Editorial

Was würde Greta sagen?

Von Stephan Feller, Halle-Wittenberg


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Illustr.: Simon Jugovic-Fink / Laborjournal

(11.03.2020) Gedanken zur Verantwortung aller Wissenschaftler in Zeiten des rapiden Klimawandels.

Sind Fake News schon (fast) wieder out? Beginnt womöglich sogar bald ein Zeitalter, in dem solide Wissenschaft und Fakten endlich zentrale gesellschaftliche Bedeutung erlangen?

Wahrscheinlich nicht. Falls aber doch, dann hätten wir das vielleicht mehr als allen anderen einem 17-jährigen Mädchen aus Schweden zu verdanken.

Eventuell haben wir ja Glück, und unsere Kollegen Klimaforscher werden tatsächlich schon morgen nicht weiter ignoriert; eventuell reagiert die Politik in Berlin und weltweit endlich sinnvoll und effektiv – und alles wird, wenn nicht gerade gut, so doch nicht allzu schlimm. Unsere Kinder, Enkel und Urenkel könnten dann tatsächlich einen Planeten vorfinden, der nicht bloß ein überhitzter, toxischer Müllhaufen ist.

Klar, sicher ist das keinesfalls – aber hoffen darf man doch immer. Und gegensteuern kann schon mal jeder ganz für sich privat.

Also fassen wir uns bei dieser Gelegenheit auch ruhig an die eigene Forschernase. Überlegen wir hier mal intensiv, was bei uns in der Wissenschaft aktuell so alles schiefläuft – und damit ebenfalls zum Klimawandel beiträgt.

Um diesen zu stoppen, brauchen wir meines Erachtens Hunderte von sinnvollen Maßnahmen. Und die Wissenschaft könnte, so behaupte ich, nicht nur einen signifikanten Beitrag dazu leisten, Ressourcen und Umwelt zu schonen sowie die Klimagas-Produktion zu reduzieren – sie könnte sogar eine Vorreiter-Rolle spielen. Nein, sie sollte es sogar! Denn wenn wir Wissenschaftler das nicht schaffen, wer dann?

Beginnen wir mit einer kurzen Bestandsaufnahme...

Glaubt man einigen Veröffentlichungen, so ist etwa die Hälfte bis zwei Drittel aller biomedizinischen Landmark-Publikationen nicht wirklich reproduzierbar (Nat. Rev. Drug Discov. 10: 712; Nature 483: 531-3; und andere mehr). Dadurch werden den Kollegen Stolpersteine, ja teilweise sogar enorme Hürden in den Weg gestellt. Die Folge sind unzählige umsonst durchgeführte Experimente oder gar vergebens gestartete Projekte – samt massenhaft sinnloser Ressourcenverschwendung und unnötiger CO2- Produktion.

Zudem erscheint heutzutage eine große Zahl wissenschaftlicher Artikel in unlauteren Predatory Journals und/oder wird so gut wie nie zitiert. Laut PubMed produzieren wir in der Krebsforschung alleine weltweit jährlich 150.000 bis 200.000 Paper. Böse Zungen behaupten, dass mehr als neunzig Prozent davon unwichtig sind und vor allem dem Ego-Boosting, der Karriere-Förderung oder finanziellen Interessen dienen.

Nicht nur deshalb ist die Zahl an mäßig originellen und oft noch weniger nützlichen Me-too-Projekten enorm – sowohl in der akademischen Forschung, aber auch in der Pharmaindustrie. Negative Ergebnisse, beispielsweise von klinischen Studien, werden zurückgehalten – wodurch nachfolgend weitere, sehr ähnliche Projekte durchgeführt werden, die von vorneherein zum Scheitern verurteilt sind.

Und dann sind da natürlich die Impact-Faktoren. Schon lange als intrinsisch unzuverlässig nachgewiesen, gelten sie noch immer für viele als das Maß aller Dinge. Mannigfach inadäquat genutzt, suggerieren sie auf diese Weise eine scheinbar einfach messbare Kennzahl für wissenschaftliche Qualität. Und produzieren auf diese Weise massenhaft „Falsch-Positive“...

Apropos „Kennzahl“: Angetrieben von ähnlich verquerem Irrglauben macht heutzutage vor allem derjenige Karriere, der möglichst viele Forschungsgelder einwirbt. Alleine dadurch wird er schon als besonders produktiv angesehen – auch wenn er die Fördermittel am Ende praktisch nur „verbrennt“. Schließlich kann ich auch mit einem vollen Tank lediglich im nächsten Ort landen.

O sancta justitia, ständig sind wir alle unter Zeitdruck und aufgeblasen wie der Bürgermeister in der komischen Oper „Zar und Zimmermann“ – ja, das gilt geradezu als schick. Und oft wird daher nicht sorgfältig genug geplant. Eklatante Fehler, suboptimale oder gar sinnlose Experimente sind häufig die Folge.

Sicher, Klappern gehörte schon immer zum Handwerk. Aber die Zeit, die manche inzwischen auf das „Schlagen von Pfauenrädern“ verwenden, ist heute schon beachtlich. Wenn sie das doch wenigstens gut machen würden. Aber nein, durch schlechte Kommunikation befördern sie noch enorme Reibungsverluste. Und die werden durch überbordende und ineffiziente Verwaltung sowie unnötig hierarchische Strukturen nochmals verstärkt.

Und dann die ständigen Flugreisen, die doch meist nur zum Herumzeigen des eigenen Gesichtes oder der Illustration von Laborpräsenz dienen. Könnte man ebenfalls mal ernsthaft überdenken. Schließlich ist die Zahl der Konferenzen und Pseudokonferenzen in den letzten Jahren geradezu explodiert. Doch meist ist nicht das hehre Interesse an rascherem Erkenntnisgewinn die treibende Kraft, sondern schnödes Gewinnstreben beziehungsweise reine Geltungssucht. Mit der Folge, dass auf Konferenzen lediglich bereits publizierte Arbeiten vorgestellt werden. Die neuerdings in Mode gekommene „Flugscham“ scheint mir daher im Zusammenhang mit Konferenzbesuchen durchaus berechtigt.

Ach ja, noch so ein Übel: Die stetig wachsenden Bezahlbarrieren für das Lesen von Forschungsartikeln. So behindert man effektiv die freie Verbreitung von Forschungsergebnissen, die ja oft genug mit öffentlichen Geldern produziert worden sind – und verlangsamt damit den wissenschaftlichen Fortschritt (wiederum mit einhergehendem nutzlosen Verbrauch von Ressourcen und CO2 , siehe oben).

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Nicht-reproduzierbare Ergebnisse sorgen auch für enorme Ressourcenverschwendung. Illustr.: Caltech

Man könnte noch vieles nennen, das nicht gerade ein tolles Licht auf unsere Wissenschaft wirft: Schlechte oder gar völlig nutzlose Kits oder Antikörper, gepanschtes fetales Kälberserum (Laborjournal 9/2013: 67-9, Link), Mycoplasma-verseuchte Zellkulturen und so weiter. Die Folge wiederum: zahllose vergeudete Forscherstunden und endlos verschwendete Ressourcen. Doch genug damit, eine vollständige Liste würde den Rahmen dieses Essays wohl sprengen.

Was würde nun Greta zu alledem sagen? Würde sie gar, wenn sie all das erfahren würde, verzweifeln an uns Wissenschaftlern, auf die sie sich ja immer wieder beruft?

Nicht nur deshalb die entscheidende Frage: Können wir es vielleicht künftig deutlich besser machen? Oder passen wir Wissenschaftler doch prima ins vielzitierte „Jahrhundert der Idioten“ – mit dessen menschengemachten Kennzeichen, wie immer neuen Typen von Nuklearbomben und Chemiewaffen, Super-GAUs von Kernkraftwerken, massivem Artensterben, Millionen Tonnen Müll in den Meeren, Mikroplastik im Kinderurin, dramatischer Waldvernichtung, Auftauen der Permafrostböden, wachsenden Antibiotika-Multiresistenzen, immer härteren Designer-Drogen, und und und.

Um es gleich vorweg zu sagen: Ich behaupte keinesfalls, auch nur annähernd umfassende Antworten auf all die Probleme zu haben – dazu brauchen wir sicher eine breite und intensive Diskussion. Einiges jedoch ist bereits jetzt absehbar und praktikabel, oftmals sogar ohne allzu großen Aufwand. Vielleicht wäre das Anschieben solcher Veränderungen ja mal eine sinnvolle strategische Aufgabe für Scientists for Future (S4F). Oder auch für Deutsche Forschungsgemeinschaft, Krebshilfe, Volkswagenstiftung und Co.

Im Gegensatz zu Fridays for Future (FFF) kommt S4F leider noch etwas schwachbrüstig daher, finde ich. Viele unserer lieben Kollegen trauen sich scheinbar noch nicht so recht heraus aus dem Elfenbeinturm – hinein ins echte Leben, wo es „manchmal laut zugeht und gelegentlich auch stinkt“ (Minister a. D. Sigmar Gabriel).

Vor zwei Jahren hatte ich in meinem Sommeressay für Laborjournal 7-8/2017 (S. 6 ff., Link) noch gejammert, dass sich unsere Jugend aktuell wie eine passive Herde Schafe domestizieren lässt. Fridays for Future hat deutlich und sehr erfreulich bewiesen, dass es auch anders geht. Jetzt darf ruhig auch die Senioren-Etage zeigen, dass sie den 68er-Geist doch noch irgendwo in sich trägt.

Folglich wäre es durchaus angemessen, wenn viele Wissenschaftler unmittelbar am gesellschaftlichen Diskurs teilnehmen würden. Eine großartige und nachhaltige Option ist sicher auch, unser Wissen jungen Menschen zu vermitteln – insbesondere, solange sie noch lernen (der alte Spruch „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr“ stimmt sicherlich noch immer). Wissenschaftler zahlreicher Fachrichtungen können hier einen wichtigen Beitrag leisten – egal, ob sie nun direkt am Klima oder an Geographie, Ökologie, Umwelt, sozialen Systemen, pathogenen Mikroben, Parasiten, Krankheiten oder sonst etwas forschen. Der Zeitpunkt ist günstig: An vielen Orten sollten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler angesichts des akuten und massiven Lehrermangels in Schulen eigentlich hochwillkommen sein – schon alleine, um die ständigen Lücken zu stopfen.

Es gibt aber noch viele andere Möglichkeiten, beizutragen und Ressourcen zu schonen. Beispielsweise indem man wissenschaftliche Manuskripte noch viel häufiger auf weltweit einsehbare Preprint-Server wie etwa bioRxiv hochlädt – und auf diese Weise wichtige Informationen schon lange vor Abschluss des bisweilen doch sehr langwierigen Peer-Review-Prozesses verfügbar macht. Damit könnte eine frühe und umfassende Begutachtung der Daten einsetzen, der globale Informationsfluss würde verbessert und nicht zuletzt würden Schwachstellen von Studien vielleicht schneller erkannt.

Ein anderes Beispiel für optimierbare Abläufe zur Ressourcen-Einsparung ist das Thema Recycling. Hier tun sich viele Forschungslabore, Institute, Universitäten und Firmen noch recht schwer, selbst wenn ständig Alufolie, sauberes Plastik, Papier et cetera in größeren Mengen anfallen. Es gibt zahlreiche Beauftragte in den Institutionen – für Sicherheit, Chemikalien, Strahlenschutz, Laser, Gentechnik, Gesundheit und anderes – , aber ein designierter Recycling-Koordinator an Unis, Instituten und Firmen fehlt bis heute oftmals. Vielleicht würde es manchmal sogar schon ausreichen, den bereits vorhandenen Facility Manager (a. k. a. Hausmeister) entsprechend zu instruieren.

Wenn immer mehr Forscher wenigstens ein bisschen anfangen würden, vor der eigenen Tür zu kehren, könnte man sicher viel erreichen. Forschung braucht ausreichende Ressourcen, keine Frage – aber unnötige Ressourcenverschleuderung sollten wir uns besser nicht mehr leisten. Man kann zum Beispiel dem Jahresend-Bestellwahnsinn ganz schnell ein Ende machen. Da werden in Graduiertenkollegs, SFBs und so weiter auf Teufel komm raus Gelder verbraten, weil sie sonst am Jahresende auf Nimmerwiedersehen in ein schwarzes Loch gesaugt werden. Stattdessen könnte man damit in den Folgejahren mehr Hiwis fördern. Oder Doktoranden verlängern, die es trotz Reduzierung von Kontrollversuchen auf das absolute Mindestmaß nicht schaffen, in drei Jahren durch ihr Projekt zu hecheln. Mehr Zeit erlaubt nämlich mehr Sorgfalt und damit auch bessere Reproduzierbarkeit.

Natürlich muss dazu auch jedem klar werden, dass ein Forschungsinstitut oder eine Fakultät keine Wurstfabrik ist, die nach dem Prinzip „Euros rein, Impact-Punkte raus“ funktioniert. So entsteht selten neues Wissen, das den Weg in die Lehrbücher findet. Mit dem System Wurstfabrik wird vielmehr oft nur Provinzniveau zementiert, kreative Freigeister können in einem solchen System kaum gedeihen. Was wäre wohl unter einem solchen Regime nur aus Stefan Hell mit seinem STED-Mikroskop (Nobelpreis für Chemie 2014) oder aus Sydney Brenner (Nobelpreis für Medizin oder Physiologie 2002) mit seinen sensationellen C.-elegans-Studien geworden?

Voreilige Materialschlachten helfen ebenfalls eher wenig. Wer etwa in den totalen Krieg gegen den Krebs zieht – wie mehrfach geschehen in Richard Nixons „War on Cancer“, in Cancer Research UK’s „Let‘s Beat Cancer“ oder im aktuellen Cancer-Moonshot-Programm des Nationalen Krebsinstituts (NCI) der USA – wird immer wieder als Verlierer heimkehren und gleichzeitig nicht nur Unmengen heißer Luft, sondern vor allem auch unnötig viel CO2 produzieren. Vielleicht sollten wir uns daher viel stärker auf Forschung zu guter Prävention konzentrieren, die am Ende deutlich Ressourcen-sparender und oft auch wesentlich effektiver wäre.

Ebenso könnten gute Kommunikationsstrukturen in den Arbeitsgruppen und Instituten, ein fairer, nachvollziehbarer Peer Review bei Forschungsanträgen sowie die Vermeidung von Nepotismus sicherlich viel zum Entstehen einer Planeten-schonenden Forschungskultur beitragen. Schon Gandhi hat Wissenschaft ohne Humanität als eine der sieben sozialen Sünden aufgelistet (siehe Nature 547: 150). Das betrifft in Zeiten des rapiden Klimawandels ganz sicher nicht nur direkte Ethik-Aspekte von Forschung, sondern auch die Vermeidung von Ressourcenverschwendung.

Ernest Rutherford wird der schöne Satz zugeschrieben: „Meine Herren, uns ist das Geld ausgegangen, es wird Zeit, wieder nachzudenken.“ Das betrifft heutzutage leider, wenn man „Geld“ durch „Ressourcen“ ersetzt, den ganzen Planeten. Schuld sind wir selbst, uns retten können nur wir selbst – aber die Zeit läuft uns davon. Es mag pathetisch klingen, aber gegen den drohenden Klimawandel wird jeder bisherige Krieg, jeder schreckliche Genozid der Vergangenheit, egal wie dramatisch in Größe und Brutalität, völlig verblassen. Wenn wir das weiter leugnen, ignorieren oder verdrängen, rennen wir in unser sicheres Verderben. Unsere Kinder, Enkel und Urenkel werden uns dann wohl verfluchen.

Gerade wir Wissenschaftler brauchen weniger Pfauen- und Hamsterräder, weniger Geldverschwendung, weniger falsche oder marginale Publikationen, weniger Größenwahn. Stattdessen ist mehr Nachdenken, mehr Demut, mehr gesellschaftliche Verantwortungsübernahme gefragt. Es ist allerhöchste Zeit zu handeln.

Stephan Feller,
Institut für Molekulare Medizin der
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg



Letzte Änderungen: 11.03.2020