Editorial

Genommedizin Deutschland: Ein Plädoyer

Von Michael Krawczak, Kiel; Olaf Horst Rieß, Tübingen; Roman Siddiqui, Berlin und Hans-Hilger Ropers, Berlin


(15.07.2019) Im internationalen Vergleich hinkt Deutschland bei der Einführung der genombasierten Medizin in unser Gesundheitswesen weit hinterher. Damit sich das ändert, müssten hierzulande gleich einige Weichen umgestellt werden.

Essays
Illustr. : iStock / MHJ

Nach Abschluss eines mehrjährigen, wegweisenden Pilotprojekts [1] hat England im letzten Jahr damit begonnen, die Gesamtgenom-Sequenzierung als universellen diagnostischen Test in die routinemäßige Gesundheitsversorgung einzuführen [2]. Andere Länder sind weltweit dabei, diesem Beispiel zu folgen. Als bevölkerungsreichstes und wirtschaftlich stärkstes Land Europas kann es sich Deutschland nicht leisten, bei dieser für die Zukunft der Medizin so wichtigen Entwicklung zurückzubleiben.

Die Mahnung, der dadurch drohenden Beeinträchtigung von humangenetischer Versorgung und Forschung rasch und entschieden entgegenzutreten, ist Gegenstand eines kürzlich von der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) vorgelegten Positionspapiers [3]. Flankiert wurde die Initiative der KAS durch einen Workshop vom Mai 2019 in Berlin, der gemeinsam von der Technologie- und Methodenplattform für die vernetzte medizinische Forschung TMF e.V. und dem Berliner Max-Planck-Institut für Molekulargenetik organisiert wurde [4]. Bei dieser Veranstaltung berichteten Experten aus England, Frankreich, den Niederlanden und Schweden über ihre Erfahrungen mit den medizinischen, technischen, organisatorischen und wirtschaftlichen Aspekten der genombasierten Medizin. Der vorliegende Essay greift die zentralen Anliegen des KAS-Positionspapiers und des TMF-Workshops auf und leitet daraus ein Plädoyer für die Etablierung einer „Genommedizin Deutschland“ ab.

Genommedizin: Eine Begriffsbestimmung

Es gibt kaum eine andere Technologie, deren Kosteneffizienz sich so rasant entwickelt hat, wie die DNA-Sequenzierung. Während zu Zeiten des humanen Genomprojekts gegen Ende des vergangenen Jahrtausends die Bestimmung eines einzelnen Nukleotids noch mit rund einem Euro zu Buche schlug, bewegen sich die Kosten dafür heute im Bereich von Bruchteilen eines Cents: Das sprichwörtliche 1.000-Dollar-Genom (rund drei Milliarden Nukleotide umfassend) ist längst in greifbare Nähe gerückt. Dieser Preisverfall – verbunden mit der immer einfacher gewordenen Handhabung der erforderlichen Labor- und Datenanalysetechnik – hat nicht nur der humangenetischen Forschung einen enormen Auftrieb vermittelt. In wichtigen Bereichen der medizinischen Versorgung spielt die Untersuchung menschlicher Gene beziehungsweise des menschlichen Genoms schon heute eine maßgebliche Rolle, insbesondere bei der Therapieauswahl in der Onkologie und bei der Diagnostik seltener, zumeist pädiatrischer Krankheiten. Auch auf anderen Gebieten sind hochspezifische Versorgungskonzepte im Sinne einer „personalisierten Medizin“ kaum ohne die umfangreiche Einbeziehung genetischer Analysen vorstellbar. Am Ende dieser Entwicklung zeichnen sich innovative Behandlungs-, Diagnose- und Präventionsansätze ab, die sich passend unter dem Begriff „Genommedizin“ zusammenfassen lassen.

Editorial

Editorial
Genommedizin in der Onkologie

Bei der Behandlung vieler Krebsarten wird die Auswahl der zum Einsatz kommenden Arzneimittel gezielt auf die genetischen Eigenschaften des jeweiligen Tumors abgestimmt – und gestaltet sich dadurch spezifischer und effizienter als ohne den Rückgriff auf genetische Informationen. Jeder Tumor wird durch seine einzigartige Kombination von Mutationen charakterisiert. Diese genetische Einmaligkeit ist einer der Hauptgründe für das unterschiedliche Ansprechen auf viele Tumorbehandlungen, und die Kenntnis der spezifischen Veränderungen eines Tumors liefert den Schlüssel zur Entwicklung optimaler – weil „personalisierter“ – Therapiepläne. So weisen beispielsweise viele nicht-kleinzellige Lungenkrebsarten Mutationen im Gen für den Epidermal Growth Factor Receptor (EGFR) auf. Krebszellen mit diesen Mutationen sprechen wiederum mit größerer Wahrscheinlichkeit auf die Behandlung mit EGFR-Inhibitoren an. Eine solche „pharmakogenetische“ Untersuchung ist unter Umständen auch dann sinnvoll, wenn Krebspatienten in fortgeschrittenen Erkrankungsstadien nicht mehr auf die Standardbehandlung ansprechen – oder wenn es gar keine Standardbehandlung gibt. Beide Male kann die Genetik des Tumors helfen, alternative Behandlungsformen zu identifizieren.

Genetische Untersuchungen erlauben es auch, Personen mit erhöhtem Risiko für bestimmte erbliche Krebsarten frühzeitig zu erkennen. So können etwa Mutationen der BRCA1- oder BRCA2-Gene in normalen Zellen auf eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für Brust- und Ovarialkrebs, aber auch für Prostata- und Bauchspeicheldrüsenkrebs hinweisen. In vielen Fällen lassen sich dann Maßnahmen ergreifen, die das Erkrankungsrisiko von Mutationsträgern reduzieren – beispielsweise eine engmaschigere Vorsorge oder gezielte chirurgische Eingriffe. Da viele Risikovarianten vererbt werden, haben zudem Verwandte von Mutationsträgern ein erhöhtes Risiko, selbst wieder Träger zu sein. Diesen (gesunden) Personen eröffnen genetische Untersuchungen die Option für eine gezielte Vorbeugung der Erkrankung.

Genommedizin für seltene Krankheiten

Bei der diagnostischen Aufklärung seltener, zumeist pädiatrischer Krankheiten ist eine genomweite DNA-Analyse längst unverzichtbar geworden. Die Mehrzahl dieser Krankheiten (etwa 80 Prozent) beruht kausal auf einer einzigen genetischen Veränderung, deren Auffinden und Charakterisierung für die Patienten und ihre Familien von enormer Bedeutung sind. Auch wenn die Identifizierung des zugrundeliegenden genetischen Defekts in vielen Fällen keine direkten therapeutischen Konsequenzen hat, bedeutet schon allein das Wissen um die genaue Krankheitsursache für die Betroffenen eine große Erleichterung und beendet eine oftmals jahrzehntelange diagnostische Odyssee.

Seltene Krankheiten sind nur bei einzelner Betrachtung selten; in der Summe leiden daran etwa fünf Prozent der deutschen Bevölkerung – also drei bis vier Millionen Menschen. Nur bei einem geringen Teil der Patienten liegt die kausale DNA-Veränderung in einem bekannten krankheitsassoziierten Gen; in den verbleibenden Fällen verläuft die Mutationssuche in diesen Genen ergebnislos. Das bedeutet, dass die Sequenzierung spezifischer Gen-Panels, wie sie derzeit in der humangenetischen Diagnostik in Deutschland gebräuchlich ist, für über achtzig Prozent der von einer seltenen Krankheit Betroffenen keine diagnostische Klärung erbringt. Demgegenüber würde die Sequenzierung des gesamten Genoms (Whole Genome Sequencing, WGS) die Aufdeckung nahezu aller Mutationen erlauben, die potenziell als Ursache einer genetisch bedingten Störungen infrage kämen. Eine unmittelbare diagnostische Aufklärung wäre dadurch aktuell bei mehr als der Hälfte der Patienten möglich. Darüber hinaus erfasst die WGS auch seltene oder bislang noch nicht beschriebene Mutationen. Selbst wenn deren diagnostische Relevanz zum Zeitpunkt ihres Auffindens unklar ist, lassen sich solche Varianten später als Ursache einer konkreten Erkrankung identifizieren, wenn sie bei anderen Patienten mit vergleichbarem Krankheitsbild nachgewiesen werden. Und schließlich spielen Veränderungen in nicht-kodierenden Genomabschnitten, die sich weder durch Panel-Sequenzierung noch mithilfe der gezielten Untersuchung der kodierenden Anteile des Genoms (Whole Exome Sequencing, WES) identifizieren lassen, als Krankheitsursache eine weitaus größere Rolle als bislang angenommen. Somit bietet sich die WGS besonders für die Diagnose seltener Erkrankungen als Methode der Wahl an.

Internationaler Stand

Als erstes EU-Land hat England im Jahr 2018 die WGS als Standardverfahren in die genetische Diagnostik eingeführt. Vorreiter hierfür war das 2012 initiierte Projekt Genomics England [1], das die Sequenzierung von 100.000 Genomen vorsah und sich dabei ganz auf seltene Krankheiten und Krebs konzentrierte. Bis April 2019 waren knapp 110.000 Genome von Patienten sequenziert, wovon circa 85.000 von seltenen Krankheiten betroffen waren und rund 25.000 aus der Onkologie kamen. Im Rahmen des Programms France Médecine Génomique [5], das sich eng am englischen Modell orientiert, hat Frankreich soeben die ersten beiden von zwölf geplanten Zentren für medizinische Genomsequenzierung eröffnet. Die humangenetische Forschung soll durch Gründung eines nationalen Zentrums für Genommedizin vorangetrieben werden, zu dessen Aufgabe auch die industrielle und kommerzielle Verwertung wissenschaftlicher und technischer Innovationen gehört. An einigen klinisch-genetischen Zentren in den Niederlanden ist die WGS bereits seit Längerem in die Routinediagnostik integriert.

Noch ambitionierter als diese Beispiele aus der EU ist das 2015 gestartete Precision Medicine Program der USA, das in seiner technologischen und gesellschaftlichen Bedeutung bereits mit der ersten Mondlandung verglichen wird. Vor zwei Jahren hat auch China ein eigenes Präzisionsmedizin-Programm mit einem Budget von 9,2 Milliarden US-Dollar und einer Laufzeit von 15 Jahren auf den Weg gebracht. Erklärtes Ziel dieses Vorhabens ist es, China in der personalisierten Medizin ebenfalls zur weltweit führenden Nation zu machen.

Die Situation in Deutschland

In Deutschland wurde das kommende Jahrzehnt zur „Dekade des Krebses“ ausgerufen, was die Perspektiven der onkologischen Forschung und Versorgung im Land zweifellos verbessern dürfte. Bei der systematischen Erforschung seltener Krankheiten liegt Deutschland jedoch international weit zurück. Daran haben auch die Anstrengungen des Nationalen Aktionskomitees für Menschen mit seltenen Erkrankungen (NAMSE) und der Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen (ACHSE) nur wenig ändern können. So zielt zwar das vom Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) finanzierte Projekt Translate-NAMSE [6] darauf ab, an vier von neun der beteiligten universitären Zentren die DNA von insgesamt tausend Patienten und ihren Eltern zu sequenzieren, um so die diagnostische Brauchbarkeit der Sequenzierung zu erproben. Es handelt sich bei Translate-NAMSE jedoch um ein auf drei Jahre angelegtes Pilotprojekt, dessen nachhaltige Fortführung fraglich ist – und das sich zudem auf die Sequenzierung von Exomen beschränkt. Ein kürzlich in Bayern aufgelegtes Forschungsprojekt verfolgt das Ziel, die gesamten Genome von tausend weiteren betroffenen Trios zu sequenzieren. Angesichts von Millionen Patienten in Deutschland, die von einer umfassenden genetischen Untersuchung profitieren könnten, kann jedoch beides nur einen „Tropfen auf den heißen Stein“ bedeuten. Im internationalen Vergleich sind die Fallzahlen der Projekte jedenfalls vernachlässigbar gering.

Akademisch spielt die Humangenetik in Deutschland aktuell nur eine bescheidene Rolle. Viele universitäre Institute sind nicht hinreichend ausgestattet, um die rasant voranschreitenden Möglichkeiten der klinischen und der Grundlagenforschung zu nutzen und gleichzeitig die humangenetische Krankenversorgung sicherzustellen. Während der diagnostische Bedarf enorm zugenommen hat, wurden einige Institute in jüngster Zeit sogar geschlossen oder sind von der Schließung bedroht. Einen Großteil der genetischen Beratungen führen in Deutschland niedergelassene Humangenetiker durch, die – trotz unbestrittener fachlicher Kompetenz – wegen der Vielzahl der genetisch bedingten Störungen mit dem Management dieses komplexen Patientenguts oftmals überfordert sind. Zudem führen sie die DNA-Sequenzierungen nicht selbst durch, sondern geben sie in Auftrag.

Vieles spricht also dafür, die genetische Krankenversorgung in Deutschland stärker zu bündeln und eng an starke Forschungskapazitäten zu knüpfen. Umso überraschender ist es, dass sich die genommedizinischen Überlegungen des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF), beispielsweise in seiner Hightech Strategie 2025, auf häufige Krankheiten zu konzentrieren scheinen [7]. Diese Fokussierung schreibt leider alte und bereits umfangreich kritisierte Konzepte fort (Stichwort „Erforschung von Volkskrankheiten“), ohne aktuelle internationale Entwicklungen der angewandten Genomforschung angemessen zu berücksichtigen.

Was ist zu tun?

Die Prioritäten in der biomedizinischen Forschung und Krankenversorgung müssen gründlich überdacht und neu gesetzt werden. Um in der humangenetischen Forschung und Versorgung international nicht den Anschluss zu verlieren, ist eine Reihe nationaler Maßnahmen erforderlich, die angesichts der Bedeutung der Genommedizin für Patienten, ihre Familien und die Gesellschaft als Ganzes keinen zeitlichen Aufschub dulden. Bei der Planung und Umsetzung dieser Schritte sollte sich Deutschland (zunächst) ebenfalls auf zwei Bereiche fokussieren: Krebs und seltene Krankheiten.

Um die Erfassung, klinische Charakterisierung und genetische Betreuung der Betroffenen auf international kompetitivem sowie qualitativ und quantitativ hohem Niveau zu gewährleisten, bietet sich – insbesondere im Fall der seltenen Krankheiten – die flächendeckende Vernetzung hierfür spezialisierter genommedizinischer Zentren an. Schritt für Schritt sollten dafür existierende Einrichtungen wie etwa die universitären humangenetischen Institute geeignet aus- und umgebaut werden. Die Erbringung genetischer Laborleistungen wie zum Beispiel des WGS würde aus Kosten- und Qualitätsgründen idealerweise an wenigen Standorten mit einheitlicher apparativer und methodischer Ausstattung erfolgen, die ihre Resultate anschließend informationstechnisch zusammenführen. Die Auswahl der Standorte genommedizinischer Zentren sollte sich neben logistischen und geografischen vor allem an Qualitätsaspekten orientieren, wobei auf bereits vorhandene Infrastrukturen zurückgegriffen werden könnte, wenn dies sinnvoll und möglich ist. Die Etablierung einer Dateninfrastruktur für die standardisierten klinischen Befunde und die zugehörigen genetischen Untersuchungsergebnisse, ob in Form einer zentralen Datenbank oder durch die Vernetzung lokaler Lösungen, muss zur Sicherstellung der Interoperabilität eng mit nationalen Stakeholdern wie beispielsweise der Medizininformatik-Initiative des BMBF und dem Deutschen Netzwerk Bioinformatik abgestimmt werden.

In Deutschland besteht ein ausgeprägter Mangel an Spezialisten, die den klinischen sowie labor- und informationstechnischen Anforderungen der Genommedizin gerecht werden können. So ist etwa die Dichte beruflich aktiver Humangenetiker, bezogen auf die Bevölkerungsgröße, mit 1:200.000 so ungünstig wie in kaum einem anderen EU-Land (in den Niederlanden ist das Verhältnis mehr als dreimal so hoch). Dieser Fachkräftemangel verlangt die Schaffung zusätzlicher, angemessen dotierter Stellen, die an den hier geforderten genommedizinischen Zentren angesiedelt sein müssten, damit eine enge Interaktion mit anderen an der Patientenversorgung beteiligten Fachleuten sichergestellt ist.

Über die Gewinnung von Nachwuchs hinaus wird sich zudem ein erhöhter Aus- und Weiterbildungsbedarf im Bereich der bioinformatischen Analyse und klinischen Interpretation genomischer Daten ergeben. Neben lokalen Schulungsmöglichkeiten könnten hierbei zentrale Angebote wie zum Beispiel die Akademie der deutschen Gesellschaft für Humangenetik eine wichtige Rolle spielen. In jedem Fall ist die Behebung der aktuellen personellen Engpässe eine wesentliche Voraussetzung für die erfolgreiche Entwicklung des skizzierten Netzwerks leistungsfähiger genommedizinischer Zentren.

Kostenüberlegungen

Modellrechnungen zeigen, dass eine breite diagnostische Einführung der WGS im Rahmen der Vernetzung kompetenter Zentren zu massiven Einsparungen im Gesundheitswesen führen würde. Untersuchungen des Imperial College London zufolge sind die jährlichen Aufwendungen für die Versorgung von Patienten mit seltenen Krankheiten vor der Diagnosestellung mehr als doppelt so hoch wie danach. Die hierbei in Deutschland durch WGS-basierte Diagnostik zu erwartenden Einsparungen würden demnach zwischen einer und zwei Milliarden Euro pro Jahr liegen – ein Betrag, der sich im Laufe der Zeit durch die erfolgreiche Erforschung seltener Krankheiten noch erhöhen dürfte. Demgegenüber würde die WGS in Deutschland angesichts rund 30.000 Neugeborener mit klinischem Verdacht auf eine seltene Krankheit nur jährlich 150 Millionen Euro kosten (bei Zugrundelegung aktueller Marktpreise). Die rasche und strukturierte Einführung der WGS erscheint deshalb nicht nur unter dem Aspekt der besseren Krankenversorgung, sondern auch aus finanzieller Sicht ein Muss.

Ausblick

Es bedarf wenig Phantasie sich vorzustellen, wie tiefgreifend die Einführung der Genommedizin unser Gesundheitswesen beeinflussen wird – vorausgesetzt, dass sich Deutschland dieser Entwicklung nicht vollständig verschließt. Neben der notwendigen Umverteilung von Kosten und Ressourcen werden schon allein die verbesserten Therapie-, Diagnose- und Präventionsmöglichkeiten weite Teile des Systems vor große Herausforderungen stellen. Wir sind darauf in Deutschland nicht gut vorbereitet! Auch wenn einige Krankenkassen und das Bundesministerium für Gesundheit die Dringlichkeit des Handelns erkannt haben und zielgerichtet genommedizinische Projekte unterstützen, kann dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass ungleich größere Anstrengungen erforderlich sind, damit Deutschland bei dieser wichtigen Zukunftstechnologie nicht auf dem Stand eines Entwicklungslandes verharrt.

Genomics England und andere haben es vorgemacht: Angesichts der überzeugenden Ergebnisse und Erfahrungen, die in diesen Projekten gemacht wurden, steht der Mehrwert der WGS außer Frage. Ihre Einführung in die Krankenversorgung dient den Patienten und verspricht langfristig erhebliche Kosteneinsparungen. Daher gilt es, die technischen und organisatorischen Blaupausen aus anderen Ländern für die Etablierung einer Genommedizin hierzulande rasch und nachhaltig zu erschließen und an die nationalen Rahmenbedingungen anzupassen. Auf Seiten der künftigen Leistungserbringer bedeutet dies, umgehend Kriterien zu entwickeln und abzusegnen, anhand derer (einige wenige) WGS-Zentren und eine sinnvolle Anzahl genommedizinischer Zentren ausgewählt sowie geplant und aufgebaut werden können.

Die Bundesländer als Träger der Universitäten stehen in der Pflicht, die notwendige apparative und personelle Infrastruktur qualifizierter Einrichtungen in ihren Zuständigkeitsbereichen zu schaffen und zu verbessern. Auf Seiten der Kostenträger muss eine Meinungsbildung und Beschlussfassung zur Einführung der WGS in die Krankenversorgung bei gleichzeitiger Definition stringenter Auflagen bezüglich Art und Umfang der daran beteiligten genommedizinischen Zentren erfolgen.

Idealerweise sollten all diese Anstrengungen in einem dauerhaften Expertenforum gebündelt werden, das ähnlich der Human Genomics Strategy Group in England einen Fahrplan für die „Genommedizin Deutschland“ entwickelt und dessen Umsetzung in die Praxis beratend und mitsteuernd begleitet. Es ist höchste Zeit, Sorge dafür zu tragen, dass die genombasierte Versorgung und Forschung in Deutschland wieder Augenhöhe mit den Aktivitäten unserer Nachbarländer erlangt.

Referenzen

[1] https://www.genomicsengland.co.uk/ (letzter Zugriff: 13. Juni 2019)

[2] https://www.england.nhs.uk/genomics/nhs-genomic-med-service/ (letzter Zugriff: 13. Juni 2019)

[3] https://www.kas.de/genomsequenzierung

[4] http://www.tmf-ev.de/News/articleType/ArticleView/articleId/4427.aspx (letzter Zugriff: 13. Juni 2019)

[5] https://aviesan.fr/en/aviesan/home/aviesan-news/launch-of-the-first-two-platforms-of-the-french-plan-for-genomic-medicine-2025 (letzter Zugriff: 13. Juni 2019)

[6] https://translate-namse.charite.de/ (letzter Zugriff: 13. Juni 2019)

[7] https://www.bmbf.de/de/die-neue-hightech-strategie-86.html (letzter Zugriff: 13. Juni 2019)



Zu den Autoren

Michael Krawczak leitet das Institut für Medizinische Informatik am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein in Kiel und ist Vorstandsvorsitzender der Technologie- und Methodenplattform für die vernetzte medizinische Forschung TMF e.V. in Berlin.

Olaf Horst Rieß leitet das Institut für Medizinische Genetik und Angewandte Genomik am Universitätsklinikum Tübingen.

Roman Siddiqui ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Geschäftsstelle der TMF e.V. in Berlin.

Hans-Hilger Ropers ist Direktor am Max-Planck-Institut für Molekulargenetik in Berlin.


Letzte Änderungen: 15.07.2019