Editorial

Die Reise unserer Gene
Im Gespräch: Johannes Krause, Jena

Das Interview führte Henrik Müller


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DNA aus den Fragmenten alter Knochen zu isolieren, wird schnell zur Fummelarbeit. Foto: Antje Wissgott, MPG Jena

(08.06.2020) Ein einziger Yersinia-pestis-Stamm traf Mitte des 14. Jahrhunderts von Osten her auf Europa und rottete dort die Hälfte der menschlichen Bevölkerung aus. Spuren des Neandertalers finden sich nicht in den Bewohnern südlich der Sahara, dafür aber gleichermaßen in Ostasiaten wie in Europäern. Warum erst die archäogenetische Revolution des letzten Jahrzehnts solche Aussagen möglich macht, erklärt Johannes Krause, Gründungsdirektor des Max-Planck-Instituts (MPI) für Menschheitsgeschichte in Jena.

Laborjournal: Sie sind MPI-Direktor und aktuell in Elternzeit. Das ist schon selten, oder?

Johannes Krause » Für die nächsten drei Monate habe ich meine wissenschaftliche und administrative Tätigkeit auf fünfzig Prozent reduziert. Die üblichen zwölf Monate Elternzeit sind für Wissenschaftler natürlich nur schwer umzusetzen.

Gerade weil die Archäogenetik ja aktuell einen Riesensprung macht...

Krause » Ja, das 21. Jahrhundert ist das Zeitalter von Informatik und Biotechnologie. Momentan landen fast jede Woche archäogenetische Publikationen in Nature, Science und Cell. Solch einen Hype hat es in anderen Forschungsfeldern allerdings auch gegeben. Er wird sich irgendwann wieder reduzieren.

Sie selbst landeten ja bereits mit Ihrer Diplomarbeit auf dem Titelblatt von Nature. Worauf führen Sie den gegenwärtigen Hype zurück?

Krause » Auf vier Gründe. Erstens ist unsere Forschung mittlerweile so ausgereift, dass sich beispielsweise Spitzenwissenschaftler aus der Genetik in Harvard, Princeton, Yale und Stanford der Archäogenetik zuwenden. Das ist für uns ein Segen, denn unser Nischendasein ist damit vorbei. Zweitens profitieren wir vom breiten Interesse an unserer Forschung. Ich habe in meiner Karriere sehr früh einen Grant des Europäischen Forschungsrats und eine Professur bekommen – und dann als Gründungsdirektor ein neues Max-Planck-Institut mit aufbauen dürfen. Natürlich waren dafür spannende Projekte wichtig, die zu interessanten Resultaten führten und sich sehr gut publizieren ließen. Dennoch denke ich, da war ich einfach zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Drittens haben wir immer an der Machbarkeitsgrenze gearbeitet. Unsere optimierten Protokolle isolieren DNA mittlerweile aus vielen Hunderttausend Jahre alten Fossilien. Und viertens hat sich der Durchsatz der Sequenzier-Maschinen in den letzten 15 Jahren verhundertmillionenfacht. Wir können komplette Genome immer günstiger entschlüsseln. Weltweit haben 25 Millionen Menschen ihre Genome schon bei privaten Firmen für unter hundert Euro analysieren lassen.

Nun machen Sie das aber mit Organismen aus der Vergangenheit...

Krause » Genau, und zwar in enger Kooperation mit meinem Alma-Mater-Institut, dem MPI für evolutionäre Anthropologie in Leipzig. Wir isolieren das Erbmaterial von Viren, Bakterien, Tier und Mensch, zum Beispiel aus Knochen oder Zähnen, rekonstruieren aus all den sequenzierten Schnipselchen mit viel Bioinformatik deren Genome und können dann genomweite Phänotyp- und Verwandtschaftsverhältnisse analysieren.

In welchen Projekten aktuell?

Krause » Die 120 Mitarbeiter in meiner Abteilung arbeiten unter anderem in sieben Projekten des Europäischen Forschungsrats an 1.700 archäologischen Fundstellen auf allen Kontinenten – vom Neandertaler über die Besiedlungsgeschichte der Kontinente bis zur Völkerwanderung und mittelalterlichen Infektionskrankheiten.

Sie machen klassische Archäologen also arbeitslos?

Krause » Durch den Vergleich morphologischer, histologischer und geochemischer Charakteristika kommt man nur bis zu einem bestimmten Punkt. Aktuell erleben wir tatsächlich eine genetische Revolution, die auch die Archäologie und Anthropologie verändert. Neben historischen Texten, anthropologischen Untersuchungen und archäologischen Funden haben wir jetzt eine zusätzliche Evidenzlinie, in der wir genetische Geschichte erzählen. Anders als vorherige bioarchäologische Revolutionen, wie die Entwicklung der Radiokarbon-Datierung oder die Untersuchung von Mikrofossilien, kann die Archäogenetik einen stärkeren Eigenbeitrag leisten. Der resultierende Kampf um die Deutungshoheit wird sich aber auflösen, sobald zukünftige Wissenschaftler gleichzeitig „archäologisch“ und „genetisch“ sprechen können. Das ist die langfristige Perspektive unserer Doktoranden-Ausbildung hier wie auch unseres Forschungsfeldes der Archäogenetik im Ganzen.

Welche Sequenziermethoden setzen Sie dafür ein?

Krause » Seit 2010 hat sich die Illumina-Technologie als Marktführer herauskristallisiert. Ihre größten Hochdurchsatzgeräte aus der NovaSeq-Serie produzieren pro Tag zwanzig Milliarden DNA-Sequenzen. Bei einem alten Sanger-Sequenzierer waren das 96 pro Tag. Long-Read-Technologien wie die von Oxford Nanopore oder Pacific Biosciences sind für uns weniger geeignet, da die degradierten DNA-Fragmente in „unseren“ Knochen durchschnittlich fünfzig Basenpaare lang sind. Short-Read-Techniken sind also perfekt für uns. Illumina-Standards wie etwa das Dual Index Sequencing, das an beide Enden des zu sequenzierenden DNA-Fragments einen Index anhängt, stammen übrigens ursprünglich aus der Erforschung von ancient DNA und deren Mengenproblematik.

Ribonukleotid-Modifikationen, die Long-Read-Techniken im Gegensatz zur Short-Read-Sequenzierung ja detektieren, sind für Sie uninteressant?

Krause » Besonders methylierte Cytosine sind für uns hochinteressant, um mehr über epigenetische Muster zu erfahren. Aufgrund unserer geringen DNA-Mengen müssen wir der eigentlichen Sequenzierung aber eine PCR vorschalten. Den kopierten DNA-Fragmenten fehlen dann natürlich etwaige Modifikationen. Trotzdem kriegen wir genomische Methylierungsmuster raus. Denn Cytosine desaminieren in alter DNA zu Uracil, liegen uns nach PCR-Amplifikation also als C-T-Substitution vor. Methylierte Cytosine dagegen werden direkt zu Thymin. Wenn wir alle Uracile mittels Uracil-DNA-Glykosylase entfernen, sind die C-T-Substitutionen, die übrig bleiben, alles methylierte Cytosine gewesen. Auf diese Weise haben Kollegen von uns das Neandertaler-Methylom rekonstruiert und Einblicke in deren Lebensgeschichte erhalten.

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Foto: MPG

Wie können Sie aber am Ende desaminierte Cytosine von echten Thyminen unterscheiden?

Krause » Wir sequenzieren jede Position mehrfach. Bei haploiden Organismen glauben wir einer Position erst, wenn wir sie mindestens fünf Mal gesehen haben, bei diploiden Organismen mit zwei Allelen erst nach mindestens zwanzig Mal. Und da ja nicht alle Cytosine in den Ursprungsmolekülen an der gleichen Position desaminiert sind, sichert uns diese Abdeckung ab. Bei modernen Genomen macht man das aufgrund des einen Prozents maschineller Sequenzierfehler ja genauso, selbst bei großen Probenmengen.

Geringe Probenmengen sind also Ihre größte Herausforderung?

Krause » Im Prinzip ja, alte Knochen enthalten sehr wenig DNA. Wir nutzen aber den großen biochemischen Fortschritt der Next-Generation-Sequenzierung, nämlich den Bau von Sequenzierungs-Bibliotheken, zu unserem Vorteil. Wir immortalisieren die DNA einer alten Probe zuerst in einer Sequenzierungs-Bibliothek, indem wir an alle DNA-Enden die gleichen Adapter kleben und jedes Molekül über PCR mit Adaptersequenz-komplementären Oligonukleotid-Primern vervielfältigen. So können wir literweise Neandertaler-DNA herstellen. Um Sequenzierungs-Bibliotheken anzufertigen, brauchen normale Genetik-Labore mindestens ein bis zwei Mikrogramm DNA. Mit unserem Trick, auf den Bibliotheks-Adaptern eine PCR durchzuführen, reichen Femtogramm an DNA aus. Für ausreichend Startmaterial müssen wir aber natürlich auch Aufreinigungsprotokolle ständig verbessern.

Wie gewinnen Sie denn überhaupt DNA aus Gewebeproben?

Krause » Es gibt alle möglichen Methoden, Knochen zu zermahlen, beispielsweise mit einem Zahnarztbohrer oder in einer Kugelmühle mit flüssigem Stickstoff. Weichgewebe und Pflanzenreste erfordern wieder eine andere Methodik. Bei zerkleinerten Knochen brechen wir dann dessen Phosphor-Apatit-Kristallstruktur mit Calcium-bindendem EDTA auf, verdauen sämtliches Kollagen mit Proteinase K und arbeiten schließlich das DNA-Extrakt mit klassischen Silika-basierten Methoden auf. Viele unserer Methoden hat ein Kommilitone von mir, Matthias Meyer, am MPI für evolutionäre Anthropologie in Leipzig entwickelt. Er ist da weltweit führend. Für mich ist es immer unglaublich, dass wir aus einer halben Million Jahre alten Fossilie noch DNA rausbekommen.

Wie unterscheiden Sie alte DNA von Kontaminationen durch Archäologen und Labormitarbeiter?

Krause » Indem wir mittels Sequenzüberlappung schauen, ob die extrahierte DNA von nur einer Person stammt. Jeder Mensch hat ja zum Beispiel nur eine haploide Sequenz mitochondrialer DNA, nämlich die von der Mutter. Wenn wir nur eine solche Sequenz finden, sind wir uns relativ sicher, dass die Probe nur wenig kontaminiert ist. Bei Männern schauen wir außerdem, ob wir nur einen Y- und einen X-Chromosom-Typ finden. Heterozygote Positionen auf dem X-Chromosom sind bei einem Mann also auch Kontaminationen. Natürlich könnte dann immer noch das gesamte Erbmaterial vom Archäologen stammen, der die Knochen während der Ausgrabung angeleckt hat, um sie von Steinen zu unterscheiden (lacht). Das schließen wir aus, indem wir nach den oben angesprochenen Desaminierungen suchen. Beginn und Ende von DNA-Fragmenten liegen häufiger in ungeschützten Einzelsträngen vor als ihr Mittelbereich, sind altersabhängig also auch häufiger desaminiert. Den daraus resultierenden Smiley-Plot zu sehen, macht uns glücklich, denn dann wissen wir, dass die untersuchte DNA älter als 150 bis 200 Jahre ist.

Zusätzlich zu den geringen Mengen originärer DNA finden Sie in Proben doch bestimmt auch Unmengen mikrobieller Überreste?

Krause » Sogar zu 98 bis 99 Prozent! Die poröse Struktur und chemischen Eigenschaften von Knochen machen ihn extrem affin für Nukleinsäuren. Einerseits ist deshalb in Jahrtausende alten Knochen überhaupt noch DNA drin. Andererseits ist das für uns ein Problem. Mit speziellen Waschschritten mit Phosphatpuffern oder Bleiche müssen wir Bakterien- und Pilz-DNA erst einmal wegwaschen, bevor wir die „tiefer“ im Knochen gebundene, endogene DNA extrahieren. Alternativ angeln wir aus der DNA-Bibliothek gezielt diejenige DNA, die uns interessiert, mit Hybridisierungssonden, also einzelsträngigen DNA-Oligonukleotiden, heraus.

Sie finden also nur das, wonach Sie suchen?

Krause » Ja, aber das ist ja beim bioinformatischen Sequenzvergleich immer der Fall. Selbst mit der kompletten DNA-Sequenz eines alten Killer-Virus, das vor 50.000 Jahren den Neandertaler ausrottete, könnten wir ohne einen Datenbankeintrag zu einem verwandten heutigen Virus nichts anfangen. Selbst originäre DNA eines Tyrannosaurus rex könnten wir höchstens mit derjenigen des Haushuhns vergleichen. Die gesamte Bioinformatik für ancient DNA funktioniert schließlich nur als Mapping Alignment gegen bekannte Sequenzen.

Neandertaler-Gene ohne Sequenzhomologie im modernen Menschen sind also unauffindbar?

Krause » Nochmals ja. Aber zwischen Schimpansen und Menschen gibt es keine unterschiedlichen Gene, nur unterschiedliche Kopienzahlen, wie etwa für olfaktorische Rezeptoren oder Amylasen. Somit sind komplett fremde Gensequenzen auch für den Neandertaler sehr unwahrscheinlich.

Die Genome von Neandertalern und modernen Menschen sind sich also sehr ähnlich?

Krause » Ja, sogar zu 99,8 %. Was aber auch heißt, dass sich ein Teil der Neandertaler-DNA von allen Menschen auf der Welt unterscheidet. Viel schwieriger ist es aber, Unterschiede in der DNA unserer direkten Vorfahren abzugrenzen. Zwischen allen modernen Menschen bestehen durchschnittlich 4 Millionen Unterschiede, was 0,1 Prozent unseres Genoms aus 3,3 Milliarden Basenpaaren entspricht. Jemand aus der Bronzezeit liegt innerhalb dieser Variationsbreite.

Wie weit können Sie überhaupt in der Zeit zurückschauen?

Krause » Das älteste sequenzierte Erbgut stammt von einem 700.000 Jahre alten Pferd aus Alaskas Permafrostboden, das älteste europäische Genom aus 400.000 Jahre alten Frühmenschen-Knochen aus der Höhle Sima de los Huesos in Nordspanien. In tropischen Regionen ist die Probenkonservierung dagegen nicht so gut, denn Wärme, Feuchtigkeit sowie saurer und basischer pH begünstigen den Zerfall von Nukleinsäuren.

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Bloß keine DNA als Fremd-Kontamination einschleppen!... Foto: Guido Brandt, MPG Jena

Also kein Jurassic Park?

Krause » Mit unserer momentanen Technologie können wir nicht weiter zurückgehen als eine Million Jahre. Die Kreidezeit bleibt also auch in Zukunft wohl in weiter Ferne.

Eine Gruppe um den dänischen Paläoproteomiker Enrico Cappellini rekonstruierte letztes Jahr phylogenetische Zusammenhänge auf Basis einer massenspektrometrischen Untersuchung des Proteoms im Zahnschmelz eines 1,8 Millionen Jahre alten Nashorns. Wird Proteomik die Genomik in der Archäobiologie also ablösen?

Krause » Beide Disziplinen werden sich ergänzen. Denn die Aussagekraft von kurzen Aminosäuresequenzen, die die Zeit überdauert haben und meist aus Kollagen stammen, ist begrenzt. Zur Identifikation von Proteinen und Organismen reicht das sicher aus. Evolutive Aussagen aber sind schwierig, da beispielsweise Kollagen vom Menschen fast genauso aussieht wie das vom Schimpansen. Auch ist es mit kurzen Peptiden unmöglich, ihre Authentizität zu beweisen und auf Kontaminationen zu testen. Für ganz spezifische Fragestellungen, wie beispielsweise welche Nahrung Frühmenschen zu sich nahmen, ist solche Archäoproteomik natürlich wertvoll. Hochdurchsatz-Untersuchungen wie in der Genomik werden trotzdem nicht möglich sein. Abgesehen davon, dass noch tausende archäologische Funde darauf warten, unter die genetische Lupe genommen zu werden.



Letzte Änderungen: 08.06.2020