Die Evolutionstheorie braucht keine Rettung
Antwortet Diethard Tautz, Plön ( ... auf Christoph Plieths Frage ab Seite 46.)

Von Diethard Tautz, Plön


Symbolbild: Rettungsring hängt über schwarzer Wolke, unter der ein Mann voran geht
Illustrationen: Tim Teebken - Bearbeitung Ulrich Sillmann
Editorial

(14.07.2023) Die Theorie der natürlichen Selektion erfüllt umfassend sämtliche Anforderungen, der sich die Evolutionstheorie stellen muss. Charles Darwin hatte sie schon damals in einem einzigen Satz zusammengefasst.

Als Darwin und Wallace 1858 ihre Ideen zur natürlichen Selektion als treibende Kraft des Evolutionsgeschehens vorstellten, fiel das in eine Zeit der großen Theorienbildung in allen Wissenschaftszweigen. Der Begriff „Evolutionstheorie“ stammt aus dieser Zeit und ist auch heute noch gebräuchlich, auch wenn es inzwischen weit mehr als eine Theorie ist. Leider gibt der Begriff auch immer wieder Anlass zu Missverständnissen. Diese reichen von „Es ist ja nur eine Theorie, die nicht bewiesen ist” bis zu „Es sind nur verbale Aussagen ohne axiomatische Basis“.

Editorial

Herr Plieth widmet sich in seinem Essay vor allem diesem zweiten Thema. Er fordert, dass eine gute Theorie in „präziser Sprache verfasst” sein soll, „dem Prinzip der minimalen Beschreibungslänge” folgen soll und auf „gut nachvollziehbaren Sets mit jeweils wenigen notwendigen und hinreichenden Grundsätzen” beruhen soll. Tatsächlich erfüllt die Theorie der natürlichen Selektion diese Vorgaben. Darwin hat sie in seinem Buch „Origin of Species” in einem einzigen Satz zusammengefasst:

„As many more individuals of each species are born than can possibly survive; and as, consequently, there is a frequently recurring struggle for existence, it follows that any being, if it vary however slightly in any manner profitable to itself, under the complex and sometimes varying conditions of life, will have a better chance of surviving, and thus be naturally selected.”

Dieser Satz fasst alle notwendigen und hinreichenden Elemente der adaptiven Evolutionstheorie zusammen:

1.) „individuals“ stellt das Individuum ins Zentrum des Evolutionsgeschehens. (Die späteren Ideen, einzelne Gene als Akteure des Evolutionsgeschehens zu definieren – Stichwort „Selfish Genes“ – konnte Darwin natürlich nicht berücksichtigen. Aber das ist eine andere Diskussion.)

2.) „vary however slightly“ hebt das essentielle Prinzip der Variation zwischen den Individuen hervor. Wir kennen heute die molekulare Basis der Variation – sowohl als Polymorphismen auf Nukleotidebene wie auch als epigenetische Variation.

3.) „profitable to itself“ impliziert, dass es Varianten geben muss, die an eine gegebene Situation besser angepasst sind.

4.) „complex and [...] varying conditions of life“ meint, dass es keine Zielrichtung der adaptiven Evolution gibt, außer sich immer wieder auf neue externe Verhältnisse einzustellen.

5.) „will have a better chance of surviving” besagt, dass es sowohl einen Mechanismus des Überlebens wie des selektiven Todes geben muss.

Manfred Eigen nutzte in seiner Theorie des Hyperzyklus zur präbiotischen Evolution genau die gleichen Voraussetzungen für ein evolvierbares System. Interessanterweise war er aber nicht bereit, die Theorie der natürlichen Selektion als Axiom zu akzeptieren – also als Prinzip, das sich nicht weiter auf fundamentalere Gesetze reduzieren lässt. Andererseits blieb er aber auch die Erklärung schuldig, warum dies nicht der Fall sein sollte.

Die einzige wesentliche Erweiterung der Evolutionstheorie seit Darwin ist die neutrale Evolutionstheorie, die aber erst entwickelt werden konnte, nachdem die Basis der Vererbung bekannt war. Die neutrale Theorie sagt vorher, welche Muster im Erbmaterial entstehen, wenn keine Selektion stattfindet. Die Evolution von Protein- und DNA-Sequenzen über die Zeit ist im Wesentlichen durch die Mechanismen der neutralen Evolution beschreibbar. Abweichungen von diesem Null-Modell der Evolution werden als Evidenz für das Wirken natürlicher Selektion herangezogen.

Alle biologischen Phänomene können innerhalb dieses Theorienpaares beschrieben werden. Sie erfüllen auch die Ansprüche, die Herr Plieth an die Entschlüsselung der Komplexität stellt: „Das Ziel ist es dabei, neben der minimalen Anzahl an Objekten und Eigenschaften die einfachsten Regeln zu finden, die notwendig und hinreichend sind.”

Auch die Forderung, dass die Theorie „deduktives Denken erlaubt und daher das Aufstellen von Hypothesen über bislang unbekannte Phänomene und nicht messbare Effekte durch logische Schlussfolgerung ermöglicht”, ist erfüllt. Aus der Kombination der Selektionstheorie und der neutralen Theorie ließ sich zum Beispiel vorhersagen, dass man in den DNA-Sequenzen von Populationen sogenannte „Selective Sweeps” finden müsste, also begrenzte Chromosomen-Regionen, in denen die Variabilität aufgrund eines adaptiven Ereignisses eingeschränkt ist. Nachweisen konnte man diese aber erst, nachdem sich die Methodik der Genomanalyse so weit entwickelt hatte, dass Polymorphismus-Daten in Populationen systematisch analysiert werden konnten. Der Nachweis der „Selective Sweeps” ist damit ohne Weiteres vergleichbar mit dem Nachweis von Gravitationswellen, den Herr Plieth für die Physik anführt.

Die Aussage von Herrn Plieth „Es ist zudem sehr wahrscheinlich, dass in dem, was man zurzeit an Daten und Erkenntnissen hat, noch kein vollständiges Set steckt, das Evolution mit all seinen Facetten zu erklären vermag” ist nicht nachvollziehbar, solange keine überzeugenden Beispiele geliefert werden, bei denen sich auch nach konsequenter Anwendung des oben genannten Theorienpaars noch Lücken auftun. Es gibt zwar auch vonseiten der Evolutionsbiologen eine Forderung nach einer Erweiterung der Evolutionären Synthese. Diese Forderung bezieht sich aber explizit auf die Erweiterung der sogenannten „Modernen Synthese” aus der Mitte des letzten Jahrhunderts. Diese ist aber keine eigene Theorie, sondern eine allgemeine Formulierung mathematischer Zusammenhänge – quasi das Umschreiben von Gleichungen in Naturgeschichte. Unsere Erkenntnisse der Naturgeschichte, Ökologie und Molekularbiologie haben sich jedoch inzwischen wesentlich erweitert. Insofern ist es berechtigt, dass man dieses „Umschreiben” in Bezug auf diverse neu entdeckte Phänomene fortschreiben möchte. Aber das rüttelt nicht an dem Fundament der Evolutionstheorie.

Die heutige Evolutionstheorie bietet einen umfassenden Erklärungsansatz für die Biosphäre, ähnlich wie die Gasgleichung für die Meteorologie. Aber ebenso wenig wie die Gasgleichung das Wetter von morgen vorhersagen kann, kann auch die Evolutionstheorie nicht den historischen Ablauf der Evolution vorhersagen. Wenn man also fordert, dass eine allgemeine Evolutionstheorie etwas Derartiges leisten muss, dann stellt man eine grundsätzlich falsche Frage.

Mathematische Sprache

Herr Plieth ist der Meinung, dass die Evolutionstheorie im Gegensatz zur Physik keine „mathematische Sprache” besäße. Er führt dazu aus, dass so eine Sprache „Objekte und ihre observablen Wechselwirkungen [...] in mathematischen Gleichungen zusammenfasst [...], sodass die Theorie von allen, die das erforderliche mathematische Rüstzeug besitzen, verstanden wird”. Tatsächlich lässt sich das oben beschriebene Theorienpaar ohne Weiteres in eine mathematische Sprache umsetzen, die sogar mit konkreten Formeln der Physik verglichen werden kann.

Zum Beispiel gibt es zwischen der neutralen Theorie und der Gastheorie klare Parallelen: Letztlich behandeln beide die zufällige Bewegung unabhängiger Teile. In der Gastheorie ergibt sich daraus eine Formel, die die Variablen „Druck“ (p), „Volumen“ (V) und „Temperatur“ (T) zueinander in Beziehung setzt:

p V = n R T
(n ist die Anzahl der Moleküle,
R ist die allgemeine Gaskonstante)

Für die Beschreibung von Allelen in Populationen gibt es eine Formel, die die Variablen „Heterozygotie“ (H), „effektive Populationsgröße“ (Ne) und „Mutationsrate“ (μ) in Beziehung zueinander setzt:

H = 4Ne m /(1+4Ne μ)

Beide Formeln beschreiben makroskopische Gesetze, die auf einer statistischen Beschreibung der mikroskopischen Welt beruhen. Beide Theorien beschreiben eine Art von Diffusion. Wenn man die Position eines bestimmten Teilchens zu einem bestimmten Anfangszeitpunkt kennt, kann man seine zukünftige Bewegung nicht genau vorhersagen, aber man kann eine Wahrscheinlichkeitsverteilung angeben. Wenn man die genaue Zusammensetzung der Allele an einem bestimmten Ort zu einem bestimmten Zeitpunkt kennt, kann man ihr genaues Schicksal nicht vorhersagen, aber man kann eine Wahrscheinlichkeitsverteilung für die zukünftige Zusammensetzung der Allele angeben. So kann man den Diffusionsterm in den beiden Formeln in Beziehung setzen: Er ist proportional zur Temperatur T für das Gas und proportional zu 1/Ne für eine Population [1].

Es gibt aber auch mathematisch formulierbare Schnittpunkte zwischen der Selek­tionstheorie und der neutralen Theorie mit einer Analogie zur Heisenbergschen Unschärferelation [2]. Der ehemalige Münchener Evolutionsbiologe Wolfgang Stephan hat das wie folgt hergeleitet:

Die Heisenbergsche Unschärferelation besagt, dass es aufgrund der inhärenten Quantenfluktuationen unmöglich ist, die Werte bestimmter Paare physikalischer Variablen, die das Verhalten eines atomaren Systems beschreiben, genau und gleichzeitig anzugeben. Zu diesen „kanonisch konjugierten” Paaren von Variablen gehören die Koordinate eines Teilchens und die entsprechende Komponente des Impulses sowie die Energie (E) und die Zeit (t), zu der sie gemessen wird. Das Produkt der beiden Variablen muss für eine Messung dabei größer sein als die Planck-Konstante h geteilt durch 4π (ΔE * Δt > h/4π). Eine biologische Entsprechung findet sich in dem Problem, die Wirkung der Selektion von molekularem Rauschen zu unterscheiden, das durch die neutrale Evolution verursacht wird. Betrachtet man die Dynamik einer vorteilhaften Mutation mit einem Selektionsvorteil (s) in einer diploiden Population der effektiven Größe Ne, so kann man die differentielle Fitness (Δw) des vorteilhaften Allels und die Zeit (Δt), gemessen in Anzahl der Generationen, als die „kanonisch konjugierten” Paare betrachten. Daraus ergibt sich die Formel Δw * Δt > 1/2Ne, wobei Δw die Fitnessdifferenz zwischen dem selektierten Allel und der mittleren Fitness der Population ist. Daraus folgt, dass die Bestimmung der Fitness des Systems in jeder Generation mindestens um den Betrag Δw = 1/2Ne unsicher ist.

Die Evolutionstheorie beruht also durchaus auf einer mathematischen Sprache, die jedoch von Evolutionsbiologen meist in eine Alltagssprache übersetzt wird. Daraus sollte man aber nicht folgern, dass kein ausreichendes Theoriengebäude existiert.

Offene Fragen?

Wie kann man vor diesem Hintergrund die ganz konkreten Fragen beantworten, die Herr Plieth aufwirft? Ich greife dazu beispielhaft einige heraus:

» „Wie deterministisch ist natürliche Evolution lebender Systeme?” beziehungsweise „Bringt die Evolution unter vorgegebenen Umweltbedingungen zwangsläufig immer die gleichen konvergenten Anpassungen hervor?“

Als Nullmodell nimmt die Evolutionstheorie an, dass die Mutationen als Treiber der Evolution zufällig sind, ebenso wie die Bewegung von Gasmolekülen. Aus diesen Zufallsmechanismen lassen sich aber deterministische Gesetzmäßigkeiten ableiten. Mit einer gegebenen Rate zufälliger Mutationen und einem gegebenem Selektionskoeffizienten lässt sich die adaptive Veränderung einer Population deterministisch beschreiben – allerdings nur unter idealen Bedingungen, die man eigentlich nur in einer Computersimulation erreichen kann. Reale Bedingungen sind aber immer viel komplexer. Auch das Gas in unserer Atmosphäre ist viel komplexer. Unter ähnlichen Bedingungen werden ähnliche Wolken entstehen, aber Wolken werden nie identisch sein. Unter ähnlichen ökologischen Bedingungen wird auch konvergente Evolution stattfinden, aber die daraus entstehenden Spezies werden nie identisch sein. Ob man das deterministisch nennen möchte, ist dann eher eine semantische Frage.

» „Ist der von Darwin begründete Gradualismus der Zeitgeber im Evolutionsgeschehen oder sind es eher saltatorische Ereignisse?“

Dies stellt letztlich die Frage nach der Effektgröße von Mutationen, die man inzwischen sehr gut beantworten kann. Man kann in genomweiten Assoziationsstudien (GWAS) die Effektgrößen aller gemessenen Polymorphismen bestimmen. In der Regel erhält man dabei eine exponentielle Verteilung – mit wenigen Polymorphismen, die einen großen Effekt haben, und sehr vielen mit zunehmend kleineren Effekten. Interessanterweise sind Polymorphismen mit großem Effekt innerhalb der Population in der Regel selten, beim Menschen sind sie oft mit Krankheitsphänotypen verbunden. Es ist daher davon auszugehen, dass Mutationen mit „saltatorischem” Effekt in der Regel einer negativen Selektion unterliegen.

Man kann aus Polymorphismus-Daten in Populationen auch den Anteil an negativ und positiv selektierten Mutationen abschätzen. Nehmen wir Retrogen-Transpositionen – Fälle also, in denen mRNA wieder in DNA umgeschrieben wird, die dann zurück ins Genom integriert. Auch diese kann man als „saltatorisch” bezeichnen. Hier haben wir zum Beispiel gefunden, dass der ganz große Anteil von ihnen unter negativer Selektion steht, sodass sie schnell wieder verloren gehen. Aber einige wenige können auch positiv selektiert werden.

» „Wie kam es eigentlich zu der ungeheuren Entfaltung von Vielfalt und Komplexität in der belebten Natur, wie wir sie heute erleben?”

Auf der Basis der Parameter, die wir heute kennen, stellt dies kein ungelöstes Problem für die Evolutionstheorie dar. Die wichtigsten Parameter sind dabei die Mutationsrate und die Zeiträume. Die Punktmutations-Rate liegt um die 10-9 pro Nukleotid pro Generation. Das klingt niedrig, aber wenn man das mit der Genomgröße und den tatsächlichen Populationsgrößen – insbesondere der Zahl der Nachkommen pro Generation – multipliziert, kann man folgern, dass für die meisten Spezies praktisch an allen Stellen des Genoms spätestens in wenigen Generationen alle denkbaren genetischen Varianten generiert werden. Dazu gibt es auch noch die vielen Spielarten von strukturellen Mutationen, mit noch höheren Raten.

Generell kann man daher davon ausgehen, dass adaptive Evolution nicht auf neue Mutationen warten muss, um neue Anpassungen zu generieren – vielmehr sind diese in aller Regel bereits in der Population vorrätig. Ein Anpassungszyklus mit mittelstarkem Selek­tionskoeffizienten benötigt etwa 100 bis 1.000 Generationen. Spezies mit jährlichem Generationswechsel können daher rund 1.000 bis 10.000 sukzessive Anpassungszyklen innerhalb einer Million Jahre durchlaufen – was evolutionär gesehen eine vergleichsweise kurze Zeit ist. Dank Rekombination können Anpassungszyklen auch parallel verlaufen – das heißt, es kann auch noch viel schneller gehen. Dies wird insbesondere in Radiationsphasen passieren, wenn sich Umweltbedingungen drastisch verändert haben, was wiederum die Selektionskoeffizienten für vorteilhafte Mutationen in die Höhe treibt.

» „Welche Lern- und Rückkoppelprozesse sind notwendige Antriebsfedern für Evolution?“

Es gibt gut bekannte biotische Rückkoppelungsprozesse, die zu einem kontinuierlichen Fortschreiten der Evolution führen. Dazu gehört zum Beispiel die Koevolution von Wirt-Parasit-Beziehungen. Entsteht beispielsweise bei einem Wirt eine Resistenz gegen einen Parasiten, wird dieser eine Anpassung entwickeln, mit der er die Resistenz überwindet. Dadurch entsteht ein kontinuierlicher Evolutionswettlauf, der ständig neue Diversität generiert.

Evolutionäre Rückkoppelungsprozesse sind auch im Zusammenhang der Evolution von Sozialsystemen und Kooperation von Bedeutung. Sie werden mit den statistisch-mathematischen Methoden der Spieltheorie bearbeitet, die auch in den Wirtschaftswissenschaften intensiv genutzt werden. Weiterhin sehen Modelle zur adaptiven sympatrischen Evolution die assortative – also nicht-zufällige – Paarung als Komponente vor, was man ebenfalls als Rückkoppelungsprozess bezeichnen kann.

» Gibt es „ [...] eine über Erdzeitalter hin sich entwickelnde Zunahme der Komplexität“?

Oft wird angenommen, dass Evolution ein Prozess ist, der zu kontinuierlicher Erhöhung der Komplexität führt – auch der Text von Herrn Plieth macht diese Annahme an verschiedenen Stellen. Bei Wirt-Parasit-Beziehungen ist das potenziell auch der Fall, aber sie enden mit dem Aussterben des Wirts oder des Parasiten. Die reale Evolution ist generell durch solche Aussterbeereignisse punktuiert, die sowohl durch externe als auch durch biotische Mechanismen getriggert werden.

Das erste gut dokumentierte Massenaussterben auf der Erde wurde durch die Evolu­tion der Photosynthese ausgelöst. Freier Sauerstoff ist das reine Gift für alle Lebewesen, die keine Sauerstoffatmung kennen – und er verändert fundamental die geochemischen Bedingungen der Erde. Konsequenz war, dass die Erde vor 2,2 Milliarden Jahren für mehrere hundert Millionen Jahre zu einem Eis-Planeten wurde. Bestes Beispiel für eine abiotisch ausgelöste Aussterbekatastrophe war der Einschlag eines großen Meteoriten vor 66 Millionen Jahren. Bei solchen Aussterbezyklen werden immer wieder ganze evolutionäre Linien ausgelöscht, inklusive ihrer bis dahin entstandenen Komplexität. Der Meteorit hat beispielsweise die Linie der Ammoniten vollkommen ausgelöscht. Er hat auch die ökologische Dominanz der Dinosaurier beendet – und damit einer schon vorher begonnenen Radiation der Säugetiere zu einer großen Breite verholfen. Durch diese punktierenden biotischen und abiotischen Ereignisse gibt es also keine kontinuierliche Zunahme biologischer Komplexität. Interessanterweise kann man davon ausgehen, dass die größte Diversität evolutionärer Linien vor etwa 800 Millionen Jahren existiert hat – seitdem hat es nur noch Reduktionen durch Aussterbeereignisse gegeben.

In einem solchen Zusammenhang sehen manche ja gerne den Menschen an der Spitze der Evolution. Genau genommen war er aber eine der vielen Spezies, für die ein vorzeitiges Aussterben viel wahrscheinlicher gewesen wäre. Mit langer Generationszeit und kleiner Populationsgröße gehörten die ursprünglichen Populationen zu denen, die an sich nicht genügend Mutationsreserve hatten, um auf jede ökologische Herausforderung zu reagieren. Dazu kam sein hypertrophes energiehungriges Gehirn, das einen kontinuierlich hohen Input an hochwertiger Nahrung benötigt, die nur unter günstigen Umständen bereitsteht. Tatsächlich sind ja alle Parallel-Linien des modernen Menschen ausgestorben – im Gegensatz etwa zu den parallelen Linien der Schimpansen oder Gorillas. Was den modernen Menschen gerettet hat, war die kulturelle Evolution – anfangs wohl vor allem die Jagd mittels Wurfwaffen sowie der Gebrauch des Feuers, um Nahrungsmittel werthaltiger zu machen. Diese Art der kulturellen Evolution ist für den Menschen einmalig. Und zum Teil geht sie einher mit biologischer Evolution – beispielsweise mit dem Umbau des Kugelgelenks der Schulter, um Speere schleudern zu können, oder mit der Optimierung des Handskeletts für den Werkzeuggebrauch. Insofern scheint es so, dass auch kulturelle Evolution ausreichend mit einer daran angepassten adap­tiven Evolutionstheorie beschrieben werden kann. Die Bemühungen dazu sind aber noch etwas rudimentär. Zumal dazu auch verschiedene Disziplinen in einen Dialog treten müssten, unter anderem etwa Kultursoziologen, Historiker und Evolutionsbiologen.

Schlussbetrachtung

Die breite Öffentlichkeit versteht von der Evolutionstheorie in der Regel nur das „Survival of the Fittest” und von der allgemeinen Relativitätstheorie nur „Alles ist relativ“. De facto sind beides ja auch tiefschürfende Erkenntnisse, aber um sie in allen Konsequenzen zu verstehen, muss man sehr tief einsteigen. Man bekommt oft das Gefühl, dass dies für die allgemeine Relativitätstheorie weitgehend anerkannt ist, während das Thema Evolutionstheorie gerne mit dem Adjektiv „umstritten” kombiniert wird. Dies verkennt aber, dass Evolutionstheorie insbesondere mit den neuesten Daten und Erkenntnissen de facto mindestens gleich gut abgesichert ist wie die Relativitätstheorie. Herr Plieth fordert, dass man „ihre Schwächen erkennen” sollte. Aber bei konsequenter Betrachtung dessen, was wir heute inzwischen alles wissen, bleiben nicht mehr viele Schwächen übrig. Die größte derzeit anstehende Herausforderung für die Evolutionstheorie ist die Integration der Erkenntnisse der polygenen Genetik. Dafür gibt es bisher nur erste Ansätze, eine erweiternde Theorienbildung ist hier durchaus denkbar.

Referenzen

[1] Tautz, D. & Lässig, M., 2004, Trends Genet. 20: 344-46
[2] Tautz, D., 2000, Trends Genet. 16: 475-77



Portraitfoto Diethard Tautz
Foto: MPI f. Evol.-biol.

Zur Person

Diethard Tautz ist Direktor am Max-Planck-Institut für Evolutionsbiologie in Plön.