Editorial

Bildung und Freiheit – Universitas semper reformanda

Von Josef Pfeilschifter und Helmut Wicht, Frankfurt


(15.07.2019) Aufgabe der Universitäten ist es, die Räume bereitzustellen, in denen sich unsere Freiheit vernünftig entfalten kann. Davon sind sie heute weit entfernt. Wir entwerfen daher eine Utopie.

Essays
Illustr. : iStock / MHJ

Vom Muff der Talare und der Konservativität

Natürlich ist der Status quo der Bildung stets zu beklagen. Zunächst mal von denen, die sie reformieren wollen, denn im „universitas semper reformanda” finden nicht wenige ein einkömmliches Auskommen. Außerdem braucht man freilich die Klage jener, die früher alles besser fanden – schon damit die Reformer einen pittoresken Widerpart, ein mufftalariges Schreckgespenst an die Hand bekommen, dem man dann Ewiggestrigkeit vorwerfen sowie entgegenhalten kann, dass die Klage über die Bildung so alt sei wie die Bildung selbst. Und meist folgt dann ein Zitat von Cicero oder Seneca...

Will man – unter Referenz aufs Gestern – die heutigen Zustände kritisieren (was wir wollen), ohne dabei das Odium des Talarenmuffs anzunehmen, bietet es sich an, Zuflucht bei Theodor W. Adorno zu suchen. Der schreibt in seiner ätzenden „Kritik der Halbbildung” von 1959: „Das einzige Maß des heutigen Schlechten ist das frühere.” So geht das, gut negativ-dialektisch. Natürlich war früher nicht alles besser, sondern nur anders schlecht. Und so, das sei den Reformern gesagt, ist das Maß der Missstände, die sie anrichten werden, eben das heutige Übel.

Aber wie soll man denn nach Adornos vernichtender Kritik noch Maß nehmen? Wenn schon die früheren Missstände maßlos waren, mit welchem Maß will man dann die heutigen messen? Die zukünftigen kennen wir ja noch nicht. Nun, wir wollen es wagen, das Pathos des gescheiterten Programms noch einmal einzufordern – die dystopischen aktuellen Zustände also nicht an den ebenso missratenen der Vergangenheit zu messen, sondern beide an den Ansprüchen und Versprechen, mit denen das Bildungsprogramm der Aufklärung einst aufgelegt wurde. Um also erneut mit Horkheimer und Adorno (aus der „Dialektik der Aufklärung”) zu sprechen: „Nicht um die Konservierung der Vergangenheit, sondern um die Einlösung der vergangenen Hoffnung ist es zu tun.”

Die Lektüre diverser bildungstheoretischer und -kritischer Texte aus alten Zeiten wirkt dann tatsächlich augenöffnend, denn man bemerkt, wovon in den aktuellen Debatten eben nicht mehr die Rede ist: von der Freiheit. Und unter dem Gesichtspunkt der Freiheit, der Hoffnung, die man uns einst machte, wollen wir uns jetzt das Medizinstudium (das uns vertraut ist) ansehen, um dann aufs weitere Feld der Universität insgesamt zu blicken.

Von der (Un-)freiheit der medizinischen Fakultät

Friedrich Schiller und Wilhelm von Humboldt denken „Bildung” und „Freiheit” noch ganz selbstverständlich zusammen, und Karl Jaspers besitzt noch 1946 die – aus heutiger Sicht – Frechheit, gleich dreien der vier klassischen universitären Fakultäten das wissenschaftliche Fundament abzusprechen, indem sie nicht frei seien, sondern Zwecken dienten. Zweck der Medizin sei das Leibeswohl, das der Theologie das Seelenheil, der Zweck der Juristerei sei es, ein wohlgeordnetes Staatswesen mit Rechtsexperten zu versehen – einzig die philosophische Fakultät sei zweckfrei, und daher rein wissenschaftlich.

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Jenseits des Zwecks aber – was ist das, diese akademische Freiheit? Erneut Jaspers, krass formuliert und ex negativo gedacht: Es ist auch die Freiheit des Scheiterns. Man muss scheitern können. Als Forscher. Als Student. Heutzutage jedoch – Studierbarkeit, Minimierung der Abbrecherquoten, alle möglichen staatlichen Eingriffe, mit dem Ziel: jedem sein Zertifikat. Die Scheiternsquote im Medizinstudium liegt bei weniger als zehn Prozent. Ist ein Studium, das jeder bestehen muss, noch frei? Ist ein Forscher, in dessen Zielvereinbarung soundso viele Impact-Punkte stehen, noch frei?

Freiheit. Freiheit der Berufswahl. Artikel 12 des Grundgesetzes. Also müssen alle alles studieren können, und dann doch wieder nicht – denn so viele Studienplätze in Psychologie und Medizin, wie nachgefragt werden, gibt es gar nicht. Also Selektion, und zwar von vorne und von hinten: Wo Landärzte hinten rauskommen sollen, muss man vorne Studenten einfüttern, die eine strafgeldbewehrte Erklärung unterschrieben haben, dass sie hinterher ein Dezennium auf dem Lande praktizieren werden. Ist das die Freiheit der Berufswahl?

Und überhaupt: Beruf... Dass ein Studium, dass „Bildung” eine berufsqualifizierende Angelegenheit sei, war Humboldt fremd, Jaspers zumindest in Hinsicht auf die Wissenschaft verdächtig – und Arthur Schopenhauer schlug gar seine akademische Karriere in den Wind, weil er nicht von der sondern für die Wissenschaft leben wollte.

Den Reformern ist natürlich das Studium eine berufsqualifizierende Maßnahme, und weiter nichts bis wenig. Ergo kann es von vorne bis hinten marktökonomisch gedacht und organisiert werden, kurz vor allem muss es also sein. Tatsächlich gibt es Proponenten eines „ingenieursmäßig” (sie nennen das selbst so) organisierten Medizinstudiums, das in schlanken sechs Semestern Spezialisten fürs Partikulare hervorbringt: Also etwa den chirurgischen Blinddarmprofi, oder den primärqualifizierten Depressionspsychotherapeuten. Freiheit? Ein Feld erkunden? Herausfinden, was man eigentlich kann und will?

Freiheit. Freiheit der Lehre. Artikel 5 des Grundgesetzes. Mit der steht es, wenn man genau hinschaut, im Medizinstudium schon lange schlecht. Es ist ja, um erneut mit Jaspers zu sprechen, ein Studiengang mit staatstragenden Zwecken; ergo mischte sich schon 1725 in Preußen der Staat ein und entzog den Universitäten das Approbationsrecht. Staatsexamina wurden eingeführt. Nun, „Assessment drives the Curriculum” – also muss man lehren, was auch geprüft wird.

Die Frage ist dann nur noch, wer Letzteres festlegt, denn er oder sie ist dann der Träger der Lehrfreiheit. Und da hätten wir neuerdings im Medizinstudium dem „Masterplan 2020” zufolge etwas ganz Neues, nämlich einen „Nationalen kompetenzbasierten Lernzielkatalog Medizin (NKLM)”, der – jetzt verbindlich freilich – den Fakultäten vorschreibt, was zu lehren und was zu lassen sei. Auch wie es zu lehren und zu prüfen sei, denn natürlich strotzt der Katalog von „Fächerübergriffen”, „vertikalen Integrationen”, „Fallbasierungen”, „Problemorientierungen” et cetera. Das Können ist hier König, das Wissen nur die Magd, die der König nach Bedarf herbeiruft (wenn er denn wüsste, was er wissen will) – und die ansonsten wohlverwahrt in Bibliotheken und im Internet schlummert. Gemacht und optimiert wird dieser NKLM ganz wesentlich von Medizindidaktikern. Sie sind also die neuen Träger der Lehrfreiheit.

Vom Wesen der Freiheit und von der Universität insgesamt

Was meinen wir – und wir meinen jetzt wirklich uns, die Autoren – eigentlich, wenn wir von „Freiheit” reden? Freiheit ist nicht Indeterminiertheit, ist nicht das Resultat irgendwelcher Quantenstochastiken, sonst wäre sie eine Lotterie. Freiheit ist vielmehr – wir halten uns hier an Kant und Schopenhauer – das Vermögen, sich aus Gründen willentlich für dieses oder auch für jenes zu entscheiden. In der Summe dieser Entscheidungen und Taten tritt das ans Licht, was die beiden als den „empirischen Charakter” des Menschen bezeichnen. In der Tat, meint zumindest Schopenhauer, sei jener durch und durch determiniert, sodass wir in unseren Willensakten eigentlich nur erführen, was unser zugrundeliegender ­„intelligibler” Charakter sei.

Wie dem auch sei – Freiheit ist etwas, das man primär an sich selbst, über sich selbst, in seinen Willensakten, erfährt. Dieser Freiheit, damit sie sich entfalte, müssen die Gründe, die Motive, die ihren Entscheidungen zugrunde liegen, vorgeführt werden. Und zwar, wie Humboldt richtig anmerkt, in einer bestmöglichen „Mannigfaltigkeit der Situationen”. Denn wem man nur ein Motiv vorhält – zum Beispiel, an der Universität möglichst rasch einen berufsqualifizierenden Abschluss zu erhalten – dem nimmt man in dieser „einförmigen Lage” (Humboldt) die Freiheit, herauszufinden, wer er ist und was er will. Das Wesen der Bildung und der Freiheit ist: Vielfalt. Wer die Orchideen als Fächer oder als exotische Fachblüten der Einzelwissenschaften ausmerzt, tötet die Freiheit. Und die Schönheit.

Freiheit, um mit Hannah Arendt zu sprechen, ist aber auch die „Freiheit, frei zu sein”. Man muss der dringendsten materiellen Sorgen, dem Hunger, der Armut, dem Elend enthoben sein, denn das Sein bestimmt tatsächlich (in Grenzen) das Bewusstsein: Wer am Verdursten ist, den dürstet es nicht nach Erkenntnis und politischer Partizipation, sondern nach einem Glas Wasser. Diese Freiheit, frei zu sein, haben wir hierzulande gewiss.

Die Freiheit, frei zu sein, wird aber auch von der Furcht vor den Sanktionen möglicher Freiheitsakte bedroht, zumal wenn jene sich unter der Tarnkappe der „Alternativlosigkeit” oder der „Gegebenheiten” verbergen. Befremdlich ist es also, wenn sich die (akademische) Freiheit, die der Befriedigung der grundlegenden materiellen Bedürfnisse abgerungen wurde, aus freien Stücken gleich wieder im Mahlwerk des Getriebes der Fremdbestimmungen, der Logiken der Konkurrenz, der Ökonomie, des Nutzens, der Impact-Punkte – und damit letztlich des Geldwertes zerreiben lässt.

Der Zwang, dem man entrann, kehrt als ökonomische Prozesslogik zurück – und auch diese zwingt. Das scheint heute keinen mehr zu stören, im Gegenteil, man ist stolz darauf. Die Rede davon, dass Deutschland ein rohstoffarmes Land sei, weswegen man in Köpfe investieren müsse, die Rede davon, dass wir in andauernden Bildungswettbewerben mit anderen Nationen stünden, ist in aller Munde – und selbstverständlich gehen wir davon aus, dass Bildung ein Markt sei.

Fast ist man geneigt, Feuerbachs und Karl Marxens Wort vom „Fetisch” zu verwenden: „Geldfetisch”, „Wissensfetisch”, „Konkurrenzfetisch”. Alle diese Dinge haben keinen Wert und keine Substanz, vielmehr setzen wir ihnen den Wert zu (anthropos metron hapanton, würde Protagoras sagen) und verwechseln dann unsere Projektion mit einem unabhängigen, werthaltigen, geradezu eigenwilligen Ding – einer Hypostase, einem selbstverfertigten Geldgötzen, der uns dann allerdings auch beherrscht.

Erst recht taugt der naive, der böse Biologismus, der sich an Darwin anlehnt, sich gerne mit dem Konkurrenzfetisch verschränkt, und der aus dem Wettbewerb um knappe Ressourcen einen angeblich naturnotwendigen Dauerdaseinskampf ableitet, nicht zur Begründung irgendwelcher akademischer Konkurrenzen. Das, woran die Wissenschaft und die Erkenntnis (dazu gleich!) sich abarbeiten, die Welt nämlich, ist alles andere als eine knappe, sondern vielmehr eine überbordende Ressource.

Mit Freiheit meinen wir weiter – um das alttestamentarische Bild zu gebrauchen – die gottgegebene Freiheit, vom Baum der Erkenntnis zu essen und mit den Folgen zurechtzukommen. „Die Erkenntnis”, sagt Hegel, „heilt die Wunde, die sie ist”. Ob sie heilt, sei dahingestellt – aber in der Tat: Erkenntnis ist Wunde, Erkenntnis ist Differenz, denn sie setzt den Menschen, als Erkennenden, aus dem Erkannten heraus, zerreißt den paradiesisch-bewusstlosen Seinszusammenhang und stellt den Menschen sozusagen vor sein Dasein, indem er es erkennt, und zugleich in es hinein, indem er es ist.

Diese Differenz ist die Bedingung der Freiheit. Die Freiheit ist aber auch die Arbeit an der Differenz, denn wir stehen der Welt durchaus nicht nur als Erkennende, sondern eben auch als Wollende gegenüber – wir haben normative Arbeit zu leisten, und tun es. Zum Guten. Und zum Bösen, welches der Preis der Freiheit ist. Erneut: Freiheit wurzelt in der Differenz. In der Differenz des Erkennens. In der Differenz der empirischen Charaktere. In der Differenz von Sollen und Sein. In der Differenz von Transzendenz und zu Transzendierendem. Und in diesen existenzialen Differenzen es auszuhalten – und nicht sie mit positivistischen Totalitäten zu überkleistern – sollte gerade uns hier in Frankfurt die kritische Schule gelehrt haben.

Es gibt sogar einen moralischen Zwang zur Freiheit. Sich ihr zu entziehen und sich naht- und kritik- und willenlos (oder eben auch: willentlich) in die Zwecklogiken der biologischen, ökonomischen oder ideologischen „Gegebenheiten” einzureihen (die so „naturgegeben” gar nicht sind, sondern die ihrerseits – allerdings eigendynamische – Melangen aus Fakten und Normen darstellen, siehe oben „Fetisch”), hieße, erneut sehr pathetisch gesprochen, Verrat an der Sache des Menschen zu üben – es wäre der eigentliche Sündenfall. Kaum weniger pathetisch, wie es Hannah Arendt sagte, die sich auf Kant berief: „Kein Mensch hat [...] das Recht, zu gehorchen.”

Wir entkommen der Freiheit nicht, so lange nicht, als wir uns als erkennende Wesen verstehen. Aufgabe der Universitäten wäre es, die Räume, in denen sich unsere Freiheit vernünftig gestalten kann, bereitzustellen. Im Angesicht der aktuellen, bereits hinreichend dystopischen Zustände (die sich eben stets auf „Gegebenheiten” und „Alternativlosigkeiten” und „Zwang” berufen) kann das nur als Utopie formuliert werden.

Universitäre Freiheit – eine Utopie

  1. Mannigfaltigkeit der Situationen. Buntblühende Wissensgärten statt kompetenzorientierter Monokulturen. Zwar gibt es Dinge, die man wissen muss. Aber es gibt nichts, was nicht wissenswert wäre; sondern da ist vielmehr die Gesamtheit dessen, was man wissen darf. Die Universität macht nicht gleich, ist nicht der Produktionsort normierter Berufskompetenter. Sie produziert vielmehr Individuation. Wer man sei (und wer nicht), lernt man an ihr.

  2. Freiheit und Masse. Massenuni ist von daher ein Selbstwiderspruch, der nur durch deutlich – sehr deutlich – verbesserte Betreuungsrelationen aufzulösen ist. Denn es geht natürlich auch um Interaktionen zwischen Individuen. „Die Erziehung an der Universität ist ihrem Wesen nach sokratische Erziehung” (Karl Jaspers); doch Sokrates fand man stets im Gespräch, nie aber am Rednerpult eines Auditorium maximum.

  3. Lehr- und Lernfreiheit. Erneut mit Sokrates (durch Karl Jaspers) zu sprechen: „[...] die Erziehung ist eine ‚mäeutische‘ – das heißt, es wird den Kräften im Schüler zur Geburt verholfen, es werden in ihm vorhandene Möglichkeiten geweckt, aber nicht von außen aufgezwungen.” Didaktik ist Mäeutik, aber wer die Geburtshelfer bestimmen lässt, was für ein Kind zur Welt kommen soll, verwechselt die Hebamme mit Mutter und Vater und dem Kinde selbst. Die Träger der Lehr- und Lernfreiheit sollten die sein, die es tun: Lernen und Lehren.

  4. Freiheit, Entschleunigung und Hingabe. Wer den Fast Track in die Freuden und Freiheiten des Berufslebens sucht, wähle einen Bachelor-Studiengang an einer Fachhochschule. Wer in Freiheit ein Feld oder Felder und sich selbst erkunden will, suche eine Universität auf. Und lasse sich Zeit, die ihm auch gelassen werden muss. Denn, bei allem Lob der Individuation: „Der Weg der Bildung [ist] einer der Entäußerung [...]. Gebildet wird man nicht durch das, ‚was man aus sich selbst macht‘, sondern einzig in der Hingabe an die Sache.“ (Max Horkheimer)

  5. Scheiternsfreiheit. Man muss scheitern können. Als Student, wenn man merkt, dass der empirische Charakter, den man in sich vorfindet, eben nicht der ist, der den Gegenständen der Studien angemessen ist. Als Forscher, wenn man merkt, dass man in eine Aporie geraten ist, dass das Gelände, das man durchforschen wollte, weglos ist, oder zumindest für diesen Forscher nicht gangbar. Es muss, mit anderen Worten, Auslesekriterien geben, will der Betrieb nicht ins Uferlose geraten, doch soll man sich diese Kriterien eben nicht durch die Fetische des Marktes setzen lassen. Selbstverständlich darf diese Auslese nicht zur Vernichtung geraten, das Scheitern darf nicht zur existenzialen Bedrohung werden, es müssen Wege gefunden werden, die einen von der Universität befremdeten Studenten und einen an ihr gescheiterten Wissenschaftler auch wieder aus ihr herausführen.

  6. Freiheit und Differenz. Eng verwoben mit dem Obigen: Universitäten sind keine Nivellierungs-, sondern Differenzmaschinen, das ganze Bildungssystem ist eine. Natürlich ist Chancengleichheit herzustellen. Aber ebenso, wie der Satz „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich” (Artikel 3 des Grundgesetzes) nicht besagt, dass alle Menschen gleich seien, sondern vielmehr sogar impliziert, dass das Gesetz sie ungleich macht, indem es sie in die scheidet, die ihm genügen, und jene, die es übertreten, so tritt der Mensch auch nicht vor seine Bildungsmöglichkeiten, um gleichgemacht zu werden, sondern um zu erfahren, wer er sei, was sein empirischer Charakter sei. Wer alle überallhin inkludierend mitnehmen will, leugnet die Individuation, es ist vielmehr ein totalitäres Unterfangen. Wer meint, den gleichmacherischen Wortkleister vom Professional Master über Akademiker und Handwerksmeister ausschütten zu müssen, leugnet die jeweils eigene Würde beider, die sich auf verschiedenen Wegen zu der Professionalität gebildet haben, die sie auszeichnet. Die Differenz ist zu ertragen, und wer sie als Diversity gleich wieder quotieren will, reduziert das Individuum zum Träger des Merkmals der Gruppe, in die er es hineinkategorisiert.

  7. Die Freiheit, frei zu sein. Die Bedingung des Bildungserfolges ist die existenzielle Absicherung. Die Studierenden, vor allem die weniger gut bemittelten, brauchen eine auskömmliche Finanzierung, die grundständige Forschung und die Lehre ein tragfähiges, auf Dauer gestelltes und von Drittmittelsteuerung unabhängiges finanzielles Fundament.

  8. Der Zwang zur Freiheit. Die Universität muss ein unsicherer Ort sein. Da, wo die Sicherheit endet, in den Naturwissenschaften, in den Geisteswissenschaften, beginnt das Reich der Freiheit. Die Universität darf nicht zur Affirmations- und Vollzugsanstalt von Ideologien werden, die ihrem Diskurs entzogen sind. „Safe spaces” sind keine Freiräume, sondern Gummizellen. Jeder Diskurs, sofern er den Regeln der Vernunft folgt, jedes Forschungsgebiet, sofern es wissenschaftlich betrieben wird, muss hier seinen Ort haben, denn an ihnen muss sich die Freiheit erproben. Die Gleichschaltung der gesellschaftlichen Fetische mit Bildungszielen ist der Sündenfall, indem sie behauptet, das Gute schon erkannt zu haben, ohne der Arbeit der Erkenntnis je Raum zu geben. Universität ist Differenz. Fast möchte man sagen: Sie muss querstehen zu dem, was das Man zu wissen meint.

  9. Und, ja, freilich, wir wollen auch noch, dass die Gesellschaft uns dafür bezahle, der Stachel in ihrem Fleisch zu sein. Oder ihr Gewissen, ihr schlechtes, ihr gutes. Sie muss sich das leisten, wenn sie nicht in Barbarei verfallen will, sie muss sich das leisten, wenn sie die Früchte der Erkenntnis ernten will. Denn davon haben wir, vor lauter Freiheitspathos, noch gar nicht geredet: So eine freie Universität hat hochinteressante Abfallprodukte. Erstens nämlich freie, gebildete Menschen, die an ihr gelernt haben, ein Feld so zu durchdringen, dass es sie für anspruchsvolle Berufe qualifiziert. Zweitens allerlei nützliche Techniken, die das Leben leichter machen. Aber es sind eben Abfallprodukte. Im Kern will die Universität etwas anderes (siehe Punkt 11).

  10. Freiheit und Zweck. Was im Umkehrschluss nicht heißt, dass sie nicht in die Gesellschaft eingebunden sei. Selbstverständlich ist sie das, und natürlich stehen der Gesellschaft auch die Steuerungsmittel zur Verfügung, an den Universitäten vermehrt das tun zu lassen, was ihr am Herzen liegt: Drittmittel, Projektförderungen et cetera. Und an den Universitäten sind genug Leute, die sich mit Wonne – aber eben auch: aus freien Stücken – an solchen Problemen abarbeiten.

  11. Ein Zitat: „An der Universität verwirklicht sich das ursprüngliche Wissenwollen, das zunächst gar keinen anderen Zweck hat, als zu erfahren, was zu erkennen möglich ist, und was durch Erkenntnis aus uns wird. Es vollzieht sich die Lust des Wissens im Sehen, in der Methodik des Gedankens, in der Selbstkritik als Erziehung zur Objektivität, aber auch die Erfahrung der Grenzen, des eigentlichen Nichtwissens sowohl wie dessen, was man im Wagnis des Erkennens geistig aushalten muss.” (Karl Jaspers, „Die Idee der Universität”)

Schön wäre das. Und frei.

Nachsatz: Die Autoren danken Frau Prof. Dr. Tanja Gabriele Baudson und Herrn Prof. Dr. Dr. Udo Benzenhöfer für hilfreiche Kommentare zu dem Manuskript. Die zitierten Literaturstellen können bei den Autoren erfragt werden.



Zu den Autoren

Josef Pfeilschifter ist Dekan des Fachbereichs Medizin sowie Direktor des Instituts für Allgemeine Pharmakologie und Toxikologie der Goethe-Universität Frankfurt.

Helmut Wicht arbeitet als Privatdozent am Anatomischen Institut der Universität Frankfurt. Daneben betreibt er seit 2007 den preisgekrönten Weblog „Anatomisches Allerlei“ und schreibt Gedichte und Geschichten rund um das Motorradfahren.


Letzte Änderungen: 15.07.2019