotiviert sind. Aber meine Kollegen und ich beobachten immer mehr Studentinnen und Studenten, für die Wissenschaft auf die gleiche Art gemacht wird, wie wenn man als Fleischerei-Fachverkäufer arbeiten würde. Nichts gegen Fleischerei-Fachverkäufer, das ist ein sehr ehrbarer Beruf; was mir aber fehlt, ist diese emotionale Binding der Generation Y an die wissenschaftlichen Projekte, an denen sie arbeiten – die schlaflosen Nächte, in denen man sich überlegt, warum ein Experiment nicht funktioniert oder wie man das Experiment besser machen könnte.

Zugleich haben wir uns in den letzten zwanzig Jahren von einer Ordinarien-Universität (nicht gut!) zu einer Studenten-Universität hinbewegt (auch nicht gut!). Das heißt, meine Studenten teilen mir jetzt mit, wann sie am liebsten Prüfungen machen wollen (am liebsten natürlich gar nicht) – ja sogar welches für sie die beste Zeit für eine Vorlesung ist. Kürzlich fragte mich beispielsweise ein Student, ob er wegen eines Kletterwettkampfes in Mumbai (Indien) zwei von sechs Praktikumstagen versäumen könnte, weil er eben beides machen wollte – Klettern und Studium; alternativ könnte ich für ihn persönlich ein zusätzliches Praktikum anbieten, in dem er die verlorenen Tage nachholen könnte. Ich glaube, hier läuft irgendetwas wirklich ganz, ganz falsch. Aber ist es „politically correct“, das auch mal so auszusprechen? Man ist ja sonst wieder gleich der autoritäre Ordinarius aus der Vorzeit.

Von daher mache ich jetzt Schluss mit dem ganzen Gejammer, liebes Laborjournal. Vermutlich ist das alles nur ein Zeichen, dass ich mich langsam aber sicher auf meine Pensionierung zubewege und viele Dinge viel zu schwarz sehe. Wie Ihr aber seht, gibt’s für Euch auch künftig weiterhin viele Agenden zu behandeln. Bleibt also weiterhin dran, Missstände in der europäischen Forschungslandschaft aufzudecken und nicht unter den Tisch zu kehren. Vermutlich werden es Euch die kommenden Generationen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern danken. Und vermutlich werdet Ihr auch weiterhin wenig Beifall von den Fördergremien bekommen. Aber, who cares? Daher: Weiter so!

Alexander Hüttenhofer ist Professor für Molekularbiologie am Biozentrum der Medizinischen Universität Innsbruck und leitet dort das Institut für Genomik und RNomik.


Letzte Änderungen: 12.07.2016