Editorial

Dem Phantomton auf der Spur

Tobias Ludwig


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Wenn es im Ohr trillert, obwohl es mucksmäuschenstill ist, könnte das Gehirn dafür verantwortlich sein. Illustr.: Juliet Merz

(08.03.2021) MAGDEBURG/ GÖTTINGEN/ ERLANGEN: Tinnitus ist ein bisher wenig verstandenes Phänomen. Ein nationales Forscherteam liefert nun neue Erkenntnisse zur Physiologie der unliebsamen Ohrgeräusche.

Ein Rauschen oder Klingeln im Ohr haben die meisten vermutlich schon einmal erlebt. Für viele sind diese Phantomgeräusche jedoch permanentes Übel. Nach Angaben des Vereins Deutsche Tinnitus Liga leiden derzeit circa drei Millionen Menschen in Deutschland unter einem chronischen Tinnitus, also Ohrgeräuschen, die länger als drei Monate anhalten. Wie es jedoch genau zu diesen Phantomgeräuschen kommt, ist noch nicht völlig geklärt. Den Wissenschaftlern des Magdeburger Leibniz-Instituts für Neurobiologie (LIN) gelang es unter der Leitung von Frank Ohl, Licht in die Hirnprozesse zu bringen, die dem Tinnitus zugrunde liegen könnten (Front. Neurosci. 14: 598406).

Zwischen dem Beginn der Arbeiten und der jetzigen Veröffentlichung liegen jedoch einige Jahre. „Wie lange das gedauert hat, will ich fast gar nicht sagen“, scherzt Marcus Jeschke, einer der beiden Erstautoren der Studie und heute Leiter der Gruppe Kognitives Hören bei Primaten am Deutschen Primatenforschungszentrum in Göttingen. Die Experimente seien schon 2011 durchgeführt worden. Der Grund für die späte Veröffentlichung liege laut Jeschke in der interdisziplinären Natur des Projektes, das in Zusammenarbeit mit dem ehemaligen Magdeburger Kollegen Holger Schulze, heute Leiter der Experimentellen HNO-Heilkunde an der Friedrich-Alexander-Universität Nürnberg, entstanden sei.

Mitautor Schulze war es, der die Forschung zu diesem Thema überhaupt angestoßen hat, erinnert sich Max Happel, ebenso Erstautor der Studie und heute Leiter der AG CortXplorer am LIN: „Er war der Erste von uns, der sich mit Schalltraumata beschäftigt hat. Davon ausgehend haben Marcus und ich dann mit ihm in Magdeburg eine Kooperation begonnen.“ Jeschke ergänzt: „Wir haben uns dort seit langem mit den Zusammenhängen zwischen dem Hörsystem und Lern- sowie Gedächtnisphänomenen beschäftigt. Das heißt, Plastizitätsphänomene haben in unseren Arbeiten schon immer eine Rolle gespielt. Dabei kam irgendwann die Frage auf, was sich denn im Gehirn ändert, wenn ein Tinnitus entsteht oder ein Schalltrauma ausgelöst wird.“

Ein vermeintlicher Exot

Dieser Frage gingen die Forscher mithilfe Mongolischer Wüstenrennmäuse (Meriones unguiculatus) nach. Diese exotisch anmutenden Versuchstiere seien in der Hörforschung jedoch gang und gäbe, wie LIN-Wissenschaftler Happel schildert: „Das Hörsystem dieser Wüstenrennmäuse ist relativ gut untersucht. Wir wissen anatomisch und physiologisch sehr genau, wie die Schallwellen von der Hörschnecke, der Cochlea, über das zentrale Nervensystem bis in die Hörrinde, dem auditiven Kortex, transportiert werden.“ Zudem sei der Frequenzbereich, in dem die Tiere hören und kommunizieren, dem des Menschen sehr ähnlich.

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Die Neurowissenschaftler platzierten eine Elektrode im Gehirn der Rennmäuse, die über 32 Messpunkte verfügt und alle Schichten des auditiven Kortex umfasst. Zunächst maßen die Forscher, wie die Versuchstiere normale Tonsignale verarbeiteten. „Die Hörrinde ist topographisch so geordnet wie die Cochlea. Dort gibt es Bereiche, die einen Eingang vom zugehörigen Abschnitt der Hörschnecke haben, also den gleichen Frequenzbereich abbilden“, erklärt Happel.

Die Elektrode positionierten die Forscher an einem bestimmten Frequenzbereich, um dort die unterschiedlichen Leitungsprozesse aufschlüsseln zu können. Diese verlaufen entweder innerhalb der Hörrinde oder kommen aus der Peripherie, wie Co-Erstautor Jeschke erläutert: „In den oberen Schichten des auditiven Kortex finden sich vor allem Verschaltungen aus anderen Teilen innerhalb des Kortexes. Diese verlaufen senkrecht zu unserer Mess­ebene. Wir messen hier Aktivitäten, wenn ein anderer Frequenzbereich über intrakortikale Verbindungen auch das Areal der Elektrode mitaktiviert.“ Dies lässt sich anhand einer unausgeglichenen Ladungsverteilung über die Messelektrode nachweisen. Ein parallel zur Elektrode verlaufendes Signal, das also von der Cochlea über den Thalamus kommt, erzeugt eine Aktivierung, die sich über die Länge der Messebene ausbreitet. „Wenn das Signal entlang der Elektrode verläuft, gibt es Zellen, in die Ladungsträger einströmen. Diese müssen aber an anderer Stelle wieder ausströmen, sodass die Ladungsverteilung insgesamt ausgeglichen ist“, führt Jeschke weiter aus. Über die Messung der Ladungsdichteverteilungen lasse sich genau ableiten, woher ein Signal kommt. Diese Stromquellen-Dichte-Analyse veröffentlichten die Magdeburger bereits 2010 im Journal of Neuroscience (30(33): 11114-27).

Die Neurowissenschaftler setzten die Wüstenrennmäuse 75 Minuten lang einem Ton von zwei Kilohertz mit einem Schalldruckpegel von 115 Dezibel aus. Dies entspricht etwa der Lautstärke bei einem Rockkonzert, das in unmittelbarer Nähe der Lautsprecher genossen wird. Anschließend maßen die Forscher die Aktivierbarkeit des auditiven Kortex. Happel: „Direkt nach dem Schalltrauma ist bereits der Cochleateil geschädigt, der diesen Frequenzbereich abdeckt. Da der Input aus der Hörschnecke nun stark abgeschwächt ist, kommt es im Kortex zu Adaptationen.“ Selbst mit sehr lauten Tönen ließe sich die Hörrinde über den thalamischen Input dann nur noch sehr schwer aktivieren. Die sogenannte Schwellenverschiebung tritt ein. Der Kortex ist jedoch einen kontinuierlichen thalamischen Input dieses Frequenzbereichs gewöhnt und fängt an, den Wegfall zu kompensieren. „Wir konnten zeigen, dass die kortikalen Bereiche in diesem Fall beginnen, sich stärker mit ihren Nachbarn zu unterhalten“, erzählt Happel weiter.

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Marcus Jeschke (li.) und Max Happel sind zwar mittlerweile mit anderen Projekten beschäftigt, zusammen haben sie aber das Tinnitus-Phänomen untersucht. Fotos: Privat

Die aktuellen Ergebnisse der Forscher fügen sich nahtlos in die der tschechischen Neurowissenschaftler um Ondřej Novák ein. Diese hatten 2016 eine verstärkte Aktivierung inhibitorischer Interneurone des Kortex bei gleichzeitiger Anregung von Neuronen der oberen Hörrindenschichten nach einem Schalltrauma nachgewiesen (J. Neurophysiol. 115: 1860-74).

Die Magdeburger wiederholten die Elektrodenmessung vier bis sieben Wochen nach der Schallexposition der Tiere. Dort zeigten sich weitere Anpassungen: Die thalamischen Eingänge waren auch nach mehreren Wochen weniger leicht aktivierbar. Allerdings zeigte sich insbesondere bei randständigen Frequenzbereichen um den geschädigten Abschnitt eine stärkere Projektion in den Kortex, welche die internen Verschaltungen kräftiger anregte.

Kompensation der Kompensation

„Man kann dies nun so interpretieren“, resümiert Marcus Jeschke, „dass das Gehirn die anderen Eingänge verstärkt, um die durch das Schalltrauma entstandene Frequenzlücke zu schließen. Wir gehen davon aus, dass bei allen signalverarbeitenden Vorgängen über einen langen Zeitraum betrachtet stets ein gleichförmiger Zustand aufrechterhalten wird.“ So würden synaptische Verschaltungen beispielsweise am Tage verstärkt, wenn gelernt wird. In der Nacht werde die Gesamtaktivität aber wieder heruntergefahren, sodass in der Summe eine Art Gleichgewicht, die Homöostase, erreicht wird. „Nun kann das auditorische System diese im Schädigungsbereich nicht mehr ohne Weiteres leisten, da es ja keinen Input mehr gibt“, fährt Jeschke fort. Es wäre also denkbar, dass die Homöostase dann nur über die Aktivierung aus den anderen Kortexbereichen möglich ist.

Und hier liegt der Knackpunkt: Die übersteigerte Kommunikation der im Kortex abgebildeten Frequenzbereiche könnte eben genau zu den Phantomgeräuschen führen, die wir als Tinnitus kennen. Happel: „Es gibt da Parallelen zum Phantomschmerz, den Menschen in amputierten Gliedmaßen spüren. Obwohl beispielsweise das Bein fehlt und kein Input mehr von dort ins Gehirn gelangt, sind die neuronalen Verschaltungen noch da und können aktiviert werden.“

Allerdings muss ein Hörschaden nicht unbedingt zu einem Tinnitus führen. Schon in einer 2012 veröffentlichten Studie konnte das Forscherteam um Holger Schulze zeigen, dass nicht jede Wüstenrennmaus nach einem Schalltrauma einen Tinnitus entwickelt (PLoS One 7(10): e44519). Tiere, die kein Phantomgeräusch hörten, zeigten nach dem Trauma eine generell niedrigere Kortexaktivität. Bei den Tinnitus geplagten Individuen nahm diese jedoch nicht ab, sondern verstärkte sich in bestimmten Hirnbereichen noch. Die Wüstenrennmäuse, die kein Phantomgeräusch wahrnahmen, hörten allerdings schlechter als die Tiere mit Tinnitus. „Man erlebt also entweder Phantomgeräusche, kann aber sonst ganz gut hören, oder man hört schlecht, hat dafür aber keinen Tinnitus“, fasst Schulze zusammen.

Happel ist zuversichtlich, dass noch mehr aus den bereits bestehenden Daten herauszukitzeln ist. Allerdings sind die ehemaligen Kollegen mittlerweile sehr verstreut und mit anderen Projekten beschäftigt. „Wir würden wirklich gern zusammen daran weiterarbeiten, weil es ein sehr spannendes Thema ist, doch das gestaltet sich vor allem in Hinsicht auf experimentelle Arbeiten schwierig, wenn jeder woanders sitzt“, führt Jeschke aus. Dennoch haben die Neurowissenschaftler die Idee einer weiteren Zusammenarbeit noch nicht völlig begraben.