Was Entscheidungsträger:innen von Promovierenden und Promovierten lernen können

Von Michael Gerloff, Berlin


Editorial

(14.07.2023) Eine Anregung, denjenigen zuzuhören, die die Reform des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes (WissZeitVG) direkt betreffen wird: den Promovierenden und Promovierten.

Im Zuge der Reform des WissZeitVGs wird in der Akademie darüber diskutiert, wie die Phase der Promotion und des Postdocs ausgestaltet werden muss, um den Bedürfnissen der Institutionen einerseits und denjenigen der Promovierenden und Promovierten andererseits gerecht zu werden. In der Diskussion habe ich ein bestimmtes Phänomen beobachten können: Menschen, die in der Debatte ein hohes Gewicht haben – weil sie etwa Hochschulen, außeruniversitäre Forschungseinrichtungen (AuF), Fachgesellschaften oder ganze Forschungsgesellschaften führen – meldeten sich zu Wort und begannen über die Wünsche und Ziele von Promovierenden und Postdocs zu sprechen [1].

Zur selben Zeit regte sich öffentlicher Protest in den sozialen Medien. Unter den Hashtags #IchBinHanna und #IchBinReyhan berichteten Studierende, Promovierende und Postdocs von ihren Erfahrungen. Ihre Wünsche und Ziele waren dabei nicht deckungsgleich mit den Aussagen der Menschen, die in Diskussionsrunden und Interviews über „ihre” Promovierenden und Postdocs sprachen. Wo Promovierende und Postdocs die Probleme der späten und intransparenten Selektion in der Akademie beschrieben, warnten akademische Entscheidungsträger:innen – angeblich im Interesse ihrer Mitarbeiter:innen sprechend – davor, die Höchstbefristungsdauer so zu gestalten, dass eine frühe und transparente Selektion stattfinden würde [2]. Wo Postdocs über ihre beruflichen Ambitionen abseits der Professur sprachen, behaupteten Entscheidungsträger:innen, dass Postdocs mehrheitlich eine Professur erreichen wollen [3].

Symbolbild: Mann reißt sich von Leinen los
Illustrationen: Tim Teebken - Bearbeitung Ulrich Sillmann

Editorial

Diese Situation gipfelte darin, dass sowohl die Vertreter der Allianz der Wissenschaftsorganisationen [4] und Vertreter:innen von #IchBinHanna und #IchBinReyhan [5] Folgendes äußerten: „Wir empfehlen der Bundesregierung, den Dialog mit den Doktorand:innen und Postdocs [...] zu führen, denn nur wenn auch die künftigen Wissenschaftler:innen [...] von der Novelle überzeugt sind, wird aus einem ‚brain drain’ ein ‚brain gain’.“

Einen ehrlichen Einblick in die Herausforderungen, vor denen die Promovierenden und Postdocs in der Akademie stehen, liefern die Befragungen des Mittelbaus. Diese sollten als Grundlage des Dialogs mit dem Mittelbau genutzt werden.

In Deutschland haben sich Promovierenden- und Postdoc-Befragungen etabliert. Zu den bekanntesten Promovierendenumfragen gehören die Nacaps-Studie des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW) sowie diejenige der Mitglieder des N2 – Network of Doctoral Researcher Networks [6]. Für promovierte Wissenschaftler:innen konstituieren sich in den letzten Jahren Befragungen des Max-Planck-PostdocNets und des Leibniz-PostDoc-Networks. Die Befragung der Stipendiat:innen der Alexander-von-Humboldt-Stiftung beleuchtet die Situation internationaler Postdocs. Eine weitere Befragung von Promovierenden und Postdocs zur Evaluation des WissZeitVGs führte das Netzwerk für Gute Arbeit in der Wissenschaft (NGAWiss) durch.

Gerade zum Thema Karrierewünsche und Perspektiven der Promovierenden und Promovierten gehen die Meinungen der Betroffenen sowie der Leitungsebenen der Forschungsinstitutionen stark auseinander. Viel zu häufig wird noch davon ausgegangen, dass Promovierende und Promovierte vor allem eine Professur anstreben. Dabei gaben 74 Prozent der befragten Promovierenden der Max-Planck-Gesellschaft an, dass sie im Bereich der außerakademischen Forschung arbeiten wollen. In der akademischen Forschung möchten lediglich 59 Prozent der befragten Promovierenden arbeiten. Für 29 Prozent der Befragten kommt eine akademische Karriere nicht in Frage [7].

Das Karriereziel der Professur wurde insbesondere in der Nacaps-Studie abgefragt. In der für das Laborjournal wichtigen Fächergruppe „Mathematik und Naturwissenschaften“ gaben 40 Prozent der befragten Promovierenden an, keine Professur anzustreben. Nur 25 Prozent streben eine Professur an.

Die Postdoc-Befragungen des Leibniz-PostDoc-Networks und des Max-Planck-PostdocNets nehmen ebenfalls eine Ausdifferenzierung der Karrierepfade vor. Die befragten Leibniz-Postdocs gaben an, dass für sie akademische Stellen mit Forschungsbezug ohne Professur am attraktivsten sind (rund 8,5 von 10 Punkten). Eine ähnliche Stelle außerhalb der Akademie wurde mit einem Attraktivitätswert von circa 7,2 bewertet. Auf dem dritten Platz folgte die Professur mit einem Wert von etwa 5,9. Darüber hinaus gaben die befragten Postdocs an, dass sie vor allem die akademische wissenschaftliche Karriere ohne Professur aktiv verfolgen (6,2). Die Professur (4,0) und die außerakademische Wissenschaftskarriere (3,9) werden weniger aktiv verfolgt [8].

Bei der Befragung der Postdocs in der Max-Planck-Gesellschaft gaben die Umfrageteilnehmer:innen an, dass die Karriereziele „unabhängige Gruppenleitung“ (inklusive, aber nicht ausschließlich der Professur) und „Wissenschaftliche:r Mitarbeiter:in“ gleich attraktiv sind. Die Arbeit in der industriellen Forschung war weniger attraktiv [9].

Für einen internationalen Blick auf die deutsche akademische Landschaft lohnt eine Betrachtung der Befragung promovierter Stipendiat:innen durch die Alexander-von-Humboldt-Stiftung [10]. Hinsichtlich der beruflichen Perspektiven für Wissenschaftler:innen vergaben Stipendiat:innen aus den großen Forschungsnationen beziehungsweise -regionen USA (5,1/10), Frankreich (5,4), UK (6,0), Skandinavien (6,3), Australien und Japan (beide 6,4) verhaltene Noten. Deutschland bietet demnach keine signifikant besseren beruflichen Perspektiven im Vergleich zu Heimatland oder -region.

Symbolbild: Riesige Taschenuhr schwebt drohend über einem Mann

Dass „Postdocs [...] mehrheitlich den Wunsch [haben], in der Forschung zu bleiben und den Karriereweg des Gruppenleiters und später des Professors einzuschlagen“ [3], ist anhand der Daten aus den Postdoc-Befragungen nicht zu verifizieren. Die Priorisierung des Karrierepfads der Professur, die öffentlich immer wieder vorgenommen wird, entspricht nicht den Karrierezielen und Wünschen der meisten Promovierenden und Postdocs.

Ein weiteres Feld, in dem die Erfahrungen von Promovierenden und Postdocs einerseits und der akademischen Entscheidungsträger:innen andererseits divergieren, betrifft das Herz des wissenschaftlichen Arbeitens: Gute wissenschaftliche Praxis (GWP) und das Verhalten im akademischen Diskurs.

In der Befragung der Promovierenden in der Max-Planck-Gesellschaft aus dem Jahr 2018 gaben 23 Prozent an, dass sie bewusst schlechte und nachlässige Arbeit gesehen oder selbst geleistet haben – beispielsweise um Deadlines oder Hypothesen nicht zu gefährden. 20 Prozent der Promovierenden gaben an, dass sie in Konflikte um Autorschaften verwickelt waren oder diese wahrgenommen haben. 17 Prozent berichteten von Ehrenautorschaften, 4 Prozent von Plagiierung, Datenmanipulation und Datenklau [11].

Die gute wissenschaftliche Praxis verbietet dieses Verhalten und hält alle Akteure an, dieses zu melden. Erschreckenderweise gaben in derselben Befragung nur 5 Prozent der befragten Promovierenden an, dass sie wissenschaftliches Fehlverhalten gemeldet hatten. Von diesen 5 Prozent berichtete wiederum ein knappes Drittel, dass nach ihrer Meldung nichts passierte. 13 Prozent gaben an, dass die Meldung mit negativen Konsequenzen für sie einherging [12].

Auf die Frage, ob die Promovierenden negative persönliche Konsequenzen erwarten würden, wenn sie Vorgesetzte melden, antworteten lediglich 21 Prozent mit Nein. 28 Prozent würden keine persönlichen Konsequenzen erwarten, wenn sie das Fehlverhalten gleich- oder niedrigrangiger Personen melden. 25 Prozent würden nach einer Meldung eines wissenschaftlichen Fehlverhaltens in jedem Fall negative Konsequenzen erwarten [13].

Dass diese Problematik nicht spezifisch für die Promovierenden in der Max-Planck-Gesellschaft ist, zeigt eine Evaluation des WissZeitVGs durch das Netzwerk für Gute Arbeit in der Wissenschaft (NGAWiss), für die Promovierende und Postdocs aus Hochschulen befragt wurden. 16 Prozent der Befragten gaben an, im Falle von wissenschaftlichem Fehlverhalten bewusst die entsprechenden Stellen nicht kontaktiert zu haben [14]. Zudem gaben in derselben Umfrage 39 Prozent der befristet beschäftigten Teilnehmer:innen an, sich teilweise, häufig oder immer mit wissenschaftlicher Kritik zurückzuhalten, um sich zukünftige Beschäftigungsperspektiven oder Karrierechancen nicht zu verbauen. Lediglich 29 Prozent gaben an, sich nie mit wissenschaftlicher Kritik zurückzuhalten. Unter den unbefristet beschäftigten Teilnehmer:innen gaben 41 Prozent an, sich nie mit wissenschaftlicher Kritik zurückzuhalten [15].

Die Einhaltung der Regeln zur guten wissenschaftlichen Praxis sowie die Bereitschaft zum offenen akademischen Diskurs sind Grundwerte der akademischen Institutionen. Entsprechend wird es aus der Leitungsebene einer akademischen Forschungsinstitution kaum jemand geben, der öffentlich zugibt, dass es bei dem Leben und der Umsetzung dieser Werte an der jeweiligen Institution Probleme gibt. Die anonymen Befragungen von Promovierenden und Postdocs zeigen indes, dass dies offensichtlich doch der Fall ist.

Dabei gibt es auch jenseits der Befragungen weitere Gründe, an der konsequenten Einhaltung der guten wissenschaftlichen Praxis zu zweifeln. In der Biomedizin mehren sich die Berichte darüber, dass ein Großteil der biomedizinischen Studien nicht reproduzierbar ist [16]. Es ist anzunehmen, dass das Nichteinhalten der guten wissenschaftlichen Praxis sowie das Zurückhalten der akademischen Kritik einen signifikanten Einfluss auf die Nichtreproduzierbarkeit dieser Studien hat.

Für die folgende Thematik, so möchte ich voranstellen, gibt es keine grundsätzliche Uneinigkeit in der Kenntnis der Problematik, sondern eine Uneinigkeit in der Herangehensweise an das Problem.

Weltweit zeigen Befragungen von Promovierenden und Postdocs, dass sich die psychische Gesundheit der Teilnehmer:innen verschlechtert [17]. 55 Prozent der befragten Postdocs in der Max-Planck-Gesellschaft weisen mindestens milde depressive Symptome auf. 22 Prozent der Postdocs zeigen moderate bis schwere depressive Symptome. Bezüglich Ängstlichkeit (Anxiety) berichten 48 Prozent der Postdocs von mindestens milden Symptomen, 18 Prozent weisen moderate bis schwere Symptome auf [18]. Die Autor:innen des Survey Reports stellen dabei fest, dass die Prävalenz moderater bis schwerer depressiver Symptome im Vergleich zur entsprechenden Alterskohorte in der Gesamtbevölkerung um das Dreifache erhöht ist.

Basierend auf demselben Fragenkatalog erfragte das Max-Planck-PhDNet den psychischen Zustand der Promovierenden in der Max-Planck-Gesellschaft. 52 Prozent der Promovierenden zeigten mindestens milde depressive Symptome, 20 Prozent zeigten moderate bis schwere Symptome [19]. Im Komplex der Eigenschafts-Ängstlichkeit (trait anxiety) berichten 94 Prozent der befragten Promovierenden von mindestens milden Symptomen. 53 Prozent zeigten moderate bis schwere Symptome [20].

Dass diese Werte nicht spezifisch für die Max-Planck-Gesellschaft sind, zeigt die Umfrage der Helmholtz-Juniors unter den Promovierenden der Helmholtz-Gemeinschaft aus dem Jahr 2021 [21].

Inzwischen wird von einer globalen Mental Health Crisis in Academia gesprochen, die auf toxische akademische Strukturen zurückzuführen ist [22]. In „Mental Health Awareness Months“ wird auf das Thema aufmerksam gemacht. Es werden Artikel und Kontaktadressen bereitgestellt. Hochschulen verfügen darüber hinaus über psychologische Beratungsstellen. Trotz dieser Maßnahmen lässt sich keine Besserung in der Mental-Health-Situation der Promovierenden und Postdocs feststellen. Dies ist auch nicht zu erwarten, da die grundsätzliche Problematik der ungünstigen akademischen Strukturen nicht angegangen wird.

Befragungen von Promovierenden und Postdocs geben seit Jahren Einblicke in die systemischen Herausforderungen, mit denen diese zu kämpfen haben. Sie zeigen, wie sich Promovierende und Postdocs an die Gegebenheiten anpassen. Sie zeigen auch, wie sich diese Gegebenheiten auf die Karrierewünsche und -perspektiven auswirken. Wer ein Bild von der Zukunft der Akademie bekommen möchte, kann in den Befragungen erste Anhaltspunkte finden.

Umso erstaunlicher ist es, dass die Ergebnisse der Befragungen nicht viel breiter im akademischen System wahrgenommen und diskutiert werden. Häufig verlassen sich Entscheidungsträger:innen darauf, welche Rückmeldungen sie von einzelnen Promovierenden und Postdocs erhalten. Dass diese Antworten einerseits nicht repräsentativ und andererseits nicht ehrlich sein könnten, ist ihnen offensichtlich nicht immer bewusst.

Studierende lernen früh, strategisch richtige Antworten zu geben. Sie wissen, dass sie auf die Frage im Einstellungsgespräch zur Promotionsstelle, ob sie eine Professur anstreben würden, mit Ja antworten müssen, um eine Benachteiligung im Rekrutierungsprozess zu vermeiden. Dasselbe gilt für Postdocs. Sie wissen, dass vor allem die Projekte von denjenigen gefördert werden, die glaubhaft machen, dass sie Ambitionen auf eine Gruppenleitung beziehungsweise Professur haben.

Trotz der viel beschworenen Meritokratie in der Akademie sind sich die meisten Menschen im Mittelbau bewusst, dass ihre Karriere maßgeblich von den Empfehlungen derjenigen Personen abhängt, die hierarchisch über ihnen stehen. Eine negativ aufgefasste Kritik oder eine missverstandene Antwort kann fatale Konsequenzen für die eigene Karriere haben. Dieses Phänomen ist nicht neu, beschreibt doch schon „Des Kaisers neue Kleider“, welche Gefahren von einer steilen Hierarchie in Verbindung mit einem problematischen Kritikverhalten ausgehen.

In anonymisierten Umfragen gibt es allerdings keine „falschen“ Antworten. Promovierende und Promovierte können offen ihre Erfahrungen teilen. Durch die gewahrte Anonymität und die große Teilnehmer:innenzahl können vermeintliche Grenzfälle, wie etwa das Melden wissenschaftlichen Fehlverhaltens, betrachtet werden. Auch Scham-behaftete Themen wie die psychische Gesundheit können in derart sicheren Umfragen adressiert werden. Mithilfe der Umfragen können so die grundlegenden systemischen Probleme identifiziert werden. Dies möchte ich anhand der drei geschilderten Problemfelder demonstrieren.

Im Falle der guten wissenschaftlichen Praxis und des Verhaltens im akademischen Diskurs liegt ein Schluss nahe: Die befragten Teilnehmer:innen befürchten berufliche Nachteile, wenn sie Fehlverhalten melden würden. Außerdem halten sie sich mit Kritik zurück, weil sie ihre Berufsperspektiven nicht gefährden wollen.

Sie wissen selbst, dass ihre berufliche Zukunft entscheidend von ihrem wissenschaftlichen Output abhängt. Dabei zählt nicht jede wissenschaftliche Leistung gleich viel. Negativresultate werden beispielsweise fast nie publiziert. Unverhältnismäßig viel Gewicht kommt daher der Bestätigung einer möglichst spektakulären Hypothese zu, die möglichst in einem prestigeträchtigen Journal veröffentlicht werden kann. Dabei darf es keine Zweifel an den erzielten Ergebnissen geben. Dies setzt nicht nur Anreize dafür, bereits erzielte positive Resultate nicht mehr kritisch zu hinterfragen, sondern auch Resultate durch „Optimierung“ der statistischen Tests so erscheinen zu lassen, dass diese stimmig sind.

Die Reproduzierbarkeit einer Studie wird in der Regel nicht getestet und demzufolge auch nicht quantifiziert. Es ist nicht verwunderlich, dass die Reproduzierbarkeit nicht den ihr zustehenden Stellenwert aufweist. Vielmehr werden umgekehrt Anreize gesetzt, die gute wissenschaftliche Praxis zur Sicherung der eigenen Karriereperspektiven zu missachten beziehungsweise weit auszulegen.

Die Tatsache, dass die psychische Gesundheit der Promovierenden und Promovierten über Landes-, Disziplin- und Karrieregrenzen hinweg deutlich schlechter im Vergleich zu entsprechenden Alterskohorten der Gesamtbevölkerung ist, lässt nur einen Schluss zu: Die Arbeits- und Wettbewerbsbedingungen in der Akademie verursachen maßgeblich das gehäufte Auftreten von Symptomen aus dem Spektrum der Depression und Anxiety. Eine überdurchschnittliche Arbeitslast in Verbindung mit unterdurchschnittlichen Kompensierungsmöglichkeiten in Freizeit und Urlaub wirkt sich ungünstig auf die Psyche aus. Werden die unsicheren Karriereaussichten durch den scharfen Wettbewerb um feste Stellen hinzugezogen, überrascht die schlechte psychische Verfasstheit eines großen Teils der Promovierenden und Promovierten nicht mehr. Selbst die besten Bewältigungsstrategien können existenzielle Sorgen nicht ungeschehen machen.

Wer im deutschen akademischen System bleiben möchte, hat in der Regel nur eine Option: die Berufung auf eine Lebenszeitprofessur. Allerdings wird diese Karriere von einer Mehrheit des Mittelbaus gar nicht angestrebt. Folglich kommt es hier zu Zielkonflikten: Ausscheiden aus der Akademie oder Ausüben einer Tätigkeit, die nicht den eigenen Zielen entspricht und Fähigkeiten benötigt, die im Vorfeld nicht vermittelt werden.

Die Grundlage des akademischen Systems ist der Wettbewerb um Forschungs-Ressourcen und um Arbeitsstellen. Dieser Wettbewerb soll mittels „Bestenauslese“ sicherstellen, dass die am „besten geeigneten“ Wissenschaftler:innen im akademischen System bleiben und dieses gestalten können. Zur Feststellung, welche Kandidat:innen vermeintlich am besten geeignet sind, wird eine möglichst späte Selektion vorgenommen. Die Kandidat:innen müssen sich profiliert haben, um am Wettbewerb um die wenigen unbefristeten Stellen teilnehmen zu können.

Dieses System führt neben den drei schlaglichtartig betrachteten Spannungsfeldern zu einer Vielzahl weiterer Probleme, die miteinander verknüpft sind [23]. Im Zentrum dieser Spannungsfelder stehen die Arbeitsbedingungen in der Forschung und Lehre.

#IchBinHanna und #IchBinReyhan machen darauf seit zwei Jahren aufmerksam. Mit einer mutigen Reform des WissZeitVGs kann ein erster Schritt hin zu einer nachhaltigen und gesunden Akademie in Deutschland erfolgen. Grundlage einer solchen Reform muss eine frühere Aussicht auf eine Karriereperspektive im akademischen System sein.

Diese auf den Ergebnissen der Befragungen der Promovierenden und Promovierten basierende Forderung wird von einer ganzen Reihe von Organisationen und Gruppen unterstützt – im Einzelnen: NGAWiss, Max-Planck-PostdocNet, N2, GEW, verdi, DGB, freier zusammenschluss von student*innenschaften e.V. (fzs), Deutsche Gesellschaft für Juniorprofessur e.V. (DGJ), Bundeskonferenz der Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten an Hochschulen (bukof), RespectScience e.V. [24], der SPD-Bundestagsfraktion [25], der Bundesarbeitsgemeinschaft Wissenschaft, Hochschule und Technologiepolitik von Bündnis90/Die Grünen [26] sowie aktuell mehr als tausend Professor:innen [27].

Trotz der Problemlagen und breiten Forderung nach einer mutigen Reform zeigt sich jedoch, dass die akademischen Entscheidungsträger:innen die Probleme der Promovierenden und Postdocs nicht wahrnehmen. Anders kann das Diktieren der Befristungsregelung für promovierte Wissenschaftler:innen durch die Allianz der Wissenschaftsorganisationen [28] im Referentenentwurf zur Reform des WissZeitVGs [29] nicht verstanden werden.

Mit der vorgeschlagenen Regelung der vierjährigen bedingungslosen Befristung nach der Promotion mit einer optionalen zweijährigen Verlängerung der Befristung inklusive Anschlusszusage wird weder der Wettbewerbsdruck verringert, noch eine breitere Entfristung der Menschen im Mittelbau erfolgen.

Viel eher ist davon auszugehen, dass künftig Postdocs die Akademie nach vier Jahren verlassen oder auf Drittmitteln weiter beschäftigt werden, bis sie berufbar sind. Es scheint, als hätten der gerade aus dem Amt geschiedene Ex-Präsident der Max-Planck-Gesellschaft Martin Stratmann und Helmholtz-Chef Otmar Wiestler ihren Rat an die Bundesregierung, vor der Reform des WissZeitVGs mit den Promovierenden und Postdocs zu sprechen, selbst missachtet.

Eine Reform des WissZeitVGs gegen die Bedürfnisse der Promovierenden und Postdocs trägt unweigerlich zur Verschärfung der Problemlagen im Mittelbau bei. Es sei daher allen beteiligten Akteuren angeraten: Lest die Befragungen der Promovierenden und Postdocs und leitet daraus die dringend nötige -Reform der deutschen Akademie ab!

Referenzen

[1] https://tinyurl.com/2p856wz7
[2] Allianz der Wissenschaftsorganisationen, https://tinyurl.com/3s7sncpy
[3] V. Haucke, Laborjournal online, https://tinyurl.com/2p8c973h
[4] M. Stratmann & O. Wiestler, Frankfurter Allgemeine Zeitung, https://tinyurl.com/3dne6htm
[5] L. Böhm et al., Blog Jan-Martin Wiarda, https://tinyurl.com/54hsmp6j
[6] DZHW, 2023, https://tinyurl.com/3d7cyde8 & Max Planck PhDNet, https://www.phdnet.mpg.de/n2
[7] Max Planck PhDNet Survey Report 2021, Fig. 4.1
[8] Fiedler, D. et al., SSOAR, 2022, Fig. 3.4.3a und 3.4.3b, doi.org/kg52
[9] Max Planck PostdocNet Survey Report 2022, Fig. C.1.A
[10] Alexander-von-Humboldt-Stiftung, https://tinyurl.com/mwkx637k
[11] Max Planck PhDNet Survey Report 2018, Fig. 4.2
[12] g [11], Fig. 4.6
[13] g [11], Fig. 4.7
[14] Kuhnt, M. et al., NGAWiss, 2022, Tab. 9.1, https://doi.org/kg52
[15] g [14], Abb. 9.3
[16] Beispielsweise: T.M. Errington et al., Nat. Rev. Drug. Discov. 10: 712; C. Begley & L. Ellis, Nature 483: 531-3.
[17] E.N. Satinsky et al., Sci. Rep. 11: 14370.
[18] g [9], Fig. D.4
[19] Max Planck PhDNet Survey Report 2020, Fig. 3.1
[20] g [19], Fig. 3.3
[21] Helmholtz Juniors N2 Survey-Report 2021, Fig. 5.1a-c
[22] S. Hall, Nature 617:666-8
[23] L. Böhm & M. Gerloff, Blog Jan-Martin Wiarda, 21.02.2023 & 01.03.2023,
https://tinyurl.com/2mf27n28 & https://tinyurl.com/32e7affz
[24] NGAWiss, https://tinyurl.com/2p9yh9sb
[25] C. Wagner, Blog Jan Martin Wiarda, https://tinyurl.com/4ydtt65a
[26] Bündnis 90/Die Grünen, https://tinyurl.com/5xtpjr4t
[27] 14.06.2023, https://profsfuerhanna.de/
[28] Allianz der Wissenschaftsorganisationen, 30.03.2023, https://tinyurl.com/537uprku
[29] BMBF, https://tinyurl.com/ymzb95fh



Portraitfoto Michael Gerloff
Foto: MPI f. mol. Gen.

Zur Person

Michael Gerloff promoviert am Max-Planck-Institut für molekulare Genetik und engagiert sich bei SPDWissPol und NGAWiss.