Editorial

Kerngesunde Kühe

Juliet Merz


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Illustr.: Juliet Merz

(09.02.2020) Dummerstorf (Rostock): Die Gesundheit von Rindern und anderen Nutztieren rückt immer mehr in den Fokus. Nutztierforscher versuchen deshalb die Zucht und Haltung der Tiere stetig zu verbessern – mit globalen Genomprojekten und lokalen Hitzestress-Experimenten.

„‚Ich möchte gerne wissen, warum die Tiere so sind, wie sie sind’“, zitiert Christa Kühn die Widmung aus ihrer Habilitationsschrift. „Dieser Satz beschreibt meine Forschungsarbeit wohl am besten.“ Kühn leitet am Leibniz-Institut für Nutztierbiologie in Dummerstorf bei Rostock das Institut für Genombiologie sowie die Abteilung Genomphysiologie mit insgesamt rund 65 Mitarbeitern. Im Fokus ihrer Arbeit steht das Rind, besonders dessen Phänotyp. Warum einzelne Rinderrassen anfälliger für Krankheiten sind oder Futtermittel unterschiedlich verwerten, sind Fragen, die Kühn und ihre Kollegen antreiben.

Um die Ursache phänotypischer Unterschiede zu entlarven, gehen die Nutztierforscher im Erbgut der Tiere auf Spurensuche. „Dabei versuchen wir vor allem herauszufinden, welche Funktion gewisse Stellen im Rinder-Genom übernehmen“, erklärt Kühn. Eine große Finanzspritze erhielt das Dummerstorfer Team erst kürzlich von der Europäischen Union. Seit September 2019 ist Kühns Team vom Leibniz-Institut für Nutztierbiologie (früher: Forschungsinstitut für die Biologie landwirtschaftlicher Nutztiere, deshalb als FBN abgekürzt) Teil eines großen europäischen Konsortiums mit insgesamt zwanzig Partnern aus der EU, Kanada und Australien. Das Projekt mit dem Namen BovReg erhält im Rahmen des Horizon-2020-Programms rund sechs Millionen Euro und wird vom FBN koordiniert. Über eine Million Euro gehen nach Dummerstorf. „Wir gehören damit zu einem globalen Netzwerk aus fast 500 Wissenschaftlern namens FAANG“, so Kühn. FAANG steht für Functional Annotation of Animal Genomes und ist ein Projekt mit dem Ziel, umfassende Karten von Funktionselementen in den Genomen domestizierter Tierarten zu erstellen. „Meine Kollegen und ich übernehmen mit BovReg quasi den europäischen Part der Genomanalysen für das Rind.“

Versteckter Stoffwechsel-Schalter

Im Rahmen des BovReg-Förderprogramms konzentrieren sich Kühn und Co. auf nicht-proteincodierende Abschnitte der DNA. Denn Kühn stellt klar: „Die Merkmale, die uns in der Nutztierhaltung interessieren, liegen viel wahrscheinlicher den nicht-proteincodierenden Genombereichen zugrunde. Wenn Sie beispielsweise zwei verschiedenen Rinderrassen das gleiche Futter geben, kann es dennoch sein, dass sie dieses vollkommen unterschiedlich verwerten. Die eine produziert daraus zum Beispiel Eiweiße für den Muskelaufbau, die andere Rasse Eiweiße in Form von Milch. Und genau da muss ein Schalter sein, den wir finden möchten.“

Kürzlich sind die Nutztierforscher diesem Ziel näher gekommen. In Kreuzungstieren aus Charolais- und Holstein-Rindern identifizierten Kühn et al. eine Vielzahl unterschiedlicher langer nicht-codierender (lnc)RNAs, welche die metabolische Effizienz der Wiederkäuer beeinflussen (Front. Genet. 10: 1130). „Für uns war es nicht nur spannend, überhaupt lncRNAs in diesem Zusammenhang zu finden, sondern auch zu zeigen, was diese bewirken“, berichtet Kühn.

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Christa Kühn (rechts außen) und ihre Kollegen vom FBN. Foto: FBN/Brunner

RNA-Karte für mehr Tierwohl

Nachdem die Gruppe einen lncRNA-Katalog erstellt hatte, versuchte sie mithilfe von Korrelationsanalysen und der Verknüpfung von Transkriptom und Metabolom an die Funktion der Ribonukleinsäuren heranzukommen. Besonders acht lncRNAs stachen in der bioinformatischen Auswertung heraus: Sie übernahmen quasi als Knotenpunkte zentrale Schalterfunktionen für die Ansammlung von Muskelmasse oder die Produktion von Milcheiweißen.

Die identifizierten lncRNAs möchten die Forscher nun in kommenden In-vitro- und In-vivo-Studien validieren. Dazu nutzen sie eine Methode mit dem Namen ChIRP (Chromatin Isolation by RNA Purification). Das Prinzip ähnelt der Chromatin-Immunpräzipitation (ChIP), nur kommen bei ChIRP anstelle von Antikörpern markierte Antisense-RNA-Moleküle zum Einsatz, mit denen Komplexe aus RNA, DNA und Protein herausgefischt werden können. Die Nutztierforscher möchten damit aber nicht bloß alle bioinformatisch vorhergesagten Mitspieler des Systems im Labor verifizieren: „Wir fokussieren uns zwar auf die lncRNAs; gleichzeitig möchten wir aber wissen: Wo und wie interagieren die nicht-proteincodierenden Ribonukleinsäuren?“, holt Kühn weiter aus und ergänzt: „In der aktuellen Studie haben wir uns schon beide Geschlechter separat angeschaut, aber gewebeübergreifend gearbeitet. Da stoßen wir bei der Interpretation der Ergebnisse bezogen auf die Signalwege auf unsere Grenzen. Deshalb bohren wir zukünftig tiefer, indem wir auch einzelne Gewebe betrachten.“

Die Erkenntnisse des Forschungsvorhabens möchten Kühn und ihre Mitstreiter primär in zwei Anwendungsgebieten einsetzen: der Zucht und der Tiergesundheit. „Wenn wir beispielsweise eine Kuh züchten möchten, die Futter effektiver in Milch umwandeln kann, dann können wir das theoretisch auf zwei Wegen tun“, gibt Kühn einen Einblick. Entweder züchte man nach dem Motto Trial and Error oder man nutze das Wissen in Form von Biology Informed Breeding und könne dadurch Fehlentwicklungen vermeiden. „Denn aktuell ist es ein wichtiges Thema, wie Leistung mit der Gesundheit der Tiere zusammenhängt.“

Gleichzeitig gibt die genetische Veranlagung Hinweise darauf, wie die Rinder gehalten werden müssen. „Je besser ich über die Tiere und ihre Veranlagung Bescheid weiß, desto gerechter kann ich ihnen in der Haltung werden“, nennt Kühn einen wichtigen Faktor, der ihr als promovierte Tierärztin besonders am Herzen liegt.

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Eine der Respirationskammern am FBN.Foto: FBN
Hitziger Durchbruch

In der Haltung der Rinder bahnt sich derweil ein großes Problem an. Denn die durch den Klimawandel steigende Hitze macht den Wiederkäuern besonders zu schaffen. Kühn weiß warum: „Der Pansen der Rinder ist quasi wie ein kleiner Mini-Reaktor, der zusätzlich viel endogene Wärme produziert.“ Am wohlsten fühlten sich die meisten der bei uns vorkommenden Rinderrassen bei rund zehn Grad Celsius. „Ein mittelmäßiger Sommertag ist für die Tiere schon ein enormer Hitzestress.“ Besonders zeigt sich das in einer verminderten Darmgesundheit sowie Ertragsleistung etwa bei der Milchproduktion. Bislang war allerdings unklar, ob diese Effekte wirklich auf die Hitze zurückzuführen sind, oder weil die Tiere bei warmen Temperaturen einfach weniger Appetit haben. „Die meisten Menschen kennen das selbst: Wenn es heiß wird, essen wir weniger deftig, sondern lieber leichte Kost und trinken viel Wasser.“

Um das Rätsel zu lösen, verfrachteten die Forscher kurzerhand zehn Holstein-Kühe in eine Klima- und Respirationskammer, die es deutschlandweit nur am FBN gibt. Dort verbrachten die Tiere sechs Tage bei 28 beziehungsweise die Kontrollgruppe bei 15 Grad Celsius. Die Futterration bestimmte die Hitzegruppe: Denn nur so viel, wie die Rinder bei den hohen Temperaturen herunterbekamen, durfte auch die Kontrollgruppe verspeisen.

In den anschließenden Gewebeschnitten des Dünndarms entdeckten die FBN-Teams aus dem Institut für Genombiologie, dem Institut für Ernährungsphysiologie sowie dem Institut für Muskelbiologie und Wachstum daraufhin Zellen, die in die Dünndarmwand eingewandert waren (PNAS 116: 10333-8). „Dieses Phänomen ist auch bei Patienten mit entzündlichen Darmerkrankungen wie Morbus Crohn bekannt“, weiß Kühn. Um welche Zellen es sich genau handelt, war in beiden Fällen bislang unklar. Eine Transkriptom-Analyse der Nutztierforscher zeigte: Die Zellen in den Dünndarmwänden der hitzegestressten Rinder waren aktivierte Immunzellen wie etwa Makrophagen.

Als Auslöser für das Einwandern der Immunzellen identifizierten die Forscher das durch den Hitzestress ausgelöste Aufweichen der Darmbarriere. Als mögliche Schwachstelle verdächtigen die Forscher Tight-Junction-Proteine, welche als Barriere den Raum zwischen Epithelzellen abdichten. Brechen diese Zwischenräume auf, können Bakterien, kleine Nahrungspartikel oder Toxine in die Darmwand einwandern – es kommt zur Immunreaktion. „Nicht die veränderte Nahrungsaufnahme, sondern die Hitze allein schädigt also die Darmwand und beeinträchtigt somit die Gesundheit der Tiere“, schlussfolgert Kühn.

Landwirte wissen schon lange, dass zu viel Wärme ihren Nutztieren nicht guttut. Mit kühlbaren Stallungen oder speziellen Futtermitteln, die weniger endogene Wärme im Pansen produzieren, versuchen sie dem entgegenzuwirken. Die molekularen Grundlagen des Phänomens hingegen sind Neuland und können zukünftig bei der Zucht hitzeresistenter Rassen oder in der weiteren Gestaltung der Rinderhaltung helfen.

Aber auch wir Menschen können aus den Ergebnissen etwas lernen, wie Kühn empfiehlt: „Wir sollten bei Hitzestress auf unsere Darmgesundheit achten.“ Dazu gehörten ganz banale Dinge, wie eine gesunde, ausgewogene Ernährung und an heißen Sommertagen nicht zu mächtig zu essen, um den Darm nicht zusätzlich zu belasten.

Für Kühn und ihre Kollegen stehen bei allen Forschungsfragen die Gesundheit und Bedürfnisse der Tiere an vorderster Stelle. „Zumindest hier in Deutschland sind sich alle Landwirte einig: Das primäre Ziel ist nicht die Leistungssteigerung, denn die meisten sind mit dem erreichten Niveau durchaus zufrieden“, berichtet Kühn von ihren Gesprächen mit Rinderhaltern. „Es geht vielmehr darum, dass die Kuh gesund im Stall bleibt – und das so lange wie möglich.“



Letzte Änderungen: 09.02.2020