Editorial

Zwischenstufe Phagen

Von Ralf Neumann, Freiburg


(16.07.2021) Wenn man die Geschichte der Molekularbiologie in Deutschland erzählen will, darf ein Name keinesfalls fehlen: Carsten Bresch. Ein Rückblick zu seinem hundertsten Geburtstag.

Als ich Ende der 1980er-Jahre an das Institut für Biologie III der Universität Freiburg kam, war Carsten Bresch dort gerade emeritiert worden. Ein Forschungslabor mit eigener Gruppe hatte er damals schon lange nicht mehr betrieben. Dennoch sollte ich ihm dort in der Folgezeit immer wieder begegnen, da er weiterhin regelmäßig im Institut vorbeischaute – und stets trug er dabei ein leicht schiefes, zufriedenes Lächeln unter seinen listig-funkelnden Augen zur Schau. Erst später sollte ich lernen, dass Carsten Bresch nicht einfach nur der Gründungsvater „meines“ Instituts war, sondern vielmehr überhaupt ganz maßgeblich die Strukturen für die Entwicklung der Molekularbiologie in Deutschland prägte. Und dies, wie ich nochmals später erfuhr, obwohl er sich lediglich vorübergehend für das Fach interessiert hatte.

Was stellt man sich gemeinhin vor unter einem Pionier einer Forschungsdisziplin? In der Regel wohl jemanden, der durch eine bahnbrechende Entdeckung die Tür zu einem komplett neuen Feld mit aufstößt. Auf Carsten Bresch trifft das gar nicht zu. Keine wirklich große, „Feld-öffnende“ Entdeckung ist mit seinem Namen verknüpft – wie in neuerer Zeit etwa die RNA-Interferenz mit Andrew Fire und Craig Mello oder das Genome Editing via CRISPR-Cas9 mit Emmanuelle Charpentier, Jennifer Doudna und Feng Zhang. Allenfalls ein paar frühe Arbeiten zur Paarung und genetischen Rekombination von Bakteriophagen erhielten einige internationale Aufmerksamkeit.

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Illustr.: AdobeStock / fran_kie

Carsten Bresch brachte die Molekularbiologie vielmehr durch besondere Leistungen in der Lehre zum Erblühen, vor allem durch den – im Rückblick besehen – legendären „Kölner Phagenkurs“ sowie das erstmalige Verfassen des Standardlehrbuchs „Klassische und molekulare Genetik“. Dazu kam sein außerordentliches Geschick in Aufbau, Konzeption und Verwaltung des für die Molekularbiologie richtungsweisenden Instituts für Genetik an der Universität Köln – wie auch dessen späteren „Ablegers“ an der Universität Freiburg.

„Ich wurde ein guter Universitätslehrer, ein brauchbarer Verwalter von Instituten und ein durchschnittlicher Forscher“, hielt Bresch selbst am Ende seines Buches „Zuschauer von mittendrin“ im Rückblick fest.

In diesem Buch beschreibt Bresch ausschließlich – wie schon der Untertitel verrät – sein eigenes „Leben und Überleben in den wahnsinnigen Jahren 1920-1950“ [1]: Wie er in Berlin aufwuchs, wie schon als Jugendlicher sein innerer Widerstand gegen das Nazi-Regime wuchs, wie er sein Physik-Studium an der Technischen Hochschule begann, wie er nach dem Zwischenexamen 1941 aufgrund eingeschränkter Tauglichkeit als Funker und Fernschreiber eingezogen wurde – und wie er sich mit Geschick und auch viel Glück letztlich schadensfrei durch die letzten Kriegsjahre schlängelte.

Zurück in Berlin wurde Carsten Bresch aufgrund seiner linken Haltung Mitglied der kommunistischen Partei, die er jedoch bald wieder verließ. Zu den Gründen schreibt er: „Ich wohnte in Westberlin, war aber politisch fest im Osten engagiert. Das änderte der Bericht zur Tagung der Lenin-Akademie im Sommer 1948. Diese höchstpolitische Tagung unter dem Titel ‚Die Lage in der biologischen Wissenschaft‘ sollte den sogenannten ‚Mendelismus-Morganismus-Weismannismus‘ vernichten und durch die Pseudowissenschaft von Lyssenko ersetzen. Tatsächlich war es die menschenverachtende Entwürdigung der alten russischen Genetiker. Erst im April 1956 beendete der Druck der molekular werdenden Genetik auch in der Sowjetunion diese Schande.“ [2]

Im Sommer 1946 nahm Bresch sein Physik-Studium wieder auf, dieses Mal allerdings an der Ost-Berliner Humboldt-Universität. 1947 kam es für ihn zu einer ganz entscheidenden Begegnung: Der deutsche Emigrant Max Delbrück, der inzwischen am California Institute of Technology (Caltech) in Pasadena arbeitete, besuchte erstmals wieder seine Geburtsstadt – und hielt dort zwei Vorträge über das neue Feld der Molekularen Genetik und deren Erforschung am Modell der Bakteriophagen.

Bereits vor seiner Emigration 1937 hatte sich der Physiker Delbrück der Biologie zugewandt – maßgeblich beeinflusst durch einen Vortrag seines Kopenhagener Mentors und Nobelpreisträgers Niels Bohr mit dem Titel „Licht und Leben“ im Jahr 1932. Hauptresultat dieser Zeit war ein Aufsatz mit dem Titel „Über die Natur der Genmutation und der Genstruktur“, den Delbrück zusammen mit Karl Günther Zimmer und Nicolai Timoféef-Ressovsky veröffentlichte und der nachfolgend als „Dreimännerarbeit“ bekannt wurde. Darin formulierten sie die „Treffer-Theorie“ der Mutation und legten damit erstmals der abstrakten Einheit „Gen“ eine materielle, makromolekulare Natur zugrunde. Dieser Artikel wiederum motivierte den zu dieser Zeit in Dublin wirkenden, österreichischen Physiker Erwin Schrödinger zu seinem Buch „What is Life?“, in dem er diese Annahme weiterverfolgte. Beide zusammen sollten in der Folgezeit zahllose Physiker in die moderne molekulare Biologie locken – unter ihnen eben auch Carsten Bresch. „Die Biologie ist zu wichtig, um sie nur den Biologen zu überlassen“, kommentierte Delbrück einmal diese Entwicklung. Und tatsächlich wurde die Molekularbiologie in der Folgezeit insbesondere durch Quereinsteiger aus der Physik und einigen anderen Disziplinen vorangetrieben.

Doch wie konnte man das „molekulare Leben“ konkret im Labor studieren? 1939 lernte Delbrück den Phagenforscher Emory Ellis kennen, der ihn anschließend in die Arbeit mit Bakteriophagen einführte. Damit war das zentrale Versuchsobjekt der frühen Molekularbiologie gefunden. Schnell überzeugte Delbrück weitere Forscher von „seinem“ experimentellen Modell, sodass die entsprechenden Resultate nicht allzu lange auf sich warten ließen. „Durch schlichtes Anschauen von Löchern in Petrischalen gewannen wir damals fundamentale Erkenntnisse “, fasste Sydney Brenner einmal diese Phase im Rückblick zusammen.

Ein berühmtes Beispiel dafür lieferte Delbrück selbst. Seit 1941 konnte er regelmäßig mit Salvador Luria und Alfred Hershey am Cold Spring Harbor Laboratory an Phagen experimentieren. 1943 veröffentlichten Luria und Delbrück schließlich den sogenannten Fluktuationstest, mit dem sie zeigten, dass in E. coli Mutationen, mit denen sie resistent gegen die Phagen-Infektion wurden, keineswegs durch den Kontakt mit den Phagen – also durch eine Änderung in der Umwelt – ausgelöst werden, sondern spontan entstehen. 1969 bekamen sie dafür zusammen mit Alfred Hershey den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin.

Vieles davon war Thema der Vorträge und der Gespräche, die Delbrück 1947 in Berlin mit Carsten Bresch und anderen führte. Danach war auch Bresch Phagen-infiziert – und hatte mit Delbrück zugleich einen einflussreichen Mentor gefunden.

Bereits 1946 hatte Delbrück T-Phagen, die damals hauptsächlich für die molekularbiologischen Experimente verwendet wurden, an den Physik-Lehrstuhl der Humboldt-Universität geschickt. Zwei Jahre später übergab sie dessen Leiter Robert Rompe an Bresch und seinen Mitstreiter Wolfgang Eckart und gestattete beiden, damit den experimentellen Teil ihrer Doktorarbeiten selbstständig am einzigen Labor in Berlin zu machen, in dem damals mit Phagen gearbeitet wurde – bei Otto Lentz am West-Berliner Robert-Koch-Institut. Damit wurden die beiden die ersten molekularbiologischen Phagenforscher in Deutschland. Mit Delbrück waren sie in ständigem Kontakt, sodass sie stets über die Neuigkeiten aus der eingeschworenen und weiter wachsenden molekularbiologischen Phagen-Community auf dem Laufenden blieben.

Delbrück hatte auch seine Finger im Spiel, als Carsten Bresch nach der Promotion eine Stelle bei dessen Schwager Karl-Friedrich Bonhoeffer am Göttinger Max-Planck-Institut für Physikalische Chemie antrat – ein Institut, das sich nach Breschs eigenen Worten damals „durch ein wissenschaftlich, politisch und menschlich gleich wohltuendes Klima“ auszeichnete. Dort widmete er sich weiter der Genetik und insbesondere der Rekombination von T1-Phagen.

1955 schließlich ging Bresch für ein Jahr nach Brasilien, um in Rio ein Phagen-Labor einzurichten. Als „Hauptgewinn aus dieser Zeit“ bezeichnete er „die Bekanntschaft mit dem jungen Schweizer Mediziner Rudolf Hausmann, aus der eine lebenslange Freundschaft und Zusammenarbeit wurde“ [2]. Hausmann selbst erinnert sich folgendermaßen an die Begegnung mit Bresch:

„Carsten kam damals mit einem Gehalt von 500 US-Dollar für ein Jahr als Entwicklungshelfer an die Uni, als ich dort noch Medizinstudent war. Als Erstes verbreitete er dort die Nachricht über die Entdeckung der DNA-Doppelhelix aus dem Jahr 1953, von der in Brasilien niemand wusste und deren Bedeutung auch international noch nicht wirklich erkannt war. Seither blieben wir in Kontakt.“

Auf der Rückreise von Brasilien erfuhr Carsten Bresch dann aus einem Brief Karl-Friedrich Bonhoeffers, dass in der Zwischenzeit in Köln „schwerwiegende Pläne geschmiedet wurden“. Der Botaniker Joseph Straub verfolgte dort mit weiser Voraussicht und großem Verhandlungsgeschick das Ziel, die „moderne Biologie“ nach Deutschland zu holen – und dafür konkret in Köln ein großes Institut für Genetik zu installieren. Schon früh holte er zur Realisierung dieser Ziele Max Delbrück mit ins Boot – und trug ihm schließlich das Extraordinariat für Mikrobiologie an. Zur Überraschung vieler biss dieser an – allerdings aus durchaus eigenen „missionarischen“ Motiven. George Beadle verriet er 1956 in einem Brief: „Ich sagte, ich wäre interessiert, wenn ein Institut geschaffen würde, das als ein Modell für andere Universitäten in Deutschland und in anderen Ländern dienen kann, um den organisatorischen Stillstand, in dem sich die Biologie auf der ganzen Welt befindet, zu durchbrechen. Das California Institute of Technology bildet hier eine fast einzigartige Ausnahme.“

Max Delbrück nahm den Ruf dorthin allerdings erst 1961 an, als ein Ende der langwierigen Baumaßnahmen für das neue Institut in Sicht kam – und blieb dann auch nur zwei Jahre dort, um schließlich wieder nach Kalifornien zurückzukehren. Bereits vier Jahre zuvor hatte Carsten Bresch den Lehrauftrag für Mikrobiologie am „Institut für Genetik im Aufbau“ erhalten, nach seiner Habilitation folgte das Extraordinariat. De facto leitete er von da an als Delbrücks „verlängerter Arm“ kommissarisch das schnell wachsende Institut, wobei er nach und nach durch die weiteren, später besetzten Extraordinarien unterstützt wurde. Zur Organisationsform des Instituts schreibt Simone Wenkel in ihrer Dissertation „Die Molekularbiologie in Deutschland von 1945 bis 1975 – Ein internationaler Vergleich“ [3]:

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Carsten Bresch Anfang der Siebzigerjahre, als er der aktiven Molekularbiologie bereits den Rücken kehrte.

„Mit der Gründung des Instituts für Genetik in Köln wurde 1959 zum ersten Mal vom hierarchischen System abgewichen. Max Delbrück und der Botaniker Joseph Straub planten das Institut mit der amerikanischen Departmentstruktur, in der alle Gruppenleiter gleichberechtigte und unabhängige Mitglieder des Instituts waren. Offiziell wurde das Institut von nur einem Ordinarius (Delbrück) geleitet, hatte aber sechs unabhängige Gruppenleiter. Die eingestellten Personen hatten fast alle durch Aufenthalte im Ausland, meist in den USA, Erfahrung mit dem Departmentsystem gemacht. [...] Dazu kam, dass sie auch gemeinsam für die Lehre im Fach verantwortlich waren und das internationale Ansehen des jungen Instituts damals schon sehr hoch war. Der Beschluss zur Erhöhung der Zahl der Ordinarien und damit der offiziellen Gleichberechtigung der Gruppenleiter wurde 1964 in Köln gefasst. Bis 1972 wurden insgesamt fünf Ordinarien berufen. Was die untergeordneten Gruppenleiter betrifft, konnten diese zumindest in späteren Jahren als Assistenten und außerordentliche Professoren am Institut auch unabhängig arbeiten, wie es im echten ‚Amerikanischen Modell‘ der Fall war. Die einzigartige Organisationsstruktur des Instituts konnte sich nur vereinzelt (z.B. Freiburg, Bochum und Heidelberg) und keineswegs als Standard in Deutschland durchsetzen.“

Dies war neben der internationalen Ausrichtung jedoch nur die eine Seite der Medaille des „Kölner Erfolgs“. Die andere bildeten die sogenannten Phagen-Kurse, die vorwiegend unter Breschs Leitung ab 1956 regelmäßig dort stattfanden und in denen fortgeschrittene Wissenschaftler die neuen Methoden der Phagen-basierten Molekularbiologie erlernen konnten. Vorbild waren die „Phage Courses“ am Cold Spring Harbor Laboratory, die Luria und Delbrück 1945 initiiert hatten und die seitdem jährlich dort abliefen. Und ganz ähnlich wie diese sollten sich auch die Kölner Phagen-Kurse als die Kaderschmiede schlechthin für die weitere Entwicklung der gesamten deutschen Molekularbiologie entpuppen. Entsprechend erinnert sich Fritz Melchers, der spätere Direktor des Basel Institute for Immunology, an seine damalige Doktorandenzeit am Kölner Institut: „Alle, die in Deutschland die Molekularbiologie vorangebracht haben, hatten daran teilgenommen.“ Dazu kamen natürlich in womöglich noch größerem Maße all diejenigen, die wie Melchers zum Promovieren dort hinkamen oder gar als Assistenten beziehungsweise Abteilungsleiter eingestellt wurden – etwa Breschs jüngerer Cousin Thomas Trautner, Peter Starlinger, Hans Zachau, Benno Müller-Hill, Ulf Henning, Konrad Beyreuther, Klaus Rajewsky und viele andere mehr.

Dennoch stürzte das Kölner Institut für Genetik nach Delbrücks Weggang 1963 in eine Krise. Bresch selbst beschrieb sie folgendermaßen:

„Trotz intensiver Bemühungen von vielen Seiten war Max [Delbrück] nicht zu bewegen, auf sein geliebtes Caltech zu verzichten, das seinerseits keinesfalls mehr als zwei Jahre Urlaub zuließ. Während Max noch versuchte, Ulf Henning als neuen Abteilungsleiter zu gewinnen, wurden die Institutsmitglieder von außen offenbar als interessante Konkursmasse gesehen. Für alle von uns kamen lockende Angebote. Wir Betroffenen erwarteten eigentlich – als schnelle Gegenaktion der Fakultät – die Aufwertung unserer Positionen, um den personellen Ausverkauf zu stoppen. Ich habe nie erfahren, wer oder was die Fakultät damals daran hinderte. Erst als Walter Harm [damals Extraordinarius für Strahlenbiologie] als Full Professor nach Baltimore ging und mich ein Ordinariat nach Freiburg zog, rang sich die Kölner Fakultät zu entsprechenden Gegenangeboten durch. Zu spät – es hatte sich viel Ärger angestaut.“

Breschs Start in Freiburg verzögerte sich allerdings nach seiner Berufung im Jahr 1964. Sein langjähriger Weggefährte Rudolf Hausmann, den Bresch zuvor bereits nach Köln geholt hatte, erinnert sich:

„Carsten hatte sich inzwischen für den neugegründeten Lehrstuhl für Genetik an der Uni Freiburg beworben. Zeitgleich waren aber einige Öl-Milliardäre in Dallas dabei, ein Southwest Center for Advanced Studies zu gründen. Da aber in Dallas aufgrund des Kennedy-Mordes zu dieser Zeit kein Amerikaner die Leitung übernehmen wollte, wandte man sich auf Empfehlung von Max Delbrück an Carsten. Mit diesem Trumpf der Einladung nach Dallas in der Hand konnte er in den Berufungsverhandlungen hoch pokern. Er verlangte also nicht nur den Lehrstuhl, sondern gleich ein ganzes neues Institut mit zwei weiteren Lehrstühlen. Sonst würde er nach Dallas gehen. Angesichts des damals gefährlich drohenden Brain Drains willigte das Ministerium bei allem ein. Carsten aber sagte, dass er trotzdem erstmal nach Dallas gehen würde, da ja der Bau des Instituts erst bevorstand. So ließ er sich gleich nach der Ernennung beurlauben und übernahm die Leitung des Southwest Centers in Dallas, bis das Institut in Freiburg bezugsbereit war. Dies war 1968 schließlich der Fall.“

Rudolf Hausmann selbst ging erstmal mit nach Dallas, wo Bresch indes bald begann, künftige Mitarbeiter für das Freiburger Institut für Biologie III, wie es schließlich heißen sollte, anzuwerben. Insgesamt hatte er einen Stellenplan mit zwei weiteren Lehrstühlen für Molekularbiologie und Biophysik sowie mehreren unabhängigen Abteilungsleitern aushandeln können. Damit strebte er ein Institut von der Größe „dreiviertel Köln“ an, das aber vor allem dessen Geist von Gleichberechtigung, Unabhängigkeit und kooperativen Austauschs weitertragen sollte. Kein Wunder daher, dass neben Rudolf Hausmann noch einige weitere Kandidaten in Freiburg landeten, die zuvor auch am Kölner Genetik-Institut zumindest vorbeigeschaut hatten – wie etwa Rainer Hertel auf dem Lehrstuhl für Molekularbiologie.

Inmitten dieses turbulenten Dreiecks Köln-Dallas-Freiburg vollbrachte Carsten Bresch indes eine weitere Pionierleistung: Er schrieb unter dem Titel „Klassische und molekulare Genetik“ das erste Lehrbuch, das den Forschungsstand der modernen Molekularbiologie in deutscher Sprache wiedergab. 1964 wurde es veröffentlicht, 1970 wurde Rudolf Hausmann Mitautor, zur dritten Auflage 1972 wurde es in vier weitere Sprachen übersetzt. Bis dahin waren von der deutschsprachigen Ausgabe bereits 39.000 Exemplare im Umlauf. Es war innerhalb kurzer Zeit zum Standard-Lehrbuch für die schnell wachsende Zahl der Molekulargenetik-interessierten Studierenden geworden.

In Freiburg tat sich Bresch dann weiterhin vor allem als Instituts-Gestalter hervor. So holte er etwa das damals frisch beschlossene Zentrallaboratorium für Mutagenitätsprüfung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) in die unmittelbare Nachbarschaft seiner Freiburger „Bio III“.

Breschs damaliger Mitarbeiter Daniel Harnasch erinnert sich: „Wegen der atmosphärischen Atombombentests sowie der Entwicklung vieler neuer Arzneimittel und Umweltchemikalien in den Sechzigerjahren wuchs die Sorge um die unerkannte Anhäufung rezessiv letaler Mutationen im Erbgut der Bevölkerung. Viele Genetiker, darunter Carsten Bresch, regten daher an, vorsorglich Programme zur gezielten Suche nach Mutagenen im menschlichen Umfeld zu starten. Dies führte zur Einrichtung des Zentrallaboratoriums für Mutagenitätsprüfung (ZLM) durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die Carsten Bresch von 1968 bis 1980 mit dessen wissenschaftlicher Leitung und Direktion in Freiburg betraute.“

Ebenso setzte Bresch sich bereits früh für das Miteinbeziehen von Computer- und Rechenkraft in Lehre und Forschung ein. Unter dem Stichwort „Computer-unterstützter Unterricht“ (CUU) bekam sein Institut einen Großrechner in den Keller gestellt und erhielt neben der Physik den ersten Anschluss an das Rechenzentrum der Universität Freiburg. Derart ausgerüstet bot es als erstes Freiburger Institut Computerkurse für seine Studierenden an. Zeitgleich fanden auch erste Computersimulationen zu Themen der theoretischen Biologie den Weg von Freiburg in das ein oder andere Journal. Als jedoch der verantwortliche Abteilungsleiter, Klaus Haefner, das Institut verließ, erlahmte der Schwung des damals durchaus visionären Ansatzes. Rainer Hertel bedauert das heute: „Bresch und Haefner waren Pioniere, unser Institut für Biologie III hätte der großen Welle der Computer-Biologie um Jahrzehnte voraus sein können.“

Die romantische Phase der Molekularbiologie war zu dieser Zeit allerdings bereits vorbei. Viele grundlegende Entdeckungen waren gemacht, sodass einige der Protagonisten sich neuen Herausforderungen zuwendeten. Max Delbrück hatte etwa schon 1953 an seinen Kollegen Seymour Benzer geschrieben: „Ich beginne morgen eine neue Unternehmung, nämlich einige Experimente zum Phototropismus der Sporangiophoren von Phycomyces. Wenn sie funktionieren, ziehe ich mich von den Phagen zurück.“ Die Experimente funktionierten, sodass Delbrück seinen Forscherehrgeiz fortan tatsächlich auf die Lichtwahrnehmung und das Verhalten der Phycomyces-Sporangiophoren umleitete. Leider mit nur mäßigem Erfolg, wie sich am Ende herausstellen sollte.

Auch Bresch zog sich zunehmend von den Phagen zurück, um sich im wahrsten Sinne des Wortes weitaus größeren Dingen zuzuwenden. 1977 veröffentlichte er das Buch „Zwischenstufe Leben – Evolution ohne Ziel?“, das heute viele als sein wissenschaftliches, zugleich aber auch weltanschauliches Hauptwerk ansehen. Die zentrale Frage in dem Buch lautet: Geht es bei der Evolution um Zufall oder Notwendigkeit, um einen Irrlauf oder hat sie gar ein fernes Ziel? Allerdings zielte Bresch hierbei nicht auf die innerbiologische Evolutionslehre im Darwinschen Sinne allein. Stattdessen weitete er den Evolutionsbegriff konsequent aus, in dem er drei Phasen der Entwicklung formulierte: 1.) die der Materie, 2.) die des Lebendigen, 3.) die des Geistigen und der Kultur. Das Leben nahm damit folglich nur den Mittelteil, die „Zwischenstufe“ auf dem Weg von der Materie zum Geist ein.

Bresch lieferte damit eine naturwissenschaftliche Version des zuvor vom französischen Jesuiten Teilhard de Chardin formulierten – allerdings stark theologisch orientierten – universalen Evolutionskonzepts. Seine Kernthese: Der Richtungspfeil der Evolution von einfachster Chemie bis hin zur Entstehung von Planetensystemen sowie Geist und Kultur basiert auf der zunehmenden Zahl verwirklichter Wechselwirkungen, aus der stetiges Muster- und Informationswachstum samt dessen Integration folgen. All dieses Zusammenkommen von mehr und mehr Geschehen unterliegt dabei jedoch streng den Gesetzen der Physik und der Thermodynamik. Auf diese Weise werden über Duplikationen, Differenzierungen, Neu-Kombinationen et cetera immer neue und höhere Organisationsniveaus erreicht – von Molekülen über Zellen, von Organismen und Populationen bis hin zum Entstehen von Geist und Kultur, von der Biosphäre zur Noosphäre.

Da Bresch in seinem Buch allerdings nicht bei der rein naturwissenschaftlichen Beschreibung haltmachte, sondern deren Grenzen zu Gunsten einer weltanschaulichen Deutung überschritt, forderte er damit letztlich auch Philosophie und Theologie heraus. Folgerichtig engagierte er sich daraufhin im interdisziplinären Dialog zum Thema Evolution, unter anderem indem er zusammen mit dem Freiburger Theologen Helmut Riedlinger 1981 die „Arbeitsgemeinschaft Evolution, Menschheitszukunft und Sinnfragen“ (AGEMUS) gründete.

Diese kritischen Auseinandersetzungen zur Frage „Wohin gehen der Mensch und die Welt?“ blieben über die nächsten vierzig Jahre Breschs großes Thema. 2010 veröffentlichte er dazu sein letztes Buch „Evolution – Was bleibt von Gott?“

Das Feld der Phagen und der Molekularbiologie, an dessen Bestellung er zuvor so maßgeblich mitgewirkt hatte, hatte er darüber schnell verlassen. „Das hatte ihn einfach nicht mehr interessiert“, so Rainer Hertel.

Carsten Bresch starb am 1. März 2020, im kommenden September wäre er hundert Jahre alt geworden.



Referenzen

[1] Bresch, Carsten: „Zuschauer von mittendrin“, Freiburg (2018)

[2] Bresch, Carsten: „Die erste Zeit“ – In: Wenkel, Simone und Deichmann, Ute (ed.), „Max Delbrück and Cologne – An Early Chapter of German Molecular Biology“, S. 39-47, World Scientific Publishing Co. Pte. Ltd. (2007)

[3] Wenkel, Simone: „Die Molekularbiologie in Deutschland von 1945 bis 1975 – Ein internationaler Vergleich“, Dissertation, Universität zu Köln (2013)



Zum Autor

Ralf Neumann ist Mitherausgeber und Chefredakteur des Laborjournals.