Emotionale Inkontinenz

Aus dem Tagebuch einer Jungforscherin

Karin Bodewits


Editorial

Jungforscherin

Um 11:55 Uhr öffne ich die Tür mit dem gelben Schild für den biologischen Sicherheitsbereich. Ein starker E.coli-Geruch zieht durch meine Nase und eine unserer Master-Studentinnen tänzelt mit Ohrhörern in den Ohren an ihrem Labortisch. Sie merkt nicht, dass ich reingekommen bin.

Ich beobachte, wie sie sich trotz ihres ausladenden Formats scheinbar schwerelos im Rhythmus bewegt, zumindest in ihrem aktuellen geistesvergessenen Zustand. Ein paar Stunden pro Woche arbeitet sie in unserem Labor. Selbstsicher macht sie ihr eigenes Ding und ignoriert die restlichen Laborbewohner auf eine fast schon unverschämte Art. Als sie sieht, dass ich auf dem Weg ins Büro an ihrem Labortisch vorbeikomme, nimmt sie einen Hörer raus – nur einen...

„Hi“, sagt sie.

„Hi, Elli. Wie geht‘s?“

„Gut. Du kommst spät heute.“

Editorial

„Ja, eigentlich sollte ich gar nicht reinkommen, doch ich muss noch schnell was fertig machen. Ich bin doch gerade auf diesem Immunologie-Treffen in der Innenstadt.“

„Ah, hatte ich ganz vergessen. Wie ist es?“

Ich zucke mit den Achseln. „Passt schon. Nicht wirklich mein Ding, aber Dave will, dass ich alle drei Tage dabei bin... Lizzy hat eine tolle Präsentation gegeben.“

„Hat sie dort vorgetragen?“

„Ja, sie und zwei anderen Doktoranden wurden ausgewählt, einen Vortrag zu halten. So eine Art Wettbewerb.“

Elli lacht: „Deutschland sucht die Akademikerin...“

„So was in der Richtung...“

„Hat Lizzy gewonnen?“

„Wir werden es heute Abend nach dem Konferenz-Dinner erfahren. Es würde mich überraschen, wenn sie nicht gewinnt. Die anderen beiden Präsentationen waren ziemlich trocken.“

Als Lizzy heute Morgen die Bühne betrat, hatte sie das Publikum schnell um ihre zarten Finger gewickelt. Die großen blauen Augen waren fast mit Tränen gefüllt, als sie ihre ersten Sätze aussprach. Ton und Sprechtempo gekonnt austariert und mit Gesten zielsicher unterstützt, drückte sie ihre „Leidenschaft“ für die Wissenschaft aus: „Da draußen sterben Menschen... unnötigerweise! Ich habe es mir zum Ziel gesetzt, ihnen zu helfen.“ Sie war unschlagbar und überwältigend auf ihre ganz eigene Art.

Dave hingegen saß freudlos und ohne jede Ironie da und verbarg nicht, dass er jede einzelne Silbe des Vortrags verachtete. Es schien, als schämte er sich dafür, dass er eine Doktorandin unter seinen Fittichen hatte, die an emotionaler Inkontinenz litt. Die ihre Arbeit nicht wie die anderen Redner präsentierte: Als eine weitere Liste trockener Fakten, und nichts weiter.

„Wärst Du neidisch, wenn sie gewinnt?“

Ich denke ein paar Sekunden darüber nach... Ich war tatsächlich am Boden zerstört, als ich mit meinem hundertfach überarbeiteten Abstract nicht in die Auswahl kam.

„Ein wenig schon, glaube ich.“

Sie sieht mich etwas mitleidig an, so als hätte ich ihr gesagt, dass meine Großmutter gestorben ist, und sie nicht wüsste, wie sie reagieren soll. Schnell füge ich hinzu: „Sie ist ja auch schon zwei Jahre weiter in ihrer Diss, das tut dann nicht wirklich weh.“

Ich laufe zum Büro und lege meine Tasche unter einen der fünf Schreibtische, die wir uns momentan mit acht Doktoranden, einem Postdoc und drei Teilzeit-Masterstudenten teilen – und gehe zurück ins Labor. Elli hat den Hörer noch nicht wieder ins Ohr gestöpselt.

„Weißt Du eigentlich, dass Dave nicht will, dass jemand im Labor während der Arbeit Kopfhörer trägt?“, frage ich sie.

„Ach ja?“, antwortet sie – und vermittelt mir damit, dass sie das so sehr interessiert wie das Wetter in Timbuktu.

„Er hat mich neulich deswegen angeschnauzt.“

„Nun ja“, sagt sie mäßig interessiert. „Ich bin hier sowieso morgen raus.“

„Wirklich? Morgen ist schon Dein letzter Tag?“

„Ja.“

„Kommst Du zurück für eine Doktorarbeit?“

„Nein!“, lacht sie beinahe hysterisch. „Ich bin doch nicht verrückt.“

„Du willst nicht weitermachen an der Uni?“

„Na ja, Wissenschaft an sich mag ich schon. Aber... dieser Ort hier ist echt trostlos. Dave ist die ganze Zeit wegen seinen Geldern gestresst. Und die meisten Postdocs schleppen sich nur jeden Tag den Hügel hinauf zum Campus, um den ganzen Tag im Büro zu sitzen und sich für Jobs zu bewerben – nur weg von hier. Und du hast noch nicht mal einen Schreibtisch! Vielleicht ändere ich eines Tages meine Meinung, aber ich brauch jetzt 'ne Pause.“

„Was ist Dein Plan für die Pause?“

„Ich gehe nach Australien“, sagt sie hellauf begeistert.

„Backpacking?“

„Nein, nicht wirklich. Ich habe mir dort eine Stelle gesucht.“

Es stimmt also doch, dass wir Naturwissenschaftlerinnen schon vor Studienabschluss Angebote erhalten!

„Wow, wo arbeitest Du denn?“

„Ich werde Kängurus schießen. Erstmal für ein Jahr.“

„Kängurus schießen?“

Sie nickt nur und steckt den Hörer zurück in ihr Ohr. Sofort beginnen ihre majestätischen Hüften wieder zu schwingen.

Ich dagegen starre in die Eisbox, hebe ein Eppi mit E. colis hoch und murmele: „Ihr seht mir so aus, als könntet ihr einen Hitzeschock gebrauchen, meine Freunde.“ Und stelle alle Eppis nacheinander in den 50 °C-Block. Das ist zwar nicht so spektakulär, wie wilde Tiere im australischen Outback zu schießen – aber immerhin martialisch genug, um mir ein klein wenig den trostlosen Tag aufzuhellen.



Letzte Änderungen: 04.07.2018