Eine Frage der Temperatur

Tobias Ludwig


Editorial

(11.03.2020) BOCHUM: Mikrobiologen enthüllen ein archaisches Regulationsprinzip, das Bakterien zu gefährlichen Überlebenskünstlern macht.

Durchfall-Erreger haben es nicht leicht. Keime wie das grampositive Bakterium Yersinia pseudotuberculosis lauern teils lange vergebens darauf, durch einen passenden Wirt verspeist zu werden. Ist es dann so weit, muss es in der Regel schnell gehen. Dabei fungiert der plötzliche Anstieg der Umgebungs- auf die lauschige Körpertemperatur des Zielorganismus für Y. pseudotuberculosis als Signal, die „Waffensysteme“ hochzufahren. Wie der Erreger die erhöhte Temperatur jedoch genau detektiert und dann darauf reagiert, blieb lange Zeit im Dunkeln. „Viele Temperatur-Anpassungsmechanismen laufen über eine Änderung der Genexpression. Das wäre aber in diesem Fall viel zu langsam“, erklärt Franz Narberhaus, Professor für Mikrobielle Biologie an der Ruhr-Universität Bochum. Seiner Gruppe gelang es, archaische Regulationselemente als Ursache für die schnelle Reaktion des Bakteriums zu identifizieren: das RNA-Thermometer.

Einfach, aber effektiv

Bei RNA-Thermometern (RNAT) handelt es sich um strukturierte Abschnitte nicht-codierender Regionen einer Messenger-RNA (mRNA). Diese liegen stromaufwärts des Startcodons. Die Bereiche bilden bei niedrigen Temperaturen komplexe Schleifenstrukturen, welche die Ribosom-Bindestelle (Shine-Dalgarno-Sequenz) blockieren. So verhindern sie, dass das Ribosom die RNA in ein Protein übersetzen kann. Ist das Bakterium höheren Temperaturen ausgesetzt, schmelzen die hitzelabilen Schleifen auf und geben den Zugang zur Bindestelle frei. Das Ribosom kann an die mRNA andocken und das abgeschriebene Gen in ein Protein translatieren. Der Prozess ist denkbar einfach und kommt ohne eine komplexe Genregulation über Transkriptionsfaktoren aus.

Editorial

RNA-Thermometer sind jedoch keine neue Entdeckung. Die israelische Mikrobiologin Shoshy Altuvia beschrieb bereits 1989 als Erste ein thermosensitives Element in der mRNA des λ-Phagen-Gens cIII. Dessen Genprodukt kontrolliert die Entscheidung zwischen lytischem und lysogenem Zyklus des Phagen – also die Frage, ob das Virus den Wirt zerplatzen lässt oder seine DNA in das Wirtsgenom integriert. Aus heutiger Sicht stellt das dort beschriebene Thermometer jedoch eine Ausnahme dar, denn die Translation der cIII-mRNA ist bei niedrigen Temperaturen möglich. Ab 45 Grad Celsius ändert sich die Konformation der RNA und die Ribosom-Bindestelle wird blockiert. Das erste RNAT, das dem heute als Standard betrachteten Mechanismus folgt, entdeckten japanische Wissenschaftler erst zehn Jahre später in E. coli . Das Element kontrolliert die Expression des alternativen Sigma-Faktors σ32, einem Schlüsselregulator der bakteriellen Hitzeschockantwort.

Wärme macht gefährlich

Hierüber begann auch Narberhaus‘ Interesse für die regulativen Strukturen. „Es war eigentlich Zufall, dass ich zu den RNA-Thermometern gekommen bin – wie so oft in der Wissenschaft. Ich habe mich damals mit bakteriellen Hitzeschockproteinen beschäftigt und festgestellt, dass viele davon durch solche Thermometer reguliert werden“. Den Forscher faszinierte vor allem, wie schnell und effizient Bakterien über diesen Mechanismus auf Temperaturänderungen reagieren konnten. Narberhaus: „Die RNA ist ja schon da. Wenn sie ein Mettbrötchen essen, das mit Yersinia kontaminiert ist, bemerkt der Erreger den Temperaturanstieg und kann sofort reagieren. Das ist der Vorteil dieser Thermometer.“ Eine unmittelbare Reaktion sei in solchen Situationen für das Bakterium überlebenswichtig.

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Franz Narberhaus und PLoS-Pathogens-Erstautor Christian Twittenhoff mit einem 3D-Modell eines RNA-Thermometers. Foto: RUB/Tim Kramer

Als sich die Bochumer Forscher intensiv mit den regulatorischen RNA-Strukturen beschäftigten, entdeckten sie, dass nicht nur Hitzeschockproteine durch RNAT reguliert werden. Schon 2006 zeigte Narberhaus‘ Team in Kooperation mit Petra Dersch, heute am Institut für Infektiologie der Universität Münster, dass der zentrale Virulenzregulator LcrF in Y. pseudotuberculosis durch ein RNAT reguliert wird. Darüber hinaus werden viele weitere an der Virulenz beteiligte Faktoren mithilfe solcher Elemente temperaturabhängig exprimiert. „Wir haben das in einer 2016 veröffentlichten Analyse herausgefunden, in der wir uns die Struktur von allen Y.-pseudotuberculosis-Transkripten angesehen haben“, erinnert sich Narberhaus (PNAS 113: 7237-42).

Die Gruppe hatte im Rahmen der Studie in über 1.700 RNAs nach potenziellen Thermometern gesucht. Diese zu identifizieren, war allerdings nicht einfach: „Solche regulatorischen Elemente haben keine konservierte Sequenz und können bioinformatisch nicht zuverlässig entdeckt werden. Wir mussten tatsächlich experimentell schauen, ob wir RNA-Strukturen finden, die bei 37 Grad Celsius ‚offener‘ sind als bei 25 Grad Celsius.“ Dabei bediente sich die Gruppe der sogenannten Parallelen Analyse von RNA-Strukturen (PARS, für Parallel Analysis of RNA Structures). Die Forscher isolierten die Gesamt-RNA, ließen sie bei unterschiedlichen Temperaturen zurückfalten und nahmen dann einen enzymatischen Verdau der RNA-Moleküle vor. Je nach Öffnungsgrad ergaben sich daraus bestimmte Fragmentprofile, die Narberhaus‘ Gruppe verglich. So gelang es den Wissenschaftlern, 16 neue RNA-Thermometer in Y. pseudotuberculosis zu identifizieren.

Motiviert durch die hohe Anzahl an RNAT in Yersinia, untersuchten die Bochumer genauer, welche Gene durch diese reguliert werden. Dabei entdeckten sie, dass auch die Bildung des sekretierten Toxins Cytotxic Necrotizing Factor (CNFY) von einem komplexen RNA-Thermometer kontrolliert wird (PLOS Pathog. 16(1): e1008184). Das Protein sei ein wichtiger Virulenzfaktor von Y. pseudotuberculosis und werde über einen ungewöhnlichen Weg zum Wirt transportiert, so Narberhaus. „Das Toxin wird direkt und über Membranvesikel sekretiert, was erst seit kurzem bekannt ist.“ Den Wissenschaftlern gelang es, dessen RNA-Thermometer durch zwei gezielte Mutationen so zu stabilisieren, dass es bei 37 Grad Celsius nicht mehr aufschmolz. Die Yersinia-Bakterien, die das so modifizierte RNAT trugen, waren unfähig, den Giftstoff zu bilden und dadurch weniger gefährlich. Dies bestätigten die Forscher zusammen mit Petra Dersch und ihrer Gruppe am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig im Mausmodell. Die Bakterien mit dem stabilisierten RNA-Thermometer verursachten kaum Krankheitssymptome in den infizierten Mäusen und waren nicht in der Lage, sich in andere Organsysteme auszubreiten. So konnte die Gruppe zeigen, dass das regulatorische RNA-Element allein ausreicht, um die Translation des cnfY-Transkriptes effizient zu kontrollieren.

Bioinformatische Ergebnisse legten zudem nahe, dass CNFY-Homologe in anderen Bakterien ebenfalls durch RNA-Thermometer reguliert werden, erklärt Narberhaus. Diese seien in Sequenz und Struktur unterschiedlich. Ein Hinweis darauf, dass das Prinzip der RNA-Thermometer in der Evolution mehrfach erfunden worden sei.

Dass vor allem Pathogenitätsmerkmale von RNATs kontrolliert werden, erscheint logisch. „Für einen Erreger wie Yersinia ist es günstig, noch keine Virulenzfaktoren zu zeigen, wenn er in den Wirt eindringt. Dieser würde solche Antigene sofort entdecken. Einmal aufgenommen, müssen Toxine und Immunmodulatoren jedoch schnell gebildet werden, damit sich der Erreger gegen das Immunsystem wehren kann. Wenn die Zelle da nicht sofort reagiert, wird sie vom Wirt eliminiert“, erklärt Narberhaus. Auch wenn das Bakterium durch den Organismus wieder ausgeschieden werde, sei es von Vorteil, die Virulenzfaktoren schnell wieder auszuschalten.

Gefahrlos mutieren

RNA-Thermometer könnten auch die evolutionsbiologische Hypothese der „RNA-Welt“ weiter stützen. Der Theorie zufolge habe die RNA vor Aufkommen komplexer, regulatorischer Proteine enzymatische Funktionen übernommen. Die Abschnitte stromaufwärts der Gensequenz für die mRNA seien dabei prädestiniert für ein solches regulatorisches Feintuning. Narberhaus: „Die nicht-codierenden Regionen bieten für die Evolution eine gute Möglichkeit, dort relativ sensitive Thermometer zu etablieren, da Mutationen hier fast gefahrlos möglich sind.“

Während ihrer Arbeit an CNFY fanden die Bochumer Forscher auch erste Hinweise darauf, dass Teile des Typ-III-Sekretionssystems ebenfalls von RNA-Thermometern kontrolliert werden. Dieser Mechanismus sei ein weiterer Hauptsekretionsweg für Virulenzfaktoren von Yersinia. Dort wolle man in Zukunft etwas genauer hinschauen, erzählt Narberhaus. Weiterhin wollen die Forscher Strukturveränderungen der RNA in lebenden Yersinia-Zellen untersuchen, um einen besseren Einblick in die Dynamik der RNAT zu gewinnen. Prinzipiell scheinen diese Thermometer universelle Instrumente für eine temperaturabhängige Expressionsregulation darzustellen, die auch in Eukaryoten eine Rolle spielen könnte. Hier seien erste Hinweise vorhanden, dass temperaturabhängige Konformationsänderungen der RNA ebenfalls Einfluss auf die Genexpression haben. Es bleibt also noch viel zu entdecken und wird sicher nicht das letzte Mal sein, dass wir von RNA-Thermometern hören.



Letzte Änderungen: 11.03.2020