Editorial

Coronavirus-Infektionen - Was ist mit den Kindern los?

Karin Hollricher


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Foto: AdobeStock / Martin Villadsen

(08.06.2020) Die COVID-19-Welle rollt um die Welt, aber anscheinend entwickeln nur wenige Kinder Symptome. Wie ist das zu erklären? Stecken sie sich und andere überhaupt in nennenswertem Ausmaß an? Oder stecken sie einfach die Infektion besser weg? Ein Überblick über die Studienlage.

Zur Frage, ob Kinder sich seltener anstecken, hier ein paar Zahlen:

  • In dem kleinen italienischen Dorf Vò Euganeo in der Provinz Padua wurden 2.778 der 3.304 dort lebenden Personen auf eine SARS-CoV-2-Infektion untersucht – 66 (2,4 Prozent) waren positiv. Unter 316 getesteten Kindern bis 14 Jahren fand man zwei infizierte (0,6 Prozent), unter den 244 Getesteten der Altersgruppe 15-24 Jahre nur einen positiven (0,4 Prozent).

  • Aus Island wurde berichtet, dass in zwei Gruppen von 10.797 und 2.283 Personen 0,8 Prozent beziehungsweise 0,6 Prozent positiv waren, darunter kein Kind unter zehn Jahren. Zusätzlich wurden 9.199 Risikopersonen gezielt getestet, weil sie zuvor im Ausland waren oder Kontakt zu Infizierten hatten – darunter waren 564 Kinder im Alter von unter zehn Jahren. Von diesen waren 6,7 Prozent infiziert, während 13,7 Prozent aller älteren Personen positiv getestet wurden (New Engl. J. Med., doi 10.1056/NEJMoa2006100).

  • Im chinesischen Guangzhou zeigten zehn von 745 getesteten Kindern im Alter zwischen 2 Monaten und 15 Jahren eine positive Diagnose (1,3 Prozent). In dieser Gruppe befanden sich allerdings mehrere Kinder mit schwersten Vorerkrankungen (Nature Medicine 26: 502-5).

  • In einer weiteren chinesischen Studie verfolgten die Autoren die Ansteckungsketten zwischen 136 Indexpatienten und ihren insgesamt 7.375 Kontakten. Altersverteilt stellten sie folgende Anteile an Sekundär-Infizierten fest: 6,2 Prozent Kinder bis 14 Jahre; 8,6 Prozent in der Altersgruppe zwischen 15 und 64 Jahren; 16,3 Prozent der über 65-Jährigen (Science doi 10.1126/science.abb8001). Diese Studie dürfte aber mit großen Schwankungsbreiten behaftet sein, da in der Gruppe der unter 15-Jährigen nur fünf Infizierte waren und sich unter den Indexpatienten nur ein Kind befand. Zudem scheint der Unterschied zwischen Erwachsenen und Kindern erstmal nicht allzu bedeutend. Allerdings betonte Christian Drosten von der Charité Berlin in einem seiner NDR-Podcasts, man könne aus dem Supplement zu der Veröffentlichung herauslesen, dass Kinder bis einschließlich 14 Jahren etwa dreifach weniger empfänglich für eine SARS-CoV-2-Infektion sein dürften als Menschen zwischen 15 und 64 Jahren – wenn man die Zahlen mit der Kontaktwahrscheinlichkeit korreliert. Ältere Menschen über 65 dagegen hätten somit ein 1,5-fach erhöhtes Ansteckungsrisiko.

Wenig Probanden

Dennoch sind diese Studien mit Vorsicht zu genießen, auch wenn sie teilweise ein Peer-Review-Verfahren durchlaufen haben. Zum einen spürten sie nur vergleichsweise wenige infizierte Probanden auf. Und schließlich stammen die Daten aus verschiedenen Ländern, in denen gerade Kinder sehr unterschiedlichen Lebenssituationen und Gesellschaftsstrukturen begegnen. Waren die Kinder zur entsprechenden Zeit beispielsweise isoliert, oder gingen sie in Schulen und Kindergärten? Lebten sie in einer Großfamilie oder alleine mit ihren Eltern? Wie viele Kontakte hatten ihre Familien? Hatten sie schwere Vorerkrankungen? Das sind alles wichtige Faktoren, wenn man zuverlässig herausfinden will, in welchem Maß sich Kinder mit SARS-CoV-2 infizieren.

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Solange Kinder das Coronavirus nur malen,.... Foto: iStock / 4X-image

Auch aus Deutschland kommen erste Daten zur Ansteckung und Infektiösität von Kindern – und zwar von Christian Drosten und seinen Kollegen von der Charité. Die Berliner gingen in einer retrospektiven Studie der Frage nach, wie hoch die Viruskonzentration bei infizierten Kindern im Vergleich mit Erwachsenen ist. Von rund 60.000 in Berlin getesteten Personen waren 3.712 positiv, darunter 49 Kinder bis zum vollendeten zehnten Lebensjahr sowie 78 Jugendliche im Alter von 11-20 Jahren – also wiederum ein vergleichsweise geringer Anteil. Die Viruslast im Rachen jedoch war in allen Altersgruppen ähnlich hoch.

Trotz der großen Zahl an Probanden hat allerdings auch diese Studie deutliche Limits. Einmal ist zu berücksichtigen ist, dass die Kinder seit langem keine Außenkontakte mehr hatten, weil Kitas und Schulen geschlossen waren. Zweitens war das Coronavirus durch Dienst- und Freizeitreisende nach Deutschland eingeschleppt worden – also von Personen, die traditionell mehr Kontakte haben als Mitglieder innerhalb einer Familie. Drittens wurden viele Proben an den Coronavirus-Teststellen genommen, wohin Eltern ihre Kinder wegen der möglichen Infektionsgefahr eher nicht bringen. Schließlich haben Kinder oft keine klaren Symptome – werden also seltener getestet. Und zuletzt kommt noch hinzu, dass die Symptome erst viele Tage nach der Infektion ausbrechen, sodass die Viruslast im Rachen zu diesem Zeitpunkt bereits gesunken ist.

Dies alles ist bei der Interpretation der Zahlen zu berücksichtigen. Entsprechend vorsichtig fasste Drosten die Ergebnisse in seinem Podcast daher zusammen: „Im Wesentlichen muss man sagen, es gibt keine nachweisbaren Unterschiede in der Viruslast.“ Und weiter: „Es könnte gut sein, dass die Kinder genauso infektiös sind wie Erwachsene.“

Studien angelaufen

Kurz zuvor hatte der Kinderarzt Georg Hoffmann von der Universitätsklinik Heidelberg in einem Interview mit dem Journalisten Jan-Martin Wiarda festgestellt: „Wir wissen nicht, wie stark Kinder sich überhaupt anstecken, und ob die Tatsache, dass sie so selten sichtbar krank werden, zugleich bedeutet, dass sie die Krankheit viel weniger weitergeben“. Hoffmann leitet aktuell eine Studie von vier Universitäten in Baden-Württemberg, die klären soll, was diesbezüglich Sache ist im „Ländle“. Proben von jeweils zweitausend Kindern und Elternteilen hätten sie schon gesammelt, erklärte Philipp Henneke von der Universitätsklinik Freiburg dazu in einem Press Briefing am 8. Mai, das das Kölner Science Media Center (SMC) organisiert hatte. „Wir werden in den nächsten drei Wochen die Ergebnisse haben.“ Das wäre also Ende Mai – nach Redaktionsschluss, aber kurz vor Erscheinen dieser Laborjournal-Ausgabe.

Eines aber verriet Henneke bereits: „Die Allermeisten haben mit Corona bis jetzt nichts zu tun gehabt – das kann ich jetzt schon sagen. Die 15 Prozent aus der Heinsberg-Studie – ich würde mal mutig spekulieren, die werden wir nicht erreichen. Bei weitem nicht.“

Diese Kinder-Studie ist nicht die einzige, die gerade in Deutschland in Arbeit ist. In Braunschweig sammelt man im Rahmen der vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung organisierten „LöwenKIDS“-Studie von 500 Kindern, die auf eine akute Infektion hin untersucht werden, je zwei Proben im Abstand von sechs bis acht Wochen.

Das Institut für Diabetesforschung am Helmholtz-Zentrum München hat im Rahmen seiner „Fr1da-Studie“ zu Typ-1-Diabetes bei Kindern Zugriff auf viele Tausend Blutproben. Rund 15.000 Proben davon will man nun rückwirkend von August 2019 bis heute auf Coronavirus-Antikörper hin analysieren. Weitere 50.000 Proben sollen über die nächsten Jahre folgen. Die Forscher verwenden dabei einen Test, den sie selber in Kooperation mit Kollegen des San Raffaele Hospitals in Mailand entwickelten. Es ist ein Luciferase-Immunopräzipitationstest (LIPS-Assay), der Antikörper gegen die Rezeptor-Bindedomäne des S-Proteins von SARS-CoV-2 identifiziert. „Der Test wurde an mehreren tausend Proben durchgeführt, und bisher beträgt die Spezifität in fast tausend Proben, die vor Ende 2019 entnommen wurden, 100 Prozent – während die Sensitivität in Proben von Patienten, die sich von ­COVID-19 erholt haben, bei über 95 Prozent liegt“, teilte das Institut auf Anfrage mit.

Das etwas andere Immunsystem

Doch warum sieht es so aus, dass Kinder weniger schwer an COVID-19 erkranken als Erwachsene? Dieses Phänomen sei auch typisch für Infektionen mit HIV, Hepatitis B und dem Epstein-Barr-Virus (EBV), erklärte Ulrike Protzer vom Helmholtz-Zentrum in München im SMC-Press-Briefing. „Wenn sie diese im Kleinstkindalter erwerben, dann lebt das Virus chronisch mit ihnen – oftmals ohne dass sie über die ersten zwanzig Jahre etwas merken.“ Erst danach würden Symptome und entsprechende Probleme auftauchen.

Henneke ergänzte, tatsächlich gäbe es Säuglinge und Kinder mit „extrem hohen Viruslasten“ – sie seien aber klinisch gesund. „Es ist keineswegs so, dass Säuglinge generell weniger anfälliger sind. Sie gehen einfach anders mit diesen Erregern um.“ Aber wie und warum gehen sie anders mit SARS-CoV-2 um?

Es könnte am Immunsystem liegen. Schließlich unterscheiden sich die Immunsysteme von Kindern und Erwachsenen in ihrem Repertoire an verschiedenen Typen von B-Zellen, T-Zellen, Fresszellen, Cytokinen und so weiter. So haben Kinder von Geburt an mehr natürliche und weniger spezifische Antikörper, die als erste Abwehrkette eines Neugeborenen gelten.

Forscher um Rita Carsetti vom Bambino Gesú Kinderkrankenhaus in Rom berichteten beispielsweise, dass sich Memory-B-Zellen (MBCs) mit dem Oberflächenmolekül CD27 im Laufe des Lebens verändern. Kinder haben demnach vor allem sogenannte CD27dull-MBCs (Cell Rep. 30, 2963–2977). Diese Immunzellen bringen wenig CD27-Marker auf die Zelloberfläche und bilden IgM-Antikörper mit breiten Spezifitäten. Sie generieren nur wenige Plasmablasten, dafür umso mehr neue MBCs. Bei Erwachsenen dagegen überwiegen CD27bright-Zellen, die sich nach dem Zusammentreffen mit einem Antigen zu Plasmablasten differenzieren und antigenspezifische Antikörper bilden.

Auch die Expression von Cytokinen verläuft bei Kindern anders als bei Erwachsenen. Kindliche B-Zellen bilden mehr anti-entzündlich wirkendes Interleukin IL-10, was möglicherweise die Entzündungsreaktion und den damit verbundenen Schaden an den betroffenen Geweben verringert. Dagegen haben ältere Menschen höhere Konzentrationen an proinflammatorischem TNF-alpha und IL-6.

Ob und wie sich diese Unterschiede hinsichtlich der Immunzellen und immunmodulatorischen Molekülen bei Kindern und Erwachsenen überhaupt in der Symptomatik von COVID-19 abbilden, ist aktuell jedoch völlig unklar.

Ebenso könnte auch das Angiotensinkonvertierende Enzym 2 (ACE2) eine Rolle bei der unterschiedlichen Ausprägung von Krankheitssymptomen spielen. Schließlich nutzt SARS-CoV-2 das membranständige Protein als Einfallstor in seine Wirtszellen. Eine kürzlich publizierte Studie von Forschern in Rom weist darauf hin, dass Kinder mehr ACE2 bilden als Erwachsene oder Senioren (Eur. Respir. J., doi 10.1183/13993003.00749-2020). Das ließe natürlich zunächst vermuten, dass Kinder erst recht krank werden müssten. Allerdings gilt zu berücksichtigen, dass das Enzym die Entzündungsreaktion und damit die Immunantwort dämpft. Geringe ACE2-Aktivität soll demnach auch dafür verantwortlich sein, dass ältere Menschen Entzündungsreaktionen nicht so gut stoppen können – folglich also eher einen Cytokinsturm erleben. Was wiederum genau das ist, was oftmals die heftigen Reaktionen der Älteren auf eine SARS-CoV-2-Infektion auslöst – während Kinder offenbar vor Cytokinstürmen geschützt sind.

Auch dies ist bisher allerdings nur eine Hypothese, warum Kinder COVID-19 im Schnitt besser wegstecken als ihre älteren Mitbürger – wie so viele andere Hypothesen in diesem noch sehr jungen Forschungsgebiet.

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Inzwischen nehmen die Fälle von schweren Gefäßentzündungen – ähnlich wie beim Kawasaki-Syndrom – bei COVID-19-positiven Kindern zu. Illustr.: OPENPediatrics
+++ Addendum (15. Mai) +++

Täglich kommen neue Daten zum Coronavirus herein, folglich kann die Laborjournal-Berichterstattung darüber in print kaum topaktuell sein. Die folgenden zwei Informationen zum Thema nehmen wir jetzt nach Redaktionsschluss aber schnell noch mit:

Am 14. Mai gab das britische Office for National Statistics (ONS) per Pressemitteilung bekannt, dass zu jedem Zeitpunkt zwischen 27. April und 10. Mai rund 0,27 Prozent der Bevölkerung im Vereinigten Königreich mit COVID-19 infiziert gewesen sei. Für diese Analyse waren 10.000 Personen unabhängig von Symptomen getestet worden, darunter aber keine Patienten, Bewohner oder Angestellte von Pflegeheimen und Krankenhäusern. Dabei, so das ONS weiter, habe man keine Evidenz für Unterschiede zwischen den Alterskategorien 2-19 Jahre, 20-49 Jahre, 50-69 Jahre sowie 70 und älter gefunden.

Druckfrisch publizierte Lancet ein Paper über ein vermehrtes Auftreten von schweren, normalerweise aber sehr seltenen Gefäßentzündungen bei Kindern – ähnlich wie bei der Kawasaki-Krankheit. Darin beschreiben die Autoren, dass man in Italien seit dem Stichtag 18. Februar zehn Kinder mit dieser pädiatrischen Erkrankung gesehen habe. Das sei ein dreißigfacher Anstieg im Vergleich mit den Fällen von 2015 bis zum Stichtag. Bei acht der zehn „Bambini“ habe man Coronavirus-Antikörper gefunden (The Lancet, doi 10.1016/S0140-6736(20)31103-X).



Letzte Änderungen: 08.06.2020