Editorial

Beim Arbeitsamt

Aus dem Tagebuch einer Jungforscherin

Karin Bodewits


Jungforscherin

Kurz vor neun Uhr morgens. Ich trage dicke Handschuhe, einen langen Wollmantel und schiebe mich langsam mit einer Schlange Menschen aus dem U-Bahnschacht an die Oberfläche. Draußen angekommen beginne ich sofort, vor Kälte zu bibbern. Mein Mantel hilft mir kaum.

Umgeben von einer Traube Menschen trotte ich auf die Straße. Die meisten Leute laufen nach Norden, in Richtung des Campus und des Geschäftsbezirks. Eine kleinere Gruppe wartet an der Ampel, um nach Westen abzubiegen. Ich bin eine davon, aber ich gehöre hier eigentlich nicht hin.

Wir alle wissen, was heute unser Ziel ist. Das weiß-rote Schild, das uns den Weg weißt, hätte man genauso gut auf unsere Stirn tätowieren können. Einige verlorene Seelen scannen nervös die Umgebung, als seien sie miserabel ausgebildete Geheimagenten. Die Schmach hängt schwer wie eine dunkle Wolke über den Köpfen, über diesen Leben, über dieser unsicheren Zukunft.

Ich glaube, ein Gefühl der Scham in der Luft zu spüren, als seien es ehemalige Drogenabhängige, die der Versuchung von ein wenig Methadon nicht widerstehen können. Ein Gefühl, von dem man wohl beschlichen wird, wenn man seine Partnerin in den letzten Monaten ihrer Schwangerschaft betrügt. Eine Schande, als würde man eine dieser rot beleuchteten Filmkabinen in einem schmierigen Viertel betreten. Ein Gefühl der Schande, von dem ich nicht einmal weiß, ob es nur in meiner eigenen Vorstellung existiert. Ein Gefühl der Schmach, das ich in ihrer Situation sicherlich verspüren würde.

Einige von ihnen tragen Freizeitkleidung, manche praktische Outdoorjacken. Wissenschaftler wie ich, nehme ich an. Viele von ihnen tragen Aktenkoffer und sind angezogen, als würden sie in einer halben Stunde in ihr erstes Meeting gehen – obwohl wir alle wissen, dass das nicht passieren wird. Einige Männer in Anzügen grüßen sich betont fröhlich, als wollten sie damit bedeuten: „Wir gehören doch beide nicht hierhin.“ Aber wenn alle nicht hierhin gehören, wer tut es dann?

Vor ein paar Jahrzehnten sah dieser Pilgerzug zur Arbeitsagentur noch anders aus: Arbeiter, die Probleme hatten, eine Anstellung zu finden. Heute sind hier viele Akademiker, auch viele meiner Wissenschaftler-Kollegen, die den Pfad nach Santiago de Beneficios beschreiten. Der Arbeitsmarkt hat sich grundlegend geändert, doch bleiben die Hochschulen gebärfreudig und erzeugen eine immer größer werdende Flut an Absolventen – und viele, viele Doktoren.

Vielleicht sollten wir kollektiv nach einer akademischen Geburtenkontrolle rufen? Tun wir aber nicht. Die Politiker in unserer Wissensgesellschaft warnen vor dem drohenden Fachkräftemangel, ohne Fachrichtungen oder andere Details zu nennen. Die Hochschulen selbst profitieren von dem endlosen Angebot an Doktoranden; eine Flut von billigen und willigen Arbeitskräften.

Und wir selbst? Schon in frühen Jahren wird uns eingehämmert, welch hohen Wert die Bildung hat; etwas zu wissen, ist mehr wert, als etwas zu tun. Und so haben wir auf jeden Zimmerer fünf Manager und acht Marketingexperten für jede Reinigungskraft. Finanzielle Sicherheit ist keine automatische Beigabe des Doktortitels mehr, das wissen wir. Aber es würde zu sehr schmerzen, das zuzugeben.

Vor fünfzehn Jahren glaubte ich, dass wir Wissenschaftler nach dem Studium den Klimawandel aufhalten, Krebs bekämpfen und den Hunger aus der Welt vertreiben werden. Aber wenn wir dann endlich einen Beitrag leisten könnten und unsere Gehirne bereit wären, der Gesellschaft zu dienen, sind viele von uns überflüssig. Wir können keine Lampe anschrauben und unsere Hirne will auch niemand. Aber ich habe Hoffnung. Ich werde es schaffen. Ich muss es schaffen!

Ich gehe die Stufen zur Arbeitsagentur hinauf, ziehe eine Nummer und warte vor einer der Türen. Ich nehme ein Bonbon aus meinem Rucksack und lasse es auf meiner Zunge schmelzen.

Nach einer halben Stunde werde ich hereingerufen. Ich reiche einer blonden Dame mittleren Alters meinen Lebenslauf.

„Was kann ich für Sie tun?“, fragt sie mich freundlich, als sie das Dokument überfliegt.

„Nur die obligatorische Anmeldung. Mein Vertrag läuft in drei Monaten aus“, entgegne ich ebenso freundlich.

„Das scheint Sie ja nicht sonderlich zu stören“, stellt sie fest.

„Der Vertrag wird sicherlich verlängert.“

„Meinen Sie?“, erkundigt sie sich und lässt ihre Augen nicht mehr von meinem Gesicht.

„Wir haben uns um Drittmittel beworben. Ich bin optimistisch.“

Sie lächelt müde, ein Hauch von Mitgefühl zieht über ihr Gesicht. Sie schiebt einen Flyer über den Tisch. „Das ist ein Bewerbungstraining, das wir anbieten. Melden Sie sich schon jetzt an. Und hier ist ein Fragebogen zu Ihren Fähigkeiten, den Sie gleich heute ausfüllen können. Im Juli beginnt ein neues Training für Lebenswissenschaftler. Es ist ein fünfmonatiges Vollzeitprogramm speziell für diejenigen, die in die Industrie wechseln möchten. Viele Teilnehmende finden bereits vor dem Ende des Kurses eine Anstellung.“

Für einen kurzen Moment denke ich, dass ich im falschen Film gelandet bin. „Aber wir brauchen das alles doch gar nicht. Mein Vertrag wird verlängert.“ Die Dame reicht mir ihre Karte. „Es ist besser, Sie fangen gleich damit an. Rufen Sie mich einfach an, wenn Sie es dann doch nicht brauchen. Okay?“ „Okay“, antworte ich kleinlaut. Und plötzlich fühle ich mich, als gehörte ich doch hier hin. Ich bin eine von ihnen. Und schäme mich.



Letzte Änderungen: 04.07.2018