Fortschritt wider die Fairness? Ethische Betrachtungen zum Umgang mit Forschungsdaten

Von Katrin Frisch, Berlin


Editorial

(14.07.2023) Das Narrativ des wissenschaftlichen Fortschritts ist einseitig und verzerrt. Noch immer bestehen unethische Forschungspraktiken und strukturelle Ungleichheiten in der Wissenschaft fort. Bevor sie aufgearbeitet werden können, müssen sie anerkannt werden.

Wissenschaftlicher Fortschritt gilt gemeinhin als positives Gut. Rasche wissenschaftliche Fortschritte werden gefeiert, das Ausbleiben bahnbrechenden Fortschritts moniert. Nicht neu ist die Kritik, dass das Narrativ über den wissenschaftlichen Fortschritt einseitig und stark verzerrt ist. Was als Fortschritt galt, war geprägt von Ideen aus dem globalen Norden und stand lange im Dienst von ausbeuterischen und diskriminierenden Machtstrukturen. So war der vermeintliche wissenschaftliche Fortschritt eng mit politischen Projekten wie Imperialismus und Kolonialismus verbunden, denn imperialistische und koloniale Projekte erforderten neues Wissen; gleichzeitig waren Forschungsprojekte und besonders Forschungsreisen Teil von imperialistischen Selbstverständnissen. Diese Selbstverständnisse sind in die daraus resultierende Forschung in Form von Erkenntnissen, Werkzeugen und Praktiken eingeschrieben. Ebenso finden sie konkrete Gestalt in den Objekten vieler Sammlungen aus kolonialen, imperialistischen, nationalsozialistischen oder anderen Unrechtskontexten. In den letzten Jahren erhält diese Kritik immer mehr Aufmerksamkeit. Ein Aspekt, der dabei mehr im Fokus stehen sollte, ist der faire Umgang mit Forschungsdaten.

Symbolbild: Verschlossener Mund
Illustrationen: Tim Teebken - Bearbeitung Ulrich Sillmann

Editorial

Es scheint Einigkeit darüber zu herrschen, dass das historische Unrecht, welches in materialisierter Form in vielen Sammlungen an Universitäten vorliegt, aufgearbeitet werden muss. Wie genau das in Bezug auf die konkreten Objekte geschehen soll, ist jedoch häufig strittig. Denn viel zu oft werden die gesammelten und verwahrten Objekte losgelöst von ihrem Erhebungs- und Sammlungskontext betrachtet und reduziert auf den Daten- und Informationsschatz, der in ihnen schlummert. Dementsprechend schwer tun sich einige Forschende und Institutionen, nicht nur den ehemaligen Forschungskontext zu hinterfragen, sondern auch den Prozess konsequent zu Ende zu denken. Dies kann bedeuten, die Objekte nicht weiter zu beforschen, zurückzugeben oder im Fall von zum Beispiel Schädelsammlungen diese ordnungsgemäß zu bestatten und ihnen damit den Objektcharakter zu nehmen. In einem rezenten Fall an der Freien Universität Berlin (FU) entschied man sich genau für dieses Vorgehen. Nachdem 2015/16 tausende Knochenteile auf dem Campus der FU gefunden wurden, die höchstwahrscheinlich der „völkerkundlichen“ Sammlung des ehemaligen Kaiser-Wilhelm-Instituts entstammten, wurden diese „Opfer von Verbrechen im Namen der Wissenschaft“ bestattet [1]. Eine Entscheidung, die gemeinsam mit verschiedenen Gruppen, jedoch nicht ohne Gegenstimmen, getroffen worden war: So hatten sich einige Forschende dafür ausgesprochen, die Knochen zu untersuchen, um die Opfer und deren Biographien zu rekonstruieren. Mit dem Hinweis darauf, keine „rassistischen Methoden der Vergangenheit reproduzieren“ zu wollen, hatte sich die Leitung dagegen entschieden. Interessant dabei ist, dass beide Seiten mit der Würde der Opfer argumentierten.

Keineswegs handelt es sich bei menschlichen Knochen in Universitätssammlungen immer um historische, sprich aus weit zurückliegenden und damit vermeintlich überwundenen Unrechtskontexten stammende, Zeugen. Während der Corona-Pandemie bekam ein Onlinekurs mit dem Titel „Real Bones: Adventures in Forensic Anthropology“ der Princeton University ungewollt viel Aufmerksamkeit, nachdem Kritik an den dort verwendeten Knochenfragmenten aufkam. Die im Video gezeigten Knochen stammten von einem Opfer eines rassistischen Anschlags des Philadelphia Police Departments auf die schwarze ökologische Widerstandsbewegung MOVE aus dem Jahr 1985. Die Sprengsätze, abgeworfen aus einem Polizeihubschrauber auf ein Wohnhaus, in dem sich Mitglieder der Gruppe aufhielten, rissen elf Menschen in den Tod, darunter fünf Kinder. Dass einige Knochen der Opfer ohne das Wissen der Angehörigen zuerst an der University of Pennsylvania und später an der Princeton University landeten, sagt einiges darüber aus, wie langlebig vermeintlich historisch überwundene Denkstrukturen und Praktiken sind. So wurden die Knochen von den betreffenden Forschenden primär als Forschungsobjekte gesehen und erst in einem zweiten Schritt als Teile menschlicher Individuen.

Unschwer lässt sich eine Verbindung zwischen diesen Knochenfragmenten und ihrer Nutzung mit der an der University of Pennsylvania angesiedelten Schädelsammlung des Rassentheoretikers Samuel G. Morton ziehen. Der Rassismus, der zugleich Grundlage und Forschungsprodukt von Mortons Schädelsammlung war, findet sich in der unerlaubten Nutzung von schwarzen Opfern staatlicher Gewalt wieder, um in die „Abenteuer der Forensik“ einzuführen. Auch wenn die Knochenfragmente mittlerweile – und infolge des öffentlichen Drucks – an Hinterbliebene zurückgegeben wurden und die Schädelsammlung Mortons ebenfalls aufgearbeitet – und bestattet – wird, zeigt das Beispiel, dass wir es keineswegs nur mit der Aufarbeitung historischen Unrechts zu tun haben. Viele Sammlungen strahlen in die Gegenwart und Zukunft aus. So problematisiert der Historiker Jürgen Zimmerer in einem rezenten Artikel die Generierung neuen Wissens aus alten Sammlungen: „Dass durch die Fortschritte der modernen Biologie nun auch auf die DNA aus Objekten zurückgegriffen wird, die unter kolonialen Bedingungen angeeignet wurde, wirft hier auch die Frage nach der Kontinuität kolonialer Verhältnisse auf“ [2]. Wenn aus alten Sammlungen neue Daten entstehen, macht das deren Aufarbeitung umso dringlicher.

Kontinuität lässt sich nicht nur in Bezug auf alte Sammlungsbestände ausmachen. Die bis heute genutzte HeLa-Zelllinie, auf die vier Nobelpreise, 11.000 Patente und 75.000 wissenschaftliche Veröffentlichungen zurückgehen, entstammt Krebszellen, die ein Arzt des Johns Hopkins Hospital seiner schwarzen Patientin Henrietta Lacks ohne ihr Einverständnis (und ohne das ihrer Familie) 1951 entnahm. Das Krankenhaus bot der lokalen schwarzen Bevölkerung kostenlose Behandlungen an, diese wurde jedoch im Gegenzug unfreiwillig und ohne ihr Einverständnis für Forschungszwecke instrumentalisiert – eine Praxis, die übrigens auch in der problematischen Tuskegee-Syphilis-Studie Anwendung fand und zeigt, wie strukturell verankert dieses Vorgehen und die zugrunde liegenden rassistischen Denkmuster waren. Wesentliche wissenschaftliche Fortschritte und auf der materiellen Ebene Forschungskarrieren und Einnahmen durch Patente sind – so zeigt dieses Beispiel – eng verknüpft mit unethischer und hier konkret rassistischer Praxis. Lange war nicht nur der Ursprung der HeLa-Zellen unbekannt, auch die Familie besaß weder Entscheidungsbefugnis, noch wurde sie an Gewinnen beteiligt. Lacks’ Nachfahren, die erstmals 1973 von der Nutzung der Zelllinie erfuhren, wurden erst 2013 in die Diskussion um die Veröffentlichung des HeLa-Genoms miteinbezogen. Ein deutsches Forschungsteam hatte jedoch bereits zuvor einen Artikel zum HeLa-Genom veröffentlicht [3].

Wiegt der beschriebene wissenschaftliche Gewinn das damalige Unrecht auf? Aus Sicht der wissenschaftlichen Fairness betrachtet ist die Antwort ein klares „Nein“. Denn viel grundlegender ist ein anderes Problem. Der wissenschaftliche Fortschritt, der aus dem Gebrauch der HeLa-Zellen resultierte, kam und kommt immer noch nicht allen gesellschaftlichen Gruppen gleichermaßen zugute. So ist die Gesundheitsversorgung der schwarzen Bevölkerung in den USA ungleich schlechter als die der weißen Bevölkerung. Mehr noch: Schwarze Menschen wurden in der Vergangenheit oft bewusst als Versuchspersonen für experimentelle Versuche und neuartige schmerzhafte Eingriffe missbraucht.

James Marion Sims, oft bezeichnet als Vater der modernen Gynäkologie, entwickelte seine chirurgischen Techniken zur Entfernung von vaginalen Fisteln an schwarzen versklavten Frauen ohne Narkose. Die daraus entwickelten Methoden wurden dann professionell nur zur Behandlung von weißen bürgerlichen Frauen angewandt. Noch heute sterben in den USA und auch in Großbritannien [4] schwarze Frauen drei- bis viermal häufiger durch Komplikationen bei der Geburt als weiße Frauen – unabhängig von der sozialen Schicht [5]. Die vermeintlichen Fortschritte im Bereich der Gynäkologie, die auf Kosten schwarzer Frauen erzielt wurden, stehen eben diesen nicht im gleichen Maße zur Verfügung. Im Gegenteil: Die unethischen Praktiken, insbesondere die Forschungsobjektwerdung ohne Einwilligung und Wissen, wie sie durch die Tuskegee-Syphilis-Studie als eine unter vielen landesweit bekannt wurde, führen bis heute dazu, dass schwarze Menschen in den USA weniger Vertrauen in ärztliche Behandlung und Forschung haben als weiße Menschen und zusätzlich rassistischen Strukturen im Gesundheitswesen ausgesetzt sind. Der vermeintliche wissenschaftliche Fortschritt sorgte auch für die Aufrechterhaltung von Macht- und Diskriminierungsstrukturen.

Symbolbild: Mann mit zwei Gesichtern

Die Beispiele stehen sinnbildlich für eine Kontinuität unethischer Forschungspraxis im Umgang mit Daten, die selten zur Sprache kommt. Im Gegenteil gehört zum Fortschrittsdiskurs oft die Herstellung einer Binarität von Vergangenheit und Gegenwart. So wird ein Bild kreiert, in dem historische Unrechtskontexte und ethische Verfehlungen in der Wissenschaft als Blaupause dienen, die Andersartigkeit der Gegenwart zu betonen. Im Kontext der Wissenschaft lassen sich entsprechend Narrative identifizieren, die unethische Forschung als Ausgangspunkt positiver Entwicklungen rahmen. Die oben angeführte Tuskegee-Syphilis-Studie stieß die Schaffung des Belmont Reports an, der ethische Prinzipien für den Umgang mit menschlichen Testpersonen festlegt. Die weltweit anerkannte Deklaration von Helsinki des Weltärztebunds geht auf den Nürnberger Ärzteprozess zurück, der die nationalsozialistischen Verbrechen im Namen der Wissenschaft aufarbeitete.

Dabei richtet sich meine Kritik nicht gegen den Inhalt der Guidelines, sondern gilt der vereinfachten Erzählung, die die Vergangenheit mit ihren Abgründen als überwunden darstellt. Dies gilt umso mehr, wenn diese Erzählung suggeriert, dass unethisches Verhalten in der Vergangenheit normalisiert und strukturell war, heutzutage jedoch nur eine singuläre Aberration darstellt. Dass unethische Forschung erst in der Gegenwart als problematisch wahrgenommen wird, ist ein weit verbreiteter Trugschluss. So führte die Aufdeckung der unethischen Praktiken der Tuskegee-Syphilis-Studie durch einen Whistleblower und eine Journalistin sowie der darauffolgende mediale Druck zur Einstellung der Studie.

Ähnliche Dynamiken lassen sich auch bei anderen bekannten unethischen Studien beobachten. Die Karies-Studie im schwedischen Vipeholm-Krankenhaus für Menschen mit geistiger Behinderung machte dessen Bewohner:innen zu unfreiwilligen Testsubjekten, indem sie eine besonders zuckerhaltige Ernährung erhielten, um auf diese Weise die Kariesbildung zu studieren. Die ethischen Problematiken der Studie wurden bereits in den 1950ern öffentlich diskutiert und führten dazu, dass im Vipeholm-Krankenhaus nicht länger geforscht werden durfte. 2021 legte einer der damals beteiligten Wissenschaftler:innen die Studie immer noch als eine „sinnvolle Beschäftigungstherapie“ [6] für die ehemaligen Bewohner:innen aus, während der „Handikappombudsmannen“ ein Jahr zuvor resümierte, dass die Ergebnisse nicht die unethischen Experimente rechtfertigen.

Schon diese Gegenüberstellung verkompliziert das Bild einer linearen Entwicklung hin zu einem immer ausgeprägteren ethischen Verständnis der Gegenwart. Abgesehen davon also, dass es die Vergangenheit unzutreffend abbildet, erschwert es dieses Narrativ, heutige ethische Problematiken als strukturell zu analysieren und auf die Kontinuitäten hinzuweisen. Dies soll nicht suggerieren, dass sich unsere Referenzrahmen dessen, was wir als ethisch vertretbar hinnehmen, nicht angepasst hätten. Doch profitieren westliche Forschungsinstitutionen und -interessen weiterhin von Ungleichverhältnissen und bedienen sich unethischer Forschungspraktiken im vermeintlichen Rennen um wissenschaftlichen Fortschritt.

In Bezug auf Forschungsdaten lässt sich das an verschiedenen Beispielen illustrieren. In der Genforschung gab es in letzter Zeit Diskussionen um Datenentnahme und Nutzung von Daten verschiedener marginalisierter beziehungsweise diskriminierter Gruppen wie zum Beispiel Indigene, Sinti:zze und Rom:nja sowie von Uigur:innen. So kam und kommt es hier im Kontext von Forschungsprojekten unter Einbezug dieser Gruppen zu verschiedenen unethischen Praktiken. Oft wird berichtet, dass bei der Datensammlung gegen bestehende Standards verstoßen wird, zum Beispiel durch das Nicht-Einholen von Einverständnissen oder die unzureichende Aufklärung, was mit den Daten geschieht. Insbesondere indigene Communities und Wissenschaftler:innen prangern seit langem die einseitige Zusammenarbeit in solchen Forschungsprojekten an. So erfahren sie ein großes Interesse an ihren Daten – zum Beispiel im Bereich der Gesundheitsforschung – aber weder werden die Communities weiter in die Forschung eingebunden, noch kommt ihnen der wissenschaftliche Fortschritt zugute – ein sich wiederholendes Muster, das oben bereits beschrieben wurde.

Doch lohnt es sich nochmals darauf zu verweisen, dass sich hiermit vermeintlich überwundene ausbeuterische, Machtverhältnisse ausnutzende Prozesse fortsetzen. Dabei geht es nicht nur um die Teilhabe von marginalisierten und diskriminierten Gruppen, sondern auch um deren Schutz. In Datenbanken, die in der Forensik genutzt werden, sind beispielsweise Daten von Sinti:zze und Rom:nja überrepräsentiert. Chinesische Gendaten, deren Ursprungsproben mit großer Wahrscheinlichkeit der uigurischen Minderheit ohne ihr Einverständnis entnommen worden sind, liegen in der Charité in Berlin und finden sich in wissenschaftlichen Artikeln wieder [7]. Klar ist, dass Daten von marginalisierten Gruppen besonders vulnerabel und gefährdet sind, für den Einsatz von staatlicher Repression verwendet zu werden. Der Schutz dieser Gruppen wiegt höher als der vermeintliche Erkenntnisgewinn, der aus ihren Daten gewonnen werden könnte.

Ein unethischer Umgang mit Daten lässt sich jedoch nicht nur beobachten, wenn es um vulnerable Forschungssubjekte geht. Auch ungleiche Machtverhältnisse zwischen Forschenden können dazu führen, dass im Prozess von der Datensammlung bis zur Veröffentlichung und Archivierung Fortschritt auf Kosten von Fairness stattfindet. So ist es nicht nur relevant zu fragen, wessen Daten für welchen Zweck erhoben werden, sondern auch, wer dies tut und welche Anerkennung Forschende für die verschiedenen Forschungsbeiträge bekommen. Zu oft noch tragen Forschende aus dem globalen Süden die Arbeitslast, Daten vor Ort zu erheben, erhalten im Gegenzug dafür aber nicht den Credit zum Beispiel in Form einer Autorschaft [8]. Dabei ist hinreichend bekannt, dass Autorschaften die oberste Währung im Wissenschaftssystem darstellen und nicht nur für Bewerbungen und Mitteleinwerbung relevant sind, sondern auch dezidiert als Expertise-Marker genutzt werden. Hinzu kommt, dass erhobene Daten oft in westlichen Forschungsinstitutionen analysiert und ausgewertet werden und danach dort verbleiben. Dies erschwert den Zugang für Forschende aus dem globalen Süden oder macht ihn gar unmöglich, wenn Ressourcen oder Zugangsinfrastrukturen fehlen. Die DFG schreibt in ihrem Kodex „Leitlinien zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis“, dass die Nutzung der Daten insbesondere den Wissenschaftler:innen zustehen sollte, die sie erhoben haben. Wenn dies für den nationalen Kontext gilt, wäre es fair, wenn dies auch für den internationalen Rahmen geltend gemacht würde.

Außerdem berichten Forschende aus dem globalen Süden, dass lokal stattfindende Forschung häufig nicht ihren Interessen dient – weil wichtige Kooperationspartner und anhängige Finanzierung aus dem globalen Norden kommt oder aber die Wahl des Themas beeinflusst, in einem angesehenen Journal zu publizieren. Der vermeintliche wissenschaftliche Fortschritt geht somit an der einheimischen Bevölkerung vorbei, weil wichtige lokale Themen vernachlässigt werden oder weil schlicht kein Zugang – aufgrund von Sprachbarrieren oder Bezahlschranken – besteht. Zumindest Letzteres kann durch Open-Access-Publikationen adressiert werden, die wiederum aber die Teilhabe von Forschenden aus dem globalen Süden und anderen Gruppen ohne zahlungskräftige Institution im Rücken aufgrund der hohen Article Processing Charges einschränken.

Dass Open Access, insbesondere in seiner von den großen Wissenschaftsverlagen pervertierten Form, seine Versprechen nicht für alle Forschenden gleichermaßen einlösen kann, wird immer wieder adressiert. Das freie Teilen von Daten kann für Forschende aus dem globalen Süden zu Nachteilen im ungleichen Forschungswettbewerb führen. Argumente, dass das freie Teilen der Daten dem wissenschaftlichen Fortschritt dient, sind nicht zwingend überzeugend. So leisteten zum Beispiel Forschende aus Nigeria Beiträge zur Sequenzierung des COVID-19 auslösenden SARS-CoV-2-Virus und teilten diese Daten mit westlichen Forschenden. Zugang zu den daraus resultierenden Impfstoffen erhielt die Bevölkerung jedoch nicht [9]. Auch das Modell der „Helicopter Research“ wird zunehmend kritisiert. Doch Verbesserungen kommen nur langsam voran, weil bestehende Machtstrukturen und Ungleichheiten nur langsam abgebaut werden können. Jedoch ist es schlicht unehrlich, wenn westliche Forschende zwar die Gegebenheiten bedauern, aber mit Hinweis auf die nun mal bestehenden Strukturen und Inzentiven, denen sie vermeintlich unterworfen sind, einfach so weitermachen. Denn es gibt bereits Lösungsansätze und faire Praktiken im Umgang mit Forschungsdaten wie zum Beispiel die CARE-Prinzipien, die insbesondere die Rechte von Indigenen in den Blick nehmen [10].

Es wäre an der Zeit, dass die Teile der Wissenschaft, die seit langem und bis heute von Ungleichheit und Diskriminierung profitieren, mit kritischer Selbstreflexion und tatkräftiger Entschiedenheit in Zusammenarbeit mit strukturell Benachteiligten zur Überwindung eben dieser Strukturen beitragen. Ziel sollte dabei nicht nur sein, entstehenden Schaden zu minimieren und zu vermeiden, sondern alle, und insbesondere die in die Forschung einbezogenen Gruppen, von den Resultaten profitieren zu lassen. Der erste Schritt wäre zu realisieren, wie oft wissenschaftlicher Fortschritt nicht nur damals nicht fair war, sondern es bis heute immer noch nicht ist.

Referenzen

[1] Petersen, L., Rbb24, 19.03.23
[2] Zimmerer, J., 2023, Forschung & Lehre, 6: 426-427
[3] Callaway, E., 2013, Nature, 500: 132-133
[4] Women and Equalities Committee, Third Report of Session 2022–23, 18.04.2023
[5] MacDorman, M.F., et al., 2021, Am J Public Health,111: 1673-1681
[6] Krasse, B., 2011, J Dent Res, 80: 1785-1788
[7] Normile, D., 2021, Science, doi: 10.1126/science.abl8764 (Anmerkung der Redaktion: doi Link defekt - neuer Link)
[8] Horn, L. et al. 2023, Nature, 615: 790-793
[9] Maxmen, A., 2021, Nature, 593: 176-177
[10] Carroll, S.R., et al., 2020, Data Sci J, 19: 1-12



Portraitfoto von Katrin Frisch
Foto: K.Frisch

Zur Person

Katrin Frisch ist wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Ombudsman für die Wissenschaft. In dessen Projekt „Dialogforen zur guten wissenschaftlichen Praxis“ koordiniert sie den Themenkomplex „Umgang mit Forschungsdaten“. Von 2013 bis 2018 absolvierte sie einen Joint-PhD an der Humboldt-Universität zu Berlin und dem King’s College, London.