Editorial

Im Nebel ungesicherten Wissens

Von Wilhelm Krull, Hamburg


(07.07.2020) Wissenschaft, Öffentlichkeit und Politik sind wegen der Corona-Pandemie im Ausnahmezustand. Aber was kommt danach? Welchen Platz wird die Wissenschaft in der Post-Corona-Gesellschaft haben?

Mitte Mai 2020. Seit Wochen hält uns ein Virus in und außer Atem. SARS-Cov-2 und die von ihm ausgelöste Atemwegserkrankung COVID-19 führen uns auf drastische Weise vor Augen, wie verletzlich unser aller Zusammenleben sein kann, wie unsicher wir uns auf einmal fühlen – und wie viele Entscheidungen von jedem Einzelnen, vor allem aber von den politisch Verantwortlichen in großer Ungewissheit zu treffen sind. Zugleich verspüren immer mehr Menschen eine starke Sehnsucht nach Flucht- und Auswegen aus der offenbar weiter anhaltenden, durch immense Bedrohungsszenarien und Kontaktsperren geprägten Krise.

Eine Einladung – ein Thema...

Als mich Anfang Februar 2020 die Einladung erreichte, einen Beitrag für die diesjährige Essay-Sonderausgabe des Laborjournals zu verfassen, erschien mir das Thema „Wissenschaftsfreiheit und Demokratie in populistisch geprägten Zeiten“ besonders naheliegend zu sein. Anlässe gab es schließlich genug:

  • das allgemein – auch in Deutschland – sinkende Vertrauen in die Unabhängigkeit der Wissenschaft;
  • die seit geraumer Zeit stark zunehmenden Angriffe auf jede Art von wissenschaftlicher Expertise (man denke nur an das Verdikt „We’ve had enough of experts!“ des britischen Politikers Michael Gove), insbesondere aus rechtsnationalistischen Kreisen;
  • und die Aushöhlung wissenschaftlicher Autonomie, elementarer Bürgerrechte sowie der institutionellen Gewaltenteilung durch dereinst demokratisch gewählte Regierungen, die – auch in EU-Europa – zu autoritären Regimen mutiert sind.

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Foto: Pixabay/wiselywoven ; Montage: LJ

Schon seit einigen Jahren lässt sich beobachten, dass es in der Öffentlichkeit rumort, wenn es darum geht, die vielfältigen Schnittstellen zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und Politik zu beleuchten. Dabei zeigt sich, dass es weniger das Misstrauen in die Fachkompetenz der Wissenschaft ist, sondern Zweifel daran, dass die Forschungsziele sich hinreichend am Gemeinwohl orientieren. Abgesehen von – zum Glück seltener gewordenen! – Datenmanipulationen, vorschnellen Veröffentlichungen und Plagiatsfällen, sind es auch weniger die Befürchtungen, dass etwa die Regeln und Standards guter wissenschaftlicher Praxis missachtet würden. Die Skepsis in weiten Teilen der Öffentlichkeit gegenüber der für Forscherinnen und Forscher handlungsleitenden, methodisch fundierten und ergebnisoffenen Suche nach neuen Erkenntnissen liegt vielmehr darin begründet, dass sie „stark abhängig von ihren Geldgebern sind“ (siehe Wissenschaftsbarometer 2017) – oder aufgrund der über die letzten zwei Jahrzehnte um das Dreifache angestiegenen Anteile von Drittmitteln am Gesamtbudget für universitäre Forschung zumindest so unfrei erscheinen.

Nur allzu häufig klaffen im Verhältnis von Wissenschaft und Öffentlichkeit Selbst- und Fremdwahrnehmung auseinander. Die enorme Ausweitung der Aktivitäten, der beispiellose Auf- und Ausbau der Pressestellen, Marketingabteilungen und Event-Agenturen in nahezu allen deutschen Hochschulen und Wissenschaftsorganisationen hat keineswegs dazu geführt, dass über eine enorme Steigerung des Outputs an Broschüren, Newslettern und Social-Media-Aktivitäten hinaus tatsächlich eine größere Vertrauensbildung stattgefunden hätte. Die meisten der auf diesen Kanälen verbreiteten Informationen werden in der Öffentlichkeit ohnehin vorwiegend als „Werbung in eigener Sache“ wahrgenommen und mehr oder weniger rasch beiseite gelegt.

Authentischer und wirkungsvoller erscheinen da schon Formate, in denen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit ihrer Fachkompetenz selbst zu Wort kommen. Für sie gibt es jedoch wenig Anreize, sich in puncto Wissenschaftsvermittlung zu engagieren. Zwar wurde bereits vor mehr als zwanzig Jahren im PUSH-Memorandum der führenden Wissenschaftsorganisationen gefordert, dass Wissenschaftskommunikation als ein „zusätzliches Merkmal wissenschaftlicher Reputation“ etabliert werden sollte. Bis heute gibt es – abgesehen von vereinzelten Preisen und Auszeichnungen – jedoch keine Anzeichen, dass sich dies nachhaltig geändert hätte.

Erschwerend kommt hinzu, dass die meisten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ihre Fähigkeiten, natur- und technikwissenschaftliche Forschungsergebnisse für Laien verständlich kommunizieren zu können, bei weitem überschätzen. Während laut einer Allensbach-Umfrage neunzig Prozent von ihnen voll von ihrem eigenen Talent in puncto Wissenschaftsvermittlung überzeugt sind, trauen ebenfalls befragte Journalistinnen und Journalisten gerade mal zwölf Prozent von ihnen tatsächlich die Fähigkeit zur allgemeinverständlichen Vermittlung ihrer Erkenntnisse zu. Mit Blick auf die weitere Entwicklung der Wissenschaftskommunikation durch direkte Interaktion zwischen Forschung und interessierter Öffentlichkeit ist immerhin festzustellen, dass die entsprechenden Fortbildungsangebote sowohl der Hochschulen und Wissenschaftsorganisationen wie auch der privaten Stiftungen seit einigen Jahren stark nachgefragt werden und häufig sehr schnell ausgebucht sind.

Wenn es um Wissenschaftsvermittlung und die Förderung von Scientific Literacy geht, kommt unweigerlich die Rolle des Wissenschaftsjournalismus ins Spiel. Hierzu ist freilich festzustellen, dass sich eigenständige Wissenschafts-Ressorts – vor allem in den Redaktionen der Regionalzeitungen, mittlerweile aber auch in den „Qualitätsmedien“ – allenthalben auf dem Rückzug befinden und bisweilen sogar mit der jeweiligen Lokalredaktion zusammengelegt wurden. Auch der öffentlich-rechtliche Rundfunk nimmt die Aufgabe einer anspruchsvollen Wissenschaftsberichterstattung nur unzureichend wahr. Im Budget der öffentlich-rechtlichen Anstalten beträgt der Etat für Wissenschaft und Forschung gerade mal 0,07 Prozent.

All dies hat dazu geführt, dass bereits vor einigen Jahren die Debatte über eine gemeinnützigkeitsrechtliche Anerkennung der Förderung des Wissenschaftsjournalismus eröffnet wurde, an der ich mich auch selbst beteiligt habe – nicht zuletzt mit Blick auf die Schaffung der rechtlichen und finanziellen Voraussetzungen für die Errichtung einer Stiftung zur Förderung des Wissenschaftsjournalismus, über die in diesen Tagen erfreulicherweise erneut diskutiert wird (vgl. Ernst Dieter Rossmann: „Wissenschaftskommunikation nach der Krise – eine politische Einschätzung.“ E-Paper der Friedrich-Ebert-Stiftung vom 6. Mai 2020). Tatsächlich scheinen viele Entscheidungsträger die systemrelevante Funktion der Wissenschaftskommunikation und nicht zuletzt des Wissenschaftsjournalismus insbesondere für einen rationalen Umgang mit der Corona-Krise entdeckt zu haben.

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Foto: Pixabay/goodlynx ; Montage: LJ

Im Live-Experiment – zersplitterte Perspektiven...

In einer Art globalem Live-Experiment scheint derzeit auf allen Kontinenten „die Stunde der Forscher“ zu schlagen. Vor allem Virologen, Epidemiologen und Pneumologen sind innerhalb weniger Tage nicht nur in der Politikberatung, sondern auch in diversen Medien zu großer Präsenz und – zumindest einige von ihnen – auch zu erheblicher Prominenz gelangt. Die bisweilen höchst unterschiedlichen Einschränkungen und Empfehlungen der wissenschaftlich-medizinischen Chefberater ausländischer Regierungen wie etwa Anthony Fauci (USA), Jean-François Delfraissy (Frankreich), Chris Whitty (Großbritannien), Fernando Simón (Spanien), Angelo Borrelli (Italien) und nicht zuletzt der beiden schwedischen Experten Johan Carlson und Anders Tegnell (wegen des Verzichts auf den dortigen Lockdown) fanden und finden auch in deutschen Medien vielfach große Aufmerksamkeit – vor allem in Video-Statements und Interviews.

Die täglichen Pressekonferenzen des Robert-Koch-Instituts haben dessen Präsidenten, den Veterinärmediziner Lothar Wieler, als „Herrn der Zahlen“ profiliert und zu einem gern gesehenen Gast in Funk und Fernsehen gemacht. Als „geduldiger Erklärer“ hat sich mit seinem NDR-Podcast „Coronavirus – Update“ (mit mehr als 45 Millionen Abrufen!) Christian Drosten, Direktor am Institut für Virologie der Berliner Charité, zum meistnachgefragten Experten in den Medien entwickelt.

Auf andere Weise, nämlich als Kritiker des Robert-Koch-Instituts sowie mit einer Studie über Verlauf und Verbreitung der Corona-Infektionen in der Gemeinde Gangelt im gleich zu Beginn stark betroffenen Kreis Heinsberg, hat sich Hendrik Streeck, Direktor des Instituts für Virologie am Universitätsklinikum Bonn, große Aufmerksamkeit verschafft. In diversen Online-Medien, aber auch – unterstützt von einer Beratungsagentur – in Talkshows wie etwa „Markus Lanz“ verbreitete er bereits weit vor der Veröffentlichung eines ersten Originalartikels weitreichende Schlussfolgerungen mit Blick auf eine wesentlich höhere Infiziertenzahl und eine weitaus niedrigere Sterberate als allgemein angenommen (nämlich nur 0,37 %). Offenbar konnte er dem Drängen der Politik nach schnellen Ergebnissen nicht widerstehen – und wurde dafür von der Fachwelt und den Qualitätsmedien heftig kritisiert, ja geradezu abgestraft; denn anhand einer relativ kleinen Gemeinde von gut 900 Einwohnern auf die Gesamtsituation in Deutschland zu schließen, erschien vielen doch allzu gewagt.

Das Bedürfnis von Politik und Öffentlichkeit nach möglichst fundiertem, aber vor allem schnellem Rat stellt die Zuverlässigkeit und Funktionsfähigkeit der wissenschaftlichen Expertensysteme auf eine harte Probe. Gesicherte Erkenntnisse aus vorangegangenen Studien, auf denen man verlässlich aufbauen könnte, liegen derzeit nicht vor. Ein Ausweg scheint daher besonders populär zu werden: nämlich die Vorläufigkeit der Ergebnisse selbst anzuzeigen und sie zugleich anderen Forscher(innen) so früh wie möglich zur Verfügung zu stellen, indem man sie auf Online-Plattformen deponiert. Allein auf den Preprint-Servern des Cold Spring Harbor Laboratory waren bereits Ende März 2020 mehr als 760 Artikel verzeichnet (darunter vierzig Prozent aus China).

Die ungeheure Vielfalt der Informationen, die aus unterschiedlichen Quellen zusammengestellten Daten, die oftmals schwer durchschaubaren Modellrechnungen und die nahezu stündlich neu produzierten Grafiken und Bilder bedeuten für Politik und Öffentlichkeit jedoch keineswegs mehr Gewissheit. Das Anhäufen weiterer Details scheint geradezu den Blick auf das Ganze zu verstellen und die Lage von Tag zu Tag unübersichtlicher werden zu lassen. Die aus der Wissenschaft kommenden, oftmals mit dem Gestus großer Gewissheit vorgetragenen Schlussfolgerungen und Handlungsempfehlungen ähneln immer mehr bloßen Meinungsäußerungen der jeweils Beteiligten. Sie werden nicht nur zunehmend heterogener, sondern auch immer widersprüchlicher. Was gestern noch als gesichert galt (beispielsweise in puncto Atemmasken), wird schon heute – oft sogar von denselben Experten – wieder infrage gestellt.

Trotz vieler – in der Zeit vor Corona mehr oder weniger direkt sanktionierter – Ungereimtheiten, Korrekturen, Widersprüche und Kehrtwendungen sowohl in den Ratschlägen der Experten als auch in den Entscheidungen der jeweiligen Regierenden lässt sich derzeit jedoch nicht feststellen, dass das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Ratio von Wissenschaft und Politik erschüttert wäre. Im Gegenteil: Selbst kritische Geister räumen ein, dass im Nebel ungesicherten Wissens und mangels Orientierungspunkten aus früheren Untersuchungen das derzeit allenthalben praktizierte „Fahren auf Sicht“, mitsamt der Bereitschaft, Strategien, Regeln und Verfahren fortlaufend anzupassen, wohl unvermeidlich erscheint. Das spiegelt sich auch im neuesten Wissenschaftsbarometer der Initiative „Wissenschaft im Dialog“ wider, wonach 73 Prozent der Befragten angeben, Wissenschaft und Forschung zu vertrauen (in den letzten Jahren lag der Wert bei etwa 50 Prozent).

Da es an umfassend tragfähigen Vergleichsfällen fehlt, können auch seitens der Geistes- und Gesellschaftswissenschaften lediglich für einzelne Facetten der gegenwärtigen Pandemie historische Analogien gebildet werden (wie zum Beispiel die „Spanische Grippe“ von 1917/18 oder die Weltwirtschaftskrise von 1929). Deren jeweils ganz andere Ausgangs- und Rahmenbedingungen führen freilich dazu, dass in der Regel nicht mehr als Statistiken und Prozentzahlen (etwa mit Blick auf Infiziertenzahlen, Sterberaten und Konjunktureinbrüche) zum Vergleich übrigbleiben. Noch scheinen jedoch auch sie geeignet zu sein, zur sachlichen Einordnung der derzeitigen Entwicklung beizutragen und sogar in wirtschaftlicher Hinsicht ein gewisses Maß an Hoffnung und Zuversicht zu verbreiten – trotz exorbitant hoher Arbeitslosenzahlen, etwa in den USA, und weiter ansteigender Rezessions- und Konkursdrohungen. Zumindest die Aktienmärkte spiegeln dies wider, was allerdings wohl mehr aus den Erwartungen an die zig-Milliarden- bis -Billionen-schweren Konjunkturprogramme und ihren Folgewirkungen zu erklären sein dürfte.

Trotz Risiken und Nebenwirkungen: Was ist zu tun?

Momentan fällt es vielen von uns offenbar schwer, den unbequemen Tatsachen und Handlungserfordernissen der Pandemie ins Auge zu sehen. Schon Ende März tauchte in den Medien das böse Wort von der „Virokratie“ auf. Und einige Wochen später erhalten Experten wie Christian Drosten, die immer wieder zur Vorsicht und zum behutsamen, schrittweisen Vorgehen beim Aufheben des Lockdowns raten, sogar Morddrohungen. Immer lauter werden inzwischen Stimmen aus Wirtschaft und Politik, die vor allem die ökonomischen und sozialen Folgen der Kontaktsperren-Strategie hervorheben und eine andere Art der Risikobewertung fordern – häufig unter Zuhilfenahme von unzulänglichen Vergleichen mit früheren Grippe-Epidemien. Die scheinbar beliebig zu verwendende Indikatorik und eine Art Kuhhandel um Prozent- und Verhältniszahlen, etwa in den Telefonkonferenzen zwischen der Bundeskanzlerin und den Ministerpräsidenten der Länder, tun ein Übriges, um die Geduld vieler Bürgerinnen und Bürger dieses Landes überzustrapazieren. Inzwischen macht gar das Wort vom „Präventionsparadox“ die Runde: Je wirksamer die vorbeugenden Maßnahmen, desto weniger werden sie rückblickend im Laufe der Zeit als angemessen betrachtet.

Allenthalben wird deutlich, dass es an Risikokompetenz und Datensouveränität im Sinne einer „Data Literacy“ und nicht zuletzt an Wissenschafts- und Datenjournalisten fehlt. Letzteres hat sich trotz impulsgebender Förderungen durch private Stiftungen in den Jahren zuvor nicht wesentlich geändert, muss aber dringend auf die Agenda von Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft gesetzt werden.

Darüber hinaus hat die Corona-Krise uns auf drastische Weise vor Augen geführt, wie anfällig globalisierte Gesellschaften für unvorhergesehene, unplanbare und zumindest kurzfristig kaum zu beeinflussende Ereignisse samt den mit ihnen einhergehenden Schockwellen geworden sind. Neben Versorgungsengpässen bei Beatmungsgeräten, Schutzkleidung und aufgrund unterbrochener Lieferketten entstandener Produktionsausfälle rücken dabei auch die vielfach vernachlässigten sozialen Folgekosten unseres privilegierten Lebensstils verstärkt in den Blick: so etwa die untragbaren Zustände in Flüchtlings- und Asylbewerberheimen, in Altenheimen und nicht zuletzt in den Massenunterkünften ausländischer Leiharbeiter, wie sie offenbar quer durch Deutschland in Schlachthöfen zu Dumping-Löhnen beschäftigt werden (und bereits in mehreren Landkreisen einen erneuten Lockdown erzwungen haben).

Insgesamt gesehen kommt zur Zeit eine systemische Betrachtung der Pandemie und ihrer Auswirkungen auf die gesellschaftliche Entwicklung (noch) zu kurz. Die fortschreitende Fragmentierung der wissenschaftlichen Forschung in immer mehr Spezialdisziplinen befördert zugleich die Zersplitterung der jeweiligen Sichtweisen und Schlussfolgerungen, die zudem im öffentlichen Diskurs nur allzu häufig mit persönlichen Vorlieben, Vorurteilen und handfesten Interessen verknüpft werden.

Die tiefgehenden Konsequenzen der gegenwärtigen Krise können nur angemessen erfasst werden, wenn in allen relevanten Zweigen der Wissenschaft die Bereitschaft besteht, nicht nur fachübergreifend zusammenzuarbeiten, sondern auch gemeinsam integrative Perspektiven zu eröffnen. Dies schließt in weitaus höherem Maße als bisher die Einbeziehung der Geistes- und Gesellschaftswissenschaften ein, deren „Unvermeidlichkeit“ in einem sich rasant entwickelnden, vor allem naturwissenschaftlich-technisch geprägten Umfeld der Philosoph Odo Marquard bereits vor mehr als dreißig Jahren hervorgehoben hat. Offenheit für fachübergreifende Zusammenarbeit, Innovations- und Risikobereitschaft gepaart mit dem Mut, unbekanntes Terrain zu erkunden, die Dinge genau zu betrachten, intensiv wahrzunehmen und detailliert zu analysieren sowie die gemeinsamen Erkenntnisziele hartnäckig zu verfolgen, gehören zu den wichtigsten Erfolgsvoraussetzungen für das Erreichen von wissenschaftlichem und gesellschaftlichem Neuland.

Wenn wir auf verantwortliche Weise die Zukunft gestalten wollen, dann reicht es keineswegs aus, seitens der Wissenschaft Analysen, Handlungsoptionen und deren mögliche Implikationen aufzuzeigen. Es wird vielmehr darauf ankommen, durch eine intensive Beteiligung von Politik und Öffentlichkeit von vornherein auch die Vermittelbarkeit und Durchsetzbarkeit transformativer Konzepte in den Blick zu nehmen. Alle Beteiligten müssen bereit sein, sich auf einen gemeinsamen Klärungsprozess einzulassen, der sowohl die ergebnisoffene Erkenntnissuche seitens der Wissenschaft als auch die pragmatischen Entscheidungserfordernisse der Politik mitsamt deren Umsetzung in staatliches Handeln als strukturelle Rahmenbedingungen einer erfolgreichen Interaktion akzeptiert.

Wenn die Wissenschaft ihren Platz in der Post-Corona-Gesellschaft behaupten will, dann muss sie der Öffentlichkeit gegenüber kritikfähig sein und neue, dialogische Interaktionsformen entwickeln, die zugleich dazu angetan sind, die bislang vorherrschenden Asymmetrien in der Kommunikation zwischen wissenschaftlichen Experten und interessierter Öffentlichkeit zu überbrücken oder zumindest abzumildern. Solche Asymmetrien zu überwinden, beginnt zunächst einmal damit, sorgfältig zuzuhören, wenn die übrigen Mitglieder der Gesellschaft zur Wissenschaft sprechen.

Nur so kann es gelingen, gemeinsam mit der Öffentlichkeit und der Politik die in der Krise – zumindest partiell – zurückgewonnenen Gestaltungschancen auch künftig tatkräftig zu nutzen. Von derzeit vorwiegend angstgesteuertem Anpassen des Verhaltens müssen wir über kurz oder lang zu einer nachhaltig wirksamen, vernunftgesteuerten Umwelt-, Klima- und Sozialpolitik gelangen, die zugleich jeden Einzelnen von uns veranlasst, neue Kriterien des Wohlbefindens und attraktive Zukunftsbilder zu entwickeln sowie eine daraus abgeleitete, fundamentale Änderung des Alltagslebens zu bewerkstelligen.

Das wird kein linearer Prozess sein. Er wäre als solcher wohl auch nicht nachhaltig. Statt einer bloß vordergründigen Konsensbildung in der akuten Krisensituation brauchen wir eine neue Streitkultur, die sich durch intensive Dialogbereitschaft, breit angelegte Partizipation und Innovationsfähigkeit – nicht zuletzt im Sinne umfassender digitaler Konsulationsprozesse – auszeichnet. Dazu müssen alle, die von der zukunftsgestaltenden Kraft der Wissenschaft überzeugt sind, sich entschließen, den Spielfeldrand zu verlassen und sich weitaus mehr als bisher ins gesellschaftliche Getümmel begeben. Den Mut dazu brauchen wir heute und in Zukunft mehr als je zuvor!



Zum Autor

Wilhelm Krull war von 1996 bis 2019 Generalsekretär der VolkswagenStiftung. Er ist Gründungsdirektor des The New Institute, das 2021 als privates Institut für Advanced Studies of Systemic Crises an den Start gehen wird.


Letzte Änderungen: 07.07.2020