Editorial

Grenzwertige Verständigung

Von Susanne Günther, Waldeck


(15.07.2019) Die Diskussion um die Stickoxid-Grenzwerte im Zusammenhang mit Autofahrverboten hat es wieder einmal gezeigt: Kommunikation und Debatten zwischen Wissenschaft, Politik, Medien und der Öffentlichkeit laufen oftmals seltsam schief. Der Versuch einer nachbetrachtenden Analyse.

Essays
Illustr. : iStock / MHJ

Inzwischen haben sich die Wogen wieder geglättet, die Anfang des Jahres ein Pensionär aus dem Sauerland aufgewirbelt hatte: Angesichts drohender Fahrverbote in deutschen Innenstädten kritisierte der Pneumologe Professor Dr. Dieter Köhler die geltenden Grenzwerte für Stickstoffoxid und Feinstaub in der Außenluft und fand damit ein beachtliches mediales Echo. Ich will mich in diesem Essay damit beschäftigen, wie die Debatte in Print, Fernsehen und Online-Medien geführt wurde – und versuchen, ein paar Missverständnisse aufzuklären. Dieser Text erhebt somit nicht den Anspruch, die Diskussion umfassend wiederzugeben – zumal ich mich auf die Stick­oxid-Grenzwerte beschränken will, weil diese für die aktuellen Fahrverbote maßgeblich sind.

Um den Vorstoß von Prof. Dr. Dieter Köhler und seinen inzwischen rund 140 Mitstreiterinnen und Mitstreitern [1] einordnen zu können, ist ein kleiner Ausflug in die Philosophie notwendig. Damit fange ich an.

Professor Köhler beruft sich auf den kritischen Rationalismus von Karl Popper. Der österreichische Philosoph prägte mit seinen Thesen das Wissenschaftsverständnis unserer Zeit. Ausgangspunkt seiner Überlegungen war das Induktionsproblem, das erstmals durch den schottischen Philosophen David Hume ausformuliert wurde. Demnach stellen wir unentwegt Schlussfolgerungen auf Basis unserer Beobachtungen. Allerdings können wir uns dabei nie sicher sein, dass eine Abfolge von Ereignissen, wie sie sich bisher zeigte, auch in Zukunft so eintreffen wird. Daraus, dass bisher jeden Morgen die Sonne aufgegangen ist, folgt nicht, dass sie stets jeden Morgen aufgehen wird. Ich kann diese These auf Basis meiner Beobachtungen nicht beweisen.

Die Prämisse der Gleichförmigkeit der Natur ist eine zusätzliche Grundannahme, die ich bei allen Schlussfolgerungen dieser Art voraussetzen muss. Das berühmte Beispiel von Karl Popper ist der Satz „Alle Raben sind schwarz“. Ich kann diesen Satz nicht auf Basis von Beobachtungen beweisen. Schließlich könnte ich einen Winkel dieser Welt übersehen haben, wo weiße Raben leben. Auch wenn alle Raben, die ich bisher beobachtet habe, schwarz sind, stützt dieser Umstand nur meine Hypothese, er beweist sie aber nicht. Popper leitet daraus die Forderung ab, dass wissenschaftliche Theorien so formuliert werden müssen, dass sie grundsätzlich falsifiziert werden können. Der Satz „Alle Raben sind schwarz“ ist falsifizierbar: Sobald ein weißer Rabe beschrieben wird, wäre diese Hypothese widerlegt.

Übertragen auf die Grenzwerte-Debatte bezieht Professor Köhler offenbar die Forderung nach Falsifizierbarkeit auf den Stickoxid-Grenzwert. Dazu müsste man den Grenzwert erst einmal in eine entsprechende Aussage umformulieren. Köhler scheint den Wert so zu interpretieren, als dass er aussagt: „Ab einer Konzentration von 40 µg Stickoxid pro Kubikmeter Luft wird die Gesundheit von Menschen gefährdet“.

Diese Aussage unterzieht er einem Plausibilitätstest: „Rauchen verkürzt die Lebenserwartung etwa um zehn Jahre, wenn über vierzig bis fünfzig Jahre eine Packung pro Tag geraucht wird. Würde die aktuelle Luftverschmutzung ein ebensolches Risiko darstellen und entsprechend hohe Todeszahlen generieren, so müssten die meisten Raucher nach wenigen Monaten versterben – was offensichtlich nicht der Fall ist.“ Das ist für Köhler die Falsifikation [2].

Erst einmal ist es legitim, diese Messlatte anzulegen. Und auch wenn man diesen speziellen Plausibilitätstest nicht akzeptiert, sollte man als Urheber einer wissenschaftlichen These angeben können, unter welchen Bedingungen die These als falsifiziert zu gelten hat. Allerdings gibt es bei den Grenzwerten ein Problem: Die Werte sind politische Festsetzungen. Die dahinter stehende Aussage lautet nicht „Ab hier fängt Gefährdung an“, sondern „Dieses Risiko wollen wir akzeptieren“. Somit lässt sich Poppers Falsifikation an dem Grenzwert selbst gar nicht anwenden, sondern vielmehr an den wissenschaftlichen Feststellungen, die der Grenz­wert-Festlegung vorausgegangen sind.

Leider ist die medial geführte Debatte gerade in den Talkshows nicht so besonnen ausgefallen. Ich möchte im Folgenden ein paar Beispiele schildern.

Ein Vorwurf, der nahezu reflexartig in Richtung Köhler geäußert wurde, ist der, dass er sich von Lobbyisten vor den Karren spannen ließ. Aufgehängt wird dieser Vorwurf unter anderem an der Unterschrift von Professor Dr. Thomas Koch, Leiter des Instituts für Kolbenmaschinen am Karlsruher Institut für Technologie (KIT), unter der von Köhler initiierten Stellungnahme. Koch habe früher bei Daimler gearbeitet und sei daher der Industrie zuzurechnen. Völlig missachtet wird dabei jedoch, dass er ein ausgewiesener Experte auf dem Gebiet der Verbrennungsmotoren ist. Als solcher ist Koch zum Beispiel am 8. September 2016 als Sachverständiger in einer Anhörung des Diesel-Untersuchungsausschusses aufgetreten. In dieser Anhörung kamen die Experten übrigens zu dem Schluss, dass es isoliert für Stickoxide keine Studien gibt, die die gesundheitlichen Wirkungen unabhängig von anderen Faktoren wie etwa Lärm betrachten [3].

In meinem Studium habe ich den schönen Begriff „hermeneutische Nächstenliebe“ gelernt. Wenn ich versuche, mir anhand eines Textes die Position eines anderen Menschen zu erarbeiten, sollte ich jene hermeneutische Nächstenliebe walten lassen. Das heißt, ich versuche die Position erst einmal so zu rekonstruieren, dass sie Sinn ergibt – also wohlwollend. Erst wenn ich das Gefühl habe, halbwegs verstanden zu haben, worum es geht, fange ich an, Widersprüche, Inkonsequenzen, Lücken et cetera zu suchen. Auf eine Debatte übertragen, heißt das, ich versuche die stärkste Lesart der Position meines Gegenübers zu widerlegen – und nicht die schwächste.

Professor Köhler und seinen Unterstützern wurde an mehreren Stellen vorgeworfen, sie würden grundsätzlich bestreiten, dass Luftverschmutzung den Menschen schade. Das ist falsch! Köhler bestreitet auch nicht, dass Stickoxide bei Asthmatikern zu Symptomen führen. Auch wenn der Punkt in der Stellungnahme [4] durchaus missverständlich formuliert ist, meinen die Verfasser meines Erachtens, dass eine ernsthafte Bedrohung für den Menschen durch Feinstaub und Stickoxide, welche die aktuellen Grenzwerte rechtfertigen würde, wissenschaftlich nicht nachgewiesen sei.

Dementsprechend schießen Kritiker Köhlers über das Ziel hinaus, wenn sie seine Position mit der von Flat Earthern vergleichen. So antwortete etwa am 31. Januar 2019 Frau Professor Dr. Claudia Traidl-Hoffmann, Direktorin für Umweltmedizin am Universitätsklinikum Augsburg, auf die Frage von Maybrit Illner im ZDF [5], warum sie sich nicht eher eingemischt habe („Wenn das alles so ein Unfug ist, was diese hundert Lungenärzte da gesagt haben, warum sind Sie eigentlich nicht früher an die Öffentlichkeit gegangen, um das zu kontern?“): „Wissen Sie, das ist so ähnlich, wie wenn jemand sich hinstellt und sagt: ‚Übrigens, ich habe jetzt herausgefunden, die Erde ist doch eine Scheibe und keine Kugel.’ So ungefähr ist diese Behauptung, dass Schadstoffe nicht krank machen.“

Köhler hat auch nicht behauptet, dass Confounder (Störfaktoren) nicht berücksichtigt worden sind, er argumentiert vielmehr, sie seien nicht korrekt gewichtet worden beziehungsweise wirkten so stark, dass sie kaum sinnvoll rauszurechnen sind. Das grundsätzliche Problem dabei ist, dass sich die Luftqualität hierzulande in den letzten Jahrzehnten so sehr verbessert hat, dass die Wirkungen der verbleibenden Schadstoffmengen so gering sind, dass sie sich vor dem Hintergrundrauschen der persönlichen Lebensführung kaum abzeichnen.

In der Talkshow Anne Will vom 27. Januar 2019 erklärte der renommierte Epidemiologe Professor Dr. Heinz-Erich Wichmann den Ablauf, wie die Expertenkommission der EU zu den Grenzwerten kam – und wird dabei nicht müde, auf mangelnde Expertise auf Seiten von Professor Köhler hinzuweisen: „55 Wissenschaftler […], 3 davon aus Deutschland, Herr Köhler gehörte nicht dazu“. Und: „Da sind dann ungefähr 600 Originalarbeiten von Bedeutung für die Schadstoffe, über die wir hier reden, […] Von diesen 600 waren ungefähr 10 Prozent, also um die 60 herum aus Deutschland, aber auf keiner einzigen ist Herr Köhler als Koautor aufgetreten – weil es auch nicht sein Gebiet ist.“ Auch auf ein weiteres Statement Köhlers antwortete Wichmann nicht mit einer sachlichen Antwort, sondern mit einer Aufzählung der Fachgesellschaften, die seine eigene Meinung unterstützen. Damit verschenkte der Wissenschaftler an dieser Stelle die Chance, die Zuschauer mit Argumenten für seine Position zu überzeugen.

Professor Köhlers Punkt, dass Korrelation keine Kausalität belegt, bestätigt die Präsidentin des Umweltbundesamtes, Maria Krautzberger, höchstpersönlich im Presse-Briefing in der Bundespressekonferenz [6]: „Epidemiologische Studien ermöglichen grundsätzlich keine Aussagen über ursächliche Beziehungen. Das ist auch nicht nötig, um ein statistisches Gesamtbild zur Belastung der Bevölkerung zu erhalten. Sie ermöglichen es also nicht, im Einzelfall einen kausalen Zusammenhang zwischen Stickstoffdioxid-Belastung von Herrn Meyer und seiner konkreten Todesursache nachzuweisen. Es gibt eben nicht den vielzitierten ‚Dieseltoten‘, so wie es auch nicht den ‚Zigarettentoten‘ gibt. Aber wir wissen: Die große Anzahl der vorliegenden Studien liefert klare Ergebnisse über die statistischen Zusammenhänge, die Korrelationen zwischen dieser Stickstoffdioxid-Belastung und negativen gesundheitlichen Auswirkungen.“ Nur: Mit einer statistischen Korrelation kann ein Laie wenig anfangen.

Professor Dr. Christian Witt, Hochschullehrer und praktizierender Lungenarzt an der Berliner Charité, formuliert den Dissens im Morning Briefing von Gabor Steingart folgendermaßen [7]: „Es handelt sich um ein Stück neue Medizin, und ich denke, mancher der Kollegen hat die Komplexität und die großen Zusammenhänge nicht gleich und umfänglich verstanden. Das wäre meine einzige sinnvolle Erklärung für den Konflikt.“

Das Problem ist, dass der Laie diese „neue Medizin“ auch nicht nachvollziehen kann. Wenn die gemachten Aussagen nur noch auf Modellrechnungen beruhen, gibt es kein Argument mehr, sondern nur noch ein Ergebnis, dass man nur noch dann halbwegs nachvollziehen kann, wenn man sich ansieht, mit welchen Variablen und Axiomen das Modell „gefüttert“ wurde. Wenn dann noch technische Begriffe aus solchen Modellen eins zu eins in Umgangssprache übernommen werden, ist die Sprachverwirrung vollständig.

Ein Beispiel dafür lieferte eine Untersuchung des Umweltbundesamtes, die die Krankheitslast durch Stickstoffdioxid taxieren sollte [8]. Die Meldung von „6.000 Stickoxid-Toten“ brachte es dann auch prompt im März 2018 zur „Unstatistik des Monats“[9]. In der öffentlichen Debatte geht leider verloren, dass das Konzept der „vorzeitigen Todesfälle“ auf internationaler Ebene dazu entwickelt worden ist, um verschiedene Gesundheitsrisiken vergleichbar zu machen. Eine Aussage über ein konkretes Gefährdungspotenzial ist auf Basis dieser Zahlen kaum möglich. Trotzdem titeln die Medien so, also ob es so wäre.

Und noch ein weiterer Punkt hat mich an der durch Professor Köhler angestoßenen Debatte irritiert: Die der Wissenschaft unmittelbar nachgelagerten Kommunikatoren haben sich sehr schnell und sehr entschieden gegen Professor Köhler und „die Lungenärzte“ gestellt. So konterte etwa der FAZ-Wissenschaftsredakteur Joachim Müller-Jung vollmundig mit der Überschrift „Starker Tobak für die Lungenärzte“ und gab die Experten-Statements wieder, die das Science Media Center zusammengetragen hatte. In diesen Statements ging es allerdings im Wesentlichen darum, dass der Schaden für die menschliche Gesundheit durch Luftverschmutzung gut belegt sei. Das ist aber eine Aussage, die Professor Köhler überhaupt nicht bestreitet.

Auch wurde kaum zur Kenntnis genommen, welche anderen Vertreter aus der Wissenschaft die Thesen der Lungenärzte stützen. Da ist zum einen Professor Dr. Alexander Kekulé, Professor für Medizinische Mikrobiologie und Virologie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, zu nennen. Bereits Anfang November 2018 schilderte er in einem Gastbeitrag für die ZEIT [10] ganz unaufgeregt die Genese der Stickoxid-Grenzwerte – und kommt zu dem Schluss: „Bis heute gibt es keine belastbaren Daten, die den 40-Mikrogramm-Grenz­wert stützen.“ Von dem habilitierten Mathematiker Dr. Peter Morfeld gibt es methodische Kritik [11] an den Modellrechnungen des Umweltbundesamtes zu den 6.000 Stickoxid-Toten. Morfeld hält die dort verwendete Attributable Fraktion für wissenschaftlich nicht angemessen. Zuletzt hatte der Arzt und frühere Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG), Peter Sawicki, in der FAZ die Sinnhaftigkeit von Diesel-Fahrverboten in Frage gestellt [12].

Vielfach wurde der Vorstoß der Lungenärzte als Angriff auf Wissenschaft und Wissenschaftlichkeit verstanden. Diese Kurzschlussreaktionen verkennen, dass zur Forschung immer auch handfeste Gelehrtendispute gehörten und vielleicht auch gehören sollten. Vielleicht ist es auch durchaus heilsam, wenn wissenschaftlicher Mainstream mal hinterfragt wird. So führt die Anwendung der Attributablen Fraktion auf Ammoniak-Emissionen aus der Landwirtschaft zu so irren Schlussfolgerungen wie [13]: „Ein kompletter Stopp sämtlicher Ammoniak-Emissionen könnte theoretisch weltweit sogar 800.000 Menschen vor dem Tod durch Krankheiten bewahren, die durch Luftverschmutzung ausgelöst werden.“ Dumm nur, dass auf der anderen Seite der Rechnung dann Millionen Hungertote auftauchen. Welchen Nutzen haben solche Zahlenverrenkungen, außer Schlagzeilen und reißerische TV-Dokus [14] zu generieren?

Diese Entschiedenheit der Wissenschaftskommunikation habe ich jedenfalls bei anderen Themen vermisst. Als im Jahr 2015 die Debatte um die Verlängerung der EU-Genehmigung des Herbizid-Wirkstoffs Glyphosat losgetreten wurde und zum Teil absurde Vorwürfe gegen das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) vorgebracht wurden, bliebt es relativ still im Blätterwald. Gut, es gab wirklich sehr gute einzelne Beiträge von Wissenschafts-Ressorts, die etwa den vermeintlichen Widerspruch der BfR-Position zu der der Internationalen Agentur für Krebsforschung (IARC) erklärten – aber eben nur einzelne Beiträge. Was jedoch völlig ausblieb, war Empörung angesichts von kruden Vorwürfen gegen eine Bundesbehörde.

Auch der Vorwurf mangelnder Expertise, wie er in der Stickoxid-Debatte ständig gegen Akteure wie Professor Köhler vorgebracht wird, kommt im Disput zur Sicherheit von Glyphosat nicht vor. Hier darf jeder mitreden – egal, ob er oder sie Statistiker ist, zum Ökolandbau forscht, Tiermedizin praktiziert oder für NGOs arbeitet. Anders ist es nicht zu erklären, dass sich zum Beispiel der Vorwurf, das BfR hätte plagiiert, vom Dossier der Hersteller abgeschrieben und damit betrogen, bis heute von NGO-Vertretern sowie Politikerinnen und Politikern von Grünen, Linken und SPD aufrechterhalten wird. Hier haben sich die Vertreter und Vertreterinnen der Wissenschaft nahezu ausnahmslos weggeduckt, als ob man befürchtete, mit in den Abwärtsstrudel der (ver)öffentlich(t)en Meinung gezogen zu werden. Und auch die Wissenschaftskommunikation hat sich weitestgehend vornehm zurückgehalten.

Der Verdacht drängt sich auf, dass es leichter ist, die Forschung zu verteidigen, wenn man auf der Seite des mutmaßlichen Guten steht – in diesem Fall des Umwelt- und Verbraucherschutzes. Das ist menschlich und verständlich, nichtsdestotrotz aber nicht wirklich zu begrüßen. Denn die Wissenschaft sollte ja gerade Objektivität in die Debatten bringen. Wissenschaft kann der Öffentlichkeit und der Politik helfen, die richtigen Schwerpunkte zu setzen.

Ich möchte hier an den US-Krebsforscher Bruce Ames erinnern. In seinem berühmten Aufsatz „The Causes and Prevention of Cancer: The Role of Environment” [15], den er zusammen mit Lois Swirsky Gold verfasst hat, heißt es:

“Risks compete with risks: society must distinguish between significant and trivial risks. Regulating trivial risks or exposure to substances erroneously inferred to cause cancer at low-doses, can harm health by diverting resources from programs that could be effective in protecting the health of the public. Moreover, wealth creates health: poor people have shorter life expectancy than wealthy people. When money and resources are wasted on trivial problems, society’s wealth and hence health is harmed.”

Wer arm ist, hat eine geringere Lebenserwartung. Und deswegen ist es nicht egal, wenn Menschen sich ohne Not aufgrund von Fahrverboten ein neues Auto kaufen müssen und sie dadurch finanziell belastet werden. Diese finanzielle Belastung bedeutet gerade für sozial schwächer gestellte Menschen echten Stress und damit eine veritable Belastung der eigenen Gesundheit. Gerne wird bei der Debatte um Grenzwerte das Vorsorgeprinzip bemüht. „Man müsse auch die Schwächsten, Kinder und Kranke, schützen“ ist eine Forderung, die unweigerlich überzeugt. Aber es gilt auch immer, die Folgen strenger Grenzwerte zu bewerten. Und wenn es durch Fahrverbote zu sozialen Härten kommt, ist die Frage nach Verhältnismäßigkeit durchaus legitim – zumal davon auszugehen ist, dass durch Fahrverbote die insgesamt ausgestoßene Schadstoffmenge steigt, weil Umwege gefahren werden müssen.

Die Politik legt die Grenzwerte fest, die Wissenschaft liefert dafür allenfalls die Vorarbeiten. Dass diese Erkenntnis im Bewusstsein des Publikums geschärft wurde, ist zweifelsohne ein Verdienst der angestoßenen Debatte. Und hier öffnet sich ein Raum, um die Stick­oxid-Grenzwerte oder auch deren Anwendung noch einmal neu zu diskutieren. Der auf den ersten Blick plumpe Vorstoß der Bundesregierung, die Anwendung der Grenzwerte neu zu regeln, erscheint vor diesem Hintergrund gar nicht so unvernünftig.

Bleibt zum Schluss, dass Poppers Kritischer Rationalismus, von dem wir oben ausgegangen waren, nicht unumstritten ist: Wissenschaft funktioniere nach anderen Mechanismen (Thomas Kuhn) oder habe gar keine objektivierbaren Regeln (Paul Feyerabend). Trotzdem sollten wir auch heute noch ein Anliegen Poppers beherzigen: Wissenschaft ist fehlbar! Und doch ist Wissenschaft das Beste, was wir haben, um uns in der Welt zu orientieren und kluge Entscheidungen zu treffen. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass sich Wissenschaft an Regeln hält und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sich selbst als fehlbar begreifen. Der Rückzug darauf, dass man die Mehrheitsmeinung vertrete und sich an geltende Konventionen hält, reicht nicht aus. Man muss seine Methoden auch einer breiten Öffentlichkeit erklären können, wenn die Schlussfolgerungen solche weitreichenden Folgen für die Gesellschaft haben sollen.



Referenzen
Referenzen

[1] https://www.lungenaerzte-im-netz.de/fileadmin/pdf/Stellungnahme_Unterschriftenliste.pdf

[2] Die taz hatte am 14. Februar 2019 berichtet, dass Prof. Köhler sich verrechnet habe. Dieser bestätigte die Korrektur, rückte aber nicht von seinem ursprünglichen Argument ab, das in der Tat auch noch mit den korrigierten Werten funktioniert.

[3] Siehe Bundestags-Drucksache 18/12900, S. 156 ff.

[4] https://www.lungenaerzte-im-netz.de/fileadmin/pdf/Stellungnahme__NOx_und__Feinstaub.pdf

[5] https://www.youtube.com/watch?v=MVJ9wUVYTOY

[6] https://www.youtube.com/watch?v=T9elZtzOo9s

[7] https://www.gaborsteingart.com/newsletter-morning-briefing/aerzte-gegen-aerzte/

[8] https://www.umweltbundesamt.de/no2-krankheitslasten

[9] http://www.rwi-essen.de/unstatistik/77/

[10] https://www.zeit.de/2018/46/stickstoffdioxid-grenzwert-eu-dieselskandal-who-hysterie

[11] https://www.thieme-connect.com/products/ejournals/pdf/10.1055/a-0832-2038.pdf

[12] https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/auto-verkehr/gastbeitrag-von-peter-sawick-dieselfahrverbote-sind-sinnlos-16139641.html

[13] https://www.mpic.de/aktuelles/pressemeldungen/news/weniger-duenger-reduziert-die-feinstaubbelastung.html

[14] https://www1.wdr.de/daserste/monitor/videos/video-feinstaub-durch-landwirtschaft-seit-jahren-verharmlost-100.html

[15] https://toxgate.nlm.nih.gov/cpdb/pdfs/Biotherapy1998.pdf



Zur Autorin

Susanne Günther ist studierte Philosophin und Ex-Redakteurin, heute Landwirtin und Wissenschaftskommunikatorin.


Letzte Änderungen: 15.07.2019