Editorial

Von kleinen und großen Früchten

Karin Hollricher


JENA: Ein kleines Kraut bildet verschiedene Früchte. Forscher von der Universität in Jena wollten wissen, wie es das bewerkstelligt.

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Blüten- und Fruchtstände von Aethionema arabicum. Foto: Teresa Lenser

Der „State of the World‘s Plants Report“ verzeichnet rund 370.000 Arten von Blütenpflanzen. Das sind 370.000 unterschiedliche Lösungen auf die Frage, wie eine Pflanze überleben und sich vermehren kann.

Mit einer interessanten Variante wartet Aethionema arabicum, das arabische Steintäschelkraut, auf: Es bildet gleich zwei verschiedene Typen von Früchten. Beide sind fast kreisförmig, sogenannte „Schötchen“, aber mit unterschiedlich gestalteten Flügeln versehen; sie enthalten einen oder aber bis zu vier Samen, öffnen sich bei Reife (Dehiszenz) oder bleiben geschlossen (Indehiszenz).

Das klingt, als wäre dem Kraut egal, was auf ihm wächst. Aber das Gegenteil ist der Fall.„Dieses Phänomen nennt man Fruchtdimorphimus“, erklärt Günter Theißen von der Universität Jena. Unter den rund ein Dutzend Arbeitsgruppen, die sich mit dem Steintäschel beschäftigen, sind der Genetiker sowie seine ehemalige Mitarbeiterin Teresa Lenser die Spezialisten für Früchte und deren Entwicklung. Dehiszente, also sich öffnende Früchte mit zwei Fruchtklappen sind typisch für Brassicaceen. Man nimmt an, dass sie die evolutionär ältere Form in der Familie darstellen, obwohl sich indehiszente Früchte mehrfach unabhängig entwickelt haben.

Das Steintäschel indes bildet nicht exklusiv die eine oder andere Fruchtform, sondern beide Formen mehr oder weniger gleichzeitig. Die Forscher vermuten, dass das eine Anpassung an wechselnde Umweltbedingungen ist. Theißen: „Die Pflanze will damit vermutlich sicher gehen, dass wenigstens einige ihrer Nachkommen überleben. Das bezeichnen wir als ‚Bet Hedging‘ – eine ‚Life History Strategy‘, bei der nicht alles auf eine Karte gesetzt wird. Dies ermöglicht der Pflanze, insbesondere unter schwer vorhersehbaren Umweltbindungen mit mehr oder weniger begrenzten Ressourcen zu überleben.“

Das Phänomen ist lange bekannt. Schon 1901 hatte der Botaniker Hermann Graf zu Solms-Laubach es ausführlich beschrieben. Doch weiß man noch nichts über die Mechanismen, die dahinter stecken. Lenser schaute sich daher die Pflanze und einige nahe Verwandte erst einmal genau an – und stellte fest, dass Aethionema arabicum überwiegend am Hauptspross große, mehrsamige Früchte bildet, die sich öffnen. An den Seitentrieben entwickelt die Pflanze dagegen mehrheitlich kleine, einsamige Schließfrüchte (Plant Physiol. 172: 1691-707).

„Last Minute“-Entscheidung

„Teresa hatte dann eine tolle Idee,“ erzählt Theißen. „Sie schnitt bestimmte Äste und Zweige gezielt ab und überprüfte, ob das eine Auswirkung auf die Früchte hat.“ Ergebnis: Je mehr sekundäre Zweige sie entfernt hatte, desto mehr große, dehiszente Früchte bildete das Steintäschel auf den verbliebenen Trieben. Auf diese Weise können die Forscher also steuern, welche Art von Früchten die Pflanze überwiegend bildet.

Aus dieser Erkenntnis stellte sich den Jenaern die Frage, wann die Pflanze die Entscheidung trifft, welche Frucht aus einer Blüte entstehen soll. In der Knospe und dem ersten Blütenstadium sind nämlich alle Strukturen so angelegt, dass eine große, mehrsamige Frucht entstehen sollte. „Dann aber trifft die Pflanze eine „Last Minute“-Entscheidung – nämlich bis spätestens zwei Tage nach der Anthese, der Reifung der Antheren“, erklärt Theißen.

Offensichtlich will die Pflanze die Weichen für die weitere Entwicklung so spät wie möglich stellen, um so lange wie möglich auf Veränderungen in der Umwelt reagieren zu können – und somit die Fitness zu erhöhen. Das kann man direkt beobachten, weil nur bei den Blüten, aus denen große, vielsamige Früchte entstehen, die Fruchtknoten früh erkennbar wachsen. Weist die Entscheidung indes in Richtung indehiszenter Frucht, werden bestimmte Strukturen, wie etwa ein Teil der Samenanlagen, im Fruchtknoten abgebaut – beziehungsweise entwickeln sich nicht.

Die Frage nach der Regulierung war mit diesen Erkenntnissen natürlich nicht ansatzweise beantwortet. Aus den Beobachtungen nahmen Theißen und Co. aber an, dass eine Art korrelative Dominanz im Spiel ist – dass also ein Pflanzenorgan die Entwicklung eines anderen behindert. Beispielsweise könnte die durch das Hormon Auxin vermittelte Dominanz des Haupttriebs dafür sorgen, dass dort große Früchte entstehen.

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Die beiden unterschiedlichen Früchte von Aethionema arabicum. Foto: Teresa Lenser

„Diese Hypothese hatten wir in unserem Paper zunächst aufgestellt“, erzählt Theißen. „Aber einer der Gutachter war damit nicht einverstanden. Er hatte vielmehr eine Alternative. Demnach würden die zuerst entstehenden Früchte die Entwicklung späterer Früchte unterdrücken beziehungsweise steuern. Dieses lange bekannte, aber nur wenig untersuchte Phänomen nennt man karpische Dominanz, da das Fruchtblatt, das Karpell, beteiligt ist. Wir haben viel diskutiert und noch ein paar Experimente in diese Richtung gemacht – und ich denke, er lag mit seiner Vermutung richtig. Das war die beste Zusammenarbeit mit einem Gutachter, die ich jemals hatte – und wir haben ihn daher auch zum Co-Autor gemacht.“ (Plant J. 94: 352-71).

Der schon lange emeritierte Fritz Bangerth von der Universität Hohenheim hatte bereits 1989 vorgeschlagen, dass karpische und apikale Dominanz zwei Beispiele korrelativer Beziehungen zwischen älteren und jüngeren Pflanzenorganen seien, die durch das Pflanzenhormon Auxin reguliert würden (Physiol. Plant. 76: 608-14). Er nannte das Phänomen „Primigenic Dominance“. Demnach würde das Entfernen der dominanten Strukturen deren inhibitorischen Effekt aufheben. Würde man Auxin auf das entfernte Organ applizieren, würde diese Wirkung jedoch wieder hergestellt. Entsprechende Beispiele wurden vor allem für die apikale Dominanz vielfach beschrieben.

Heute weiß man, dass bei der Entstehung von Seitentrieben und der Fruchtreife mehrere Pflanzenhormone steuernd eingreifen, beispielsweise Auxine, Gibberelline, Strigolactone, Cytokinine und Abszisinsäure. Und tatsächlich: Synthetische Varianten von Auxin erhöhten den Anteil kleiner, einsamiger, indehiszenter Früchte; synthetisches Cytokinin hatte den gegenteiligen Effekt – und das sowohl auf die Früchte am Haupttrieb als auch an den Seitenzweigen. Die anderen Hormone zeigten keine statistisch relevanten Effekte. „Aber Absence of Evidence is ja keine Evidence of Absence. Also bleiben wir dran“, sagt Theißen.

Die Expression von Genen, die die Hormonproduktion beziehungsweise die Wirkung von Hormonen steuern, zeigte dazu passende Muster. So hatte beispielsweise das zu BRC1 homologe Aethionema-Gen ein Expressionsmaximum in den Blüten, die später kleine Früchte produzierten. BRC1, Branched1, kodiert für einen Transkriptionsfaktor, der den Austrieb von Seitenknospen sehr wirksam unterdrückt. Er wird von Cytokininen in seiner Funktion inhibiert, von Strigolactonen aber gefördert.

Transformations-faul

Eigentlich müsste man nun die Hypothese von der karpischen, durch Hormone gesteuerten Dominanz mit molekularbiologischen Daten untermauern, ein paar mutmaßlich entscheidende Gene wie BRC1 ausschalten oder deren Expression verstärken – und den Phänotyp beobachten. Aber leider lässt sich das Steintäschel bislang nicht vernünftig transformieren. Was bei seinem Verwandten Arabidopsis thaliana wie geschmiert läuft, nämlich die Transformation der Blüte mit Hilfe von Agrobakterien, funktionierte bei Aethionema bislang nicht. Daher arbeiten die Wissenschaftler derzeit an alternativen, aber aufwändigeren Transformationsverfahren.

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Untersucht Dominanz und Unterdrückung: Genetiker Günter Theißen. Foto: FSU / Anne Günther

„Unsere Arbeit, die ja Grundlagenforschung in Reinstform ist, hat übrigens eine sehr überraschende Option für die Landwirtschaft eröffnet, etwa für den Anbau von Gurken“, sagt Theißen. Schon lange weiß man, dass ältere Gurken die Bildung neuer Früchte unterdrücken. Der versierte Gärtner schneidet daher die untersten Gurken am Haupttrieb ab, um eine möglichst üppige Ernte zu bekommen. „Dieses agronomische Phänomen können wir, denke ich, mit unserer Aethionema-Forschung nun mechanistisch erklären. Vorherzusehen war das überhaupt nicht. Wieder mal also ein ganz hervorragendes Beispiel dafür, dass man die Grundlagenforschung unbedingt stärken sollte.“

Um Forschungsgelder zu bekommen, muss Theißen sich freilich ganz schön abrackern. Denn wer, bitte schön, interessiert sich schon für so ein kleines Kraut aus dem südlichen Mittelmeerraum? Bisher nur ein paar Evo-Devo-Spezialisten, die es aufgrund seiner Verwandtschaft zu Arabidopsis als neues Modell ins Auge gefasst haben. Vielleicht ändert sich das aber nun.



Letzte Änderungen: 10.10.2019