Editorial

Die Bewerbung

Aus dem Tagebuch einer Jungforscherin

Karin Bodewits


Jungforscherin

Ich schreibe gerade eine E-Mail an einen Kooperationspartner, als ich plötzlich einen dumpfen Schlag vom anderen Ende des Büros höre. Lilly hat ihren Schädel einfach seitlich auf die Tischplatte knallen lassen. In ihren Händen hält sie ein Blatt Papier und einen Kugelschreiber. Diesen Gesichtsausdruck hatte ich an ihr noch nie gesehen...

Lilly ist perfekt. Sie ist intelligent, offen und fröhlich. Offenbar wurde sie noch nicht von Jahren des Limbotanzes zwischen befristeten Verträgen zermürbt. Oder von abgelehnten Anträgen und nörgelnden Studenten. Sie braucht weder teuren Schmuck noch knallige Kleidung, um zu strahlen. Ihre braunen Locken und ihre gesunden rosafarbenen Wangen reichen dafür völlig aus. Sie scheint im inneren Gleichgewicht zu sein, ohne Vorurteile oder Launen. Selbst wenn die Studenten und ihre Kollegen – mich eingeschlossen – unser Büro mit der Geräuschkulisse einer Kneipe erfüllen und damit konzentriertes Arbeiten unmöglich machen, packt sie ruhig ihre Sachen und zieht in die Bibliothek um. Immer habe ich ihre Ruhe und Ausgeglichenheit bewundert. Und jetzt das...

„Lilly, was ist los?“, frage ich besorgt. Meine Augen sind auf ihrem Kopf gerichtet, der seit einer Weile auf der Tischplatte ruht.

„Ich schreibe meinen Lebenslauf“, schluchzt sie und bringt ihren Kopf langsam in eine vertikale Position zurück.

„Du bewirbst Dich?“

„Noch nicht. Aber ich bereite gerade eine Bewerbung auf diese Stelle als Medical Science Liaison Manager vor, bei einer Firma im Süden der Stadt“, erklärt sie und zeigt auf ein Magazin auf ihrem Schreibtisch.

„Du willst die Uni verlassen?“, entgegne ich überrascht.

„Was? Du hast doch gute Karten für eine Professur“, wirft Markus, ein Postdoc, ein.

„Es ist eine recht spontane Entscheidung. Mein Projekt steckt gerade in der Sackgasse, und genau da sehe ich auch meine akademische Karriere. Ich bin es leid umzuziehen. Und eine Forschungskarriere würde mich dazu zwingen, noch ein paarmal umzuziehen...“

„Findest Du es kein Privileg, an all diesen Orten leben zu können?“, frage ich überrascht.

„Ein paarmal was Neues zu sehen, ist ja schön, aber irgendwann fühlt man sich doch wie ein heimatloser Mensch, ohne Freunde und Familie in der Umgebung. Ohne all die Bindungen, Verpflichtungen und gemeinsamen Erinnerungen, die andere Leute haben.“

„Ja, das ist wohl der Preis, den man zahlen muss, um das Wissen der Menschheit vergrößern zu dürfen“, meint Markus.

„Dieser Preis ist mir zu hoch. Es wird jedes Mal schwerer, wieder von Neuem anzufangen, sich wieder dazu aufzuraffen. Mir gefällt diese Stadt hier wirklich sehr. Ich habe Freunde, eine schöne Wohnung... Der Gedanke daran, all das wieder aufzugeben, um woanders hinzuziehen... Ich denke, das wäre nicht gut für mein Seelenleben... Schon der Gedanke daran deprimiert mich.“

„Und mich macht der Gedanke traurig, dass Du uns verlassen wirst“, sage ich kleinlaut.

„Ha, das wird so schnell nicht passieren. Wenn ich mir meinen Lebenslauf so ansehe, stehen meine Chancen verdammt schlecht“, sagt sie und zeigt auf das Blatt in ihrer Hand.

„Ach, komm‘ schon. Du bist großartig! Als Wissenschaftlerin, und als Person erst recht!“

„Vielleicht mögen mich die Leute, Donald Duck ist ja auch sehr beliebt. Aber mein Lebenslauf ist Mist! Im Grunde habe ich in mehreren Forschungsprojekten immer mehr oder weniger dasselbe getan. Meine Verantwortung innerhalb der Projekte ist dabei über die Jahre im Schneckentempo gewachsen. Meine finanzielle Abhängigkeit von Drittmittelgebern und meine Lehrverpflichtungen sind parallel dazu ebenfalls angewachsen. Ich habe Jahre meines Lebens einem Projekt gewidmet, an das ich einmal geglaubt habe, aber mittlerweile scheint das nicht mehr als einzige Existenzberechtigung auszureichen. Und abgesehen von der Forschung habe ich herzlich wenig getan“, schimpft sie.

„Deine Bescheidenheit ehrt Dich, aber Du hast doch sicherlich vieles, was ein bisschen Angeberei rechtfertigt”, meint Markus.

„Natürlich hast Du das“, klinke ich mich ein. „Du hast in mehreren Ländern gelebt, aber das ist ja nur der Anfang. Du bist fantastisch in der Lehre. Du hast prestigeträchtige Stipendien an Land gezogen. Du machst viel Sport, hast da sogar Preise gewonnen, oder?“

„Nein, stimmt gar nicht. Das einzige Rekordverdächtige in meinem Leben wäre die wahrscheinlich längste Serie von fehlgeschlagenen PCR-Reaktionen.“

„Stopp, den Rekord halte ich“, lacht Markus. Schnell schiebt er nach: „Aber Du hast durchaus ein Talent darin, immer nur die untere Hälfte einer Excel-Tabelle auszudrucken.“

„Das gehört aber nicht in die Sektion ‚Preise‘, sondern ‚Fähigkeiten‘“, lacht Lilly endlich wieder. „Und ich habe noch gelernt, aus Versehen meinen E-Mail-Posteingang zu leeren.“

„Netflix, kannst Du das noch?“, frage ich.

„Aber sicher doch.”

“Und was ist daran so gut?”, fragt Markus.

„Es ist gar nicht so einfach, sich bis tief in die Nacht hinein eine ‚The Office‘-Folge nach der anderen anzusehen, wenn man am nächsten Tag wieder früh aufstehen muss“, erklärt Lilly.

„Das kann ich bestätigen“, nicke ich den beiden zu.

„Gut, da haben wir es ja. Du hast also in Wahrheit mehr geschafft, als Du gedacht hast“, fasst Markus unsere Aufmunterungsversuche zusammen.



Letzte Änderungen: 09.10.2018