Editorial

Praktikum

Aus dem Tagebuch einer Jungforscherin

Karin Bodewits


Jungforscherin

„Mal ganz im Ernst: Ich kenne noch nicht einmal die Namen der einzelnen Glasgeräte, die Ihr Chemiker so verwendet“, sage ich zu Peter, einem Doktoranden aus meiner Arbeitsgruppe, als wir zu den Praktikumslaboren schlendern.

„Du musst heute nur Redoxreaktionen machen. Das wird schon passen.“

„Das ist ja mein Problem, ich könnte genauso gut Ballett unterrichten. Ich weiß gar nichts über Redoxreaktionen.“

Peter lacht: „Du weißt immer noch mehr darüber als die Studenten.“

Mein Chef hatte mich für das Drittsemester-Chemiepraktikum eingetragen. Ich hatte mich zwar darum bemüht, mein Chemiewissen auf Vordermann zu bringen, doch wenn mich das bereits qualifiziert, es auch zu unterrichten, dann sind die Tage der Chemie als ernsthafter Wissenschaft wohl gezählt. Ich bin ja immer noch Biologin. Und ich habe tatsächlich Bammel vor übermotivierten Studenten, die mich mit einer Frage auf dem falschen Fuß erwischen könnten.

Als ich jedoch die Studenten in den Gängen vor dem Praktikumsraum sehe, verfliegt meine Nervosität langsam: Keiner von ihnen sieht furchtbar motiviert aus.

„Warum gehört die Lehre gleich noch mal zum Promotionserlebnis?“, murmele ich zu mir selbst, bevor ich das große neue Praktikumslabor betrete.

Zwei Damen aus der Chemie geben allen Doktoranden der Praktikumsbetreuung noch ein paar letzte Hinweise, bevor sie die großen weißen Türen öffnen, um die Studenten reinzulassen.

Langsam tröpfeln die Studenten herein, fast wie eine Herde Schafe beim Schlachter. Im Schlendergang suchen sie den Raum ab, um ihre Tischnummer zu finden.

„Was haben die denn geraucht?“, wispert mir Leszek zu, ein großer Pole, der seine Promotion in anorganischer Chemie macht. „Die hatten wahrscheinlich eine Party gestern Abend“, sage ich. „Ja, zu viel Wodka.“

Die Studenten brauchen einige Minuten, um die Herkules-Tat der Platzsuche abzuschließen und sich Laborkittel und Schutzbrillen überzuziehen. Ich erkläre in drei Sätzen, was wir am Nachmittag tun werden und wie lange das Experiment voraussichtlich dauern wird. Da sowohl die Studenten als auch ich selbst ein Interesse daran haben, die Sache so schnell wie möglich über die Bühne zu bringen, ermutige ich sie, gleich mit dem Zusammenpipettieren der Lösungen zu beginnen.

Während ich warte, bis die Studenten ihre Experimente beendet haben, höre ich, wie Leszek engagiert über sein Experiment spricht. Enthusiasmus und Leidenschaft bersten förmlich aus ihm heraus und er kritzelt das Whiteboard mit Formeln und Skizzen voll, als gäbe es nichts Interessanteres auf der Welt. Er ist der geborene Chemielehrer. Es ist richtig und gut, dass er hier steht. Es ist falsch und unpassend, dass ich hier bin. Ich wünschte, ich wäre so fröhlich und leidenschaftlich wie Leszek, aber Redoxreaktionen sind einfach nicht meins...

Einige Studenten kommen schnell voran, die meisten aber weniger. Sie kämpfen sich durch ihr Experiment und arbeiten so langsam, als hätten wir alle Zeit der Welt. Ich schaue mich derweil ein wenig um. Leszek geht aufmerksam zwischen den Labortischen umher und beantwortet alle möglichen Fragen. Eine Studentin steht etwas ratlos am Abzug und Leszek beschließt, dass sie Hilfe braucht. Er nimmt ihr den Scheidetrichter aus der Hand und sagt: „Du musst den wirklich kräftig mit zwei Händen durchschütteln, nicht nur schwenken.“ Er hält den Trichter an beiden Enden fest und schüttelt ihn kräftig durch, damit sich die Phasen darin gut vermischen.

„So“, schließt er seine Erklärung ab, bevor er den Glastrichter an die Studentin zurückgibt.

„Aber Leszek“, sagt sie, „ich habe doch nur eine Hand.“

Meine Augen und die von Leszek wandern an ihrem Arm herunter. Sie hat in der Tat nur eine Hand, der andere Arm hört bei ihrem Handgelenk auf.

Leszek starrt sie ungläubig an, unsicher, was er sagen soll. Hilflos schaut er mich an, als ob ich eine Lösung für die Situation haben könnte. Ich zucke mit den Schultern und schüttele leicht den Kopf. „Was ist denn los mit dieser Welt?“, sagt er in viel stärker osteuropäischem Akzent als normalerweise. „Das ist sehr gefährlich“, fügt er nach ein paar Sekunden der Stille hinzu, in denen er den Trichter wieder an sich nimmt.

Man erkennt deutliche Spuren von Schreck in seiner Stimme und Körperhaltung. „Was machst Du in einem Chemielabor?“

Die Studentin schaut niedergeschmettert drein, doch dann dringt Wut in ihre Züge. „Schon mal was vom Gleichbehandlungsgesetz gehört?“, bricht die Empörung aus ihr heraus.

„Gleichbehandlung ist sehr wichtig, keine Frage, aber ein Blinder kann kein Busfahrer werden. Und meiner Meinung nach sollte eine Einarmige nicht ohne Hilfe in einem Labor arbeiten müssen. Das gefährdet nicht nur Dich selbst, sondern auch alle anderen um Dich herum. Hat Dir niemand erzählt, dass das keine gute Idee ist?“

„Nein“, sagt sie erzürnt. Aber nach einer gewissen Pause bespricht sie sich mit einem Kommilitonen, der ihr bei den beidhändigen Schritten hilft.

Leszek kommt auf mich zu. „Was meinst Du denn dazu? Wird durch so etwas wirklich die Gleichbehandlung gefördert?“

So kommt sie also doch noch. Die Frage, die ich nicht beantworten kann.



Letzte Änderungen: 04.07.2018