Editorial

Entstehen und Vergehen

Larissa Tetsch


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Foto: Zlatko Levkov & Elena Jovanovsk

(11.11.2020) GIESSEN: Über eine Million Jahre lang ein isoliertes Ökosystem beobachten – das ermöglicht nun ein Sedimentbohrkern aus dem Ohridsee in Mazedonien sowie Albanien und liefert dabei unerwartete Erkenntnisse zur Evolutionsgeschichte.

Eigentlich ist Tom Wilke Zoologe und wollte in einem Projekt Artbildungsprozesse anhand von Weichtieren untersuchen. Am Ende wurden daraus dann aber Kieselalgen, wie der Evolutionsbiologe schmunzelnd erzählt: „In unserem Sedimentbohrkern waren für eine abgesicherte Statistik einfach zu wenige Mollusken enthalten. Wir haben deshalb extra für das Projekt eine Spezialistin für Kieselalgen eingestellt.“

Wilke, der an der Justus-Liebig-Universität Gießen den Lehrstuhl für Spezielle Zoologie und Biodiversitätsforschung hält, interessiert sich dafür, warum Arten entstehen und wieder aussterben. „Diese Prozesse sind trotz der langen Zeit seit Darwin immer noch nicht verstanden“, weiß der Evolutionsbiologe. Zwar gibt es Modelle dafür, etwa dass Änderungen der Umweltbedingungen die Bildung neuer Arten anstoßen oder dass nach einer Katastrophe ein Ökosystem plötzlich viele Möglichkeiten bietet, neue Arten aufzunehmen. Ein Problem sei aber, so Wilke, dass es an geeigneten natürlichen Systemen mangele, um dieses Modell zu testen.

Immer wieder als Modellsystem für Artbildungsprozesse herangezogen werden beispielsweise Darwins berühmte Galapagosinseln. Allerdings handelt es sich dabei um eine Inselkette mit Austausch zwischen den einzelnen Inseln – und das verringert die Aussagekraft der Ergebnisse. Besser geeignet für derartige Studien ist ein Ökosystem, das fast vollständig isoliert ist. „Wir arbeiten deshalb mit alten Seen, also solchen, die vor der letzten Eiszeit entstanden sind“, erklärt Wilke. „In diesen leben viele endemische Arten, sodass wir Artbildungs- und Aussterbeprozesse in situ studieren können.“

See mit Alleinstellungsmerkmal

Diese Prozesse laufen allerdings in der Regel extrem langsam ab, weshalb man sie nicht direkt beobachten kann. Stattdessen greifen Wissenschaftler auf Fossilien zurück. Kontinuierliche, ungestörte Fossilablagerungen über lange Zeiträume sind aber selten – ein weiteres Problem der Evolutionsforschung. Einen Ausweg aus dem Dilemma bieten Sedimente von Seen. Denn während an Land organische und anorganische Reste ständig vom Wind weggeblasen werden, sinkt im See langfristig alles zu Boden – von tierischen und pflanzlichen Überresten bis hin zu Mineralstoffen. So auch im Ohridsee, dem mit einem Alter von 1,36 Millionen Jahren ältesten und noch dazu artenreichsten Süßwassersee Europas an der Grenze zwischen Mazedonien und Albanien. Entscheidend ist, dass der See in seiner gesamten Geschichte kein einziges Mal ausgetrocknet ist. „Andere alte Seen liegen oft in den Tropen und sind sehr empfindlich gegenüber Klimaschwankungen“, weiß Wilke. „Der Malawisee in Zentralafrika beispielsweise ist in der letzten Zwischeneiszeit fast trocken gefallen, sodass viele Lebewesen darin ausgestorben sind.“

In der rund 700 Meter dicken Sedimentschicht des heute 300 Meter tiefen Ohridsees ist ein Archiv der gesamten Geschichte des Sees zu finden. Im Rahmen eines mit insgesamt fast zehn Millionen Euro geförderten internationalen Verbundprojekts wurde ein Bohrkern gewonnen, der das gesamte Sediment durchspannt – bis hinunter zu dem Flussbett, aus dem der See vor 1,36 Millionen Jahren entstanden ist (Nature 573: 256-60). Und der Bohrkern war voll mit Kieselalgen, die in großer Artenvielfalt im See vorkommen und aufgrund ihrer Silikatschale gut erhalten bleiben (Sci. Adv. 6: eabb2943). „Um die Artbildungsprozesse zu untersuchen, standen uns mehr als 150 endemische Kieselalgenarten zur Verfügung“, freut sich Wilke. „Um die Aufnahmekapazität des Ökosystems zu berechnen, also wie viele Arten in dem Ökosystem maximal Platz finden, haben wir noch etwa 200 nicht endemische Arten einbezogen.“ Neben dem Fossilbefund bot der Bohrkern zusätzlich ein durchgängiges Klimaarchiv der letzten Million Jahre. So konnten die Wissenschaftler dreißig Parameter als Proxy für das Klima und die jeweils herrschenden Umweltbedingungen bestimmen und durch eine Kombination verschiedener Parameter am Ende Rückschlüsse darauf ziehen, wie sich beispielsweise die Tiefe des Sees, seine Größe und der Nährstoffgehalt verändert haben. „Wir konnten also genau sagen, unter welchen Bedingungen Arten entstanden oder ausgestorben sind“, fasst Wilke zusammen.

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Dank des Bohrkerns aus dem Ohridsee erhielt Tom Wilke spannende Einblicke in die Artbildungsprozesse von Kieselalgen. Fotos: Tom Wilke

Die Ergebnisse waren für die Forscher dann ziemlich überraschend, denn sie widersprachen dem Modell der Inselbiografie, das auf isolierte Ökosysteme wie den Ohridsee zutreffen sollte. Danach kommt es kurz nach der Inselbildung zu hohen Artbildungsraten, weil ja jede Menge neue Nischen zu besetzen sind. Aus demselben Grund ist die Aussterberate sehr gering. Je mehr Arten hinzukommen, desto stärker nimmt jedoch die Konkurrenz untereinander zu, wodurch die Artbildungsrate sinkt und die Aussterberate steigt.

Ganz anders sah es im Ohridsee aus, wie der Evolutionsbiologe schildert: „Im jungen, noch sehr flachen See sehen wir gleichzeitig hohe Artbildungs- und Aussterberaten. Wenn der See tiefer wird, sinken sowohl Artbildungs- und Aussterberate und nähern sich einander an.“ Dass in evolutiv gesehen sehr kurzen Zeiträumen von hunderten oder tausenden Jahren viele neue Arten entstanden sind, lässt sich Wilke zufolge damit erklären, dass der See viele neue ökologische Möglichkeiten für neue Arten geboten habe.

Die Konkurrenz zwischen diesen sowie schwankende Umweltbedingungen führten aber auch dazu, dass viele Arten schnell wieder ausstarben. Erst als der See größer und vor allem tiefer wurde, konnten Schwankungen in der Temperatur oder im Nährstoffgehalt besser abgepuffert werden, sodass weniger Arten ausstarben. Trotzdem erreichte der tiefe See irgendwann die ökologische Kapazitätsgrenze, und seit über einer Million Jahre hat sich die Gesamtzahl der endemischen Arten kaum verändert. Die Größe des Sees und nicht die darin vorhandene Anzahl an Arten war somit sowohl für die Artbildungs- als auch für die Aussterberate der entscheidende Faktor.

Ein Schlüsselergebnis der Studie sehen Wilke und sein Team aber in der Erkenntnis, dass mit zunehmendem Alter des Ohridsees die Artengemeinschaften immer stabiler und die Arten immer langlebiger werden. Da einige Großgruppen selektiv ausstarben, nahm auch der Verwandtschaftsgrad zwischen den verbliebenen Arten zu. Gleichzeitig nahm die Konkurrenz zwischen den Arten ab. „Die Arten sind nett zueinander“, bringt es Wilke auf den Punkt. Aber gilt das alles nur für den Ohridsee? Vermutlich nicht, meint der Gießener: „Ähnliche Verhältnisse könnten auch auf die Buntbarsche im Malawi- und im Viktoriasee zutreffen. Hier entstehen neue Arten extrem schnell, zum Teil in nur siebzig Jahren.“

Kipppunkt zur Katastrophe

Leider sind aber auch die stabilen Artengemeinschaften im Ohridsee nur so lange stabil, wie sie nicht von außen gestört werden. Denn eines sind sie nicht: konkurrenzstark unter veränderten Umweltbedingungen. „Der See und seine Artengemeinschaften können viel abpuffern. Allerdings gibt es Kipppunkte, die nicht überschritten werden dürfen. Geschieht dies dennoch, kommt es zu katastrophalen Ereignissen, und es sterben gleich ganze Artengemeinschaften aus“, sagt Wilke. Und er fügt etwas pessimistisch hinzu: „Wir glauben, dass wir beim Ohridsee durch massive menschliche Einflüsse auf so einen Kipppunkt zusteuern, auch wenn man das noch nicht direkt sieht.“ Denn das sei eines der Probleme: Da die Artengemeinschaften so stabil sind, sehe man lange Zeit kaum Effekte von veränderten Umweltbedingungen. Beginnt dann das Artensterben, geht alles sehr rasch und man kann vermutlich nicht mehr eingreifen.

Einen Vergleich zieht der Evolutionsbiologe zum Korallensterben, einem anderen Forschungsschwerpunkt seiner Gießener Arbeitsgruppe. Rund die Hälfte der Wissenschaftler dort arbeitet mit Steinkorallen, von denen verschiedene Arten in aufwendigen Simulationsversuchen über längere Zeiträume kontinuierlich beobachtet werden. Dabei können, wie im natürlichen System, verschiedene Umweltfaktoren ganz langsam verändert werden, um zu beobachten, wie dies die Fitness der Korallen beeinflusst. „Korallenriffe werden seit 200 Jahren durch Fischerei, Habitatzerstörung und Umweltverschmutzung extrem gestresst“, erklärt Wilke. „Wenn sich jetzt die Meerestemperatur geringfügig ändert, kann plötzlich das gesamte System kippen. Der kleine Auslöser kann der Tropfen sein, der das Fass zum Überlaufen bringt.“

Ein gutes Beispiel, welche Auswirkungen das haben kann, findet man ganz in der Nähe des Ohridsees: Nur rund zehn Kilometer entfernt liegt der kleinere und deutlich flachere Prespasee, der Umwelteinflüsse, wie zum Beispiel einen Vulkanausbruch in Italien vor 40.000 Jahren, weniger gut abpuffern konnte. Die Asche des Vulkanausbruchs haben die Gießener Forscher in ihrem Sedimentbohrkern nachgewiesen und zur zeitlichen Kalibrierung verwendet. „Dem Fossilbefund konnten wir entnehmen, dass die Artengemeinschaften im Ohridsee damals 2.000 Jahre benötigt haben, um sich wieder zu erholen“, so Wilke. „Im Prespasee haben sich die Artengemeinschaften dagegen nie wieder erholt.“



Letzte Änderungen: 11.11.2020