Wie viel männlich oder weiblich darf’s denn sein?

Larissa Tetsch


Editorial

(07.10.2022) BASEL: Plattwürmer der Gattung Macrostomum prägen gleichzeitig männliche und weibliche Geschlechtsorgane aus. Wie viel Energie sie in das eine oder das andere investieren, hängt auch davon ab, auf welche Weise sie sich paaren.

Bei Sex denken wohl die meisten Menschen zuerst an den Geschlechtsakt zwischen Mann und Frau. Tatsächlich ist im Tierreich die geschlechtliche Fortpflanzung zwischen getrennten Geschlechtern weit verbreitet – wobei das Geschlecht mit den vielen kleinen Keimzellen biologisch als männlich und das mit den wenigen großen Keimzellen als weiblich definiert ist. Die einzige Möglichkeit ist sie aber nicht. Eine Alternative ist der Hermaphrodit. Er prägt gleichzeitig beide Geschlechter aus, wie es viele Schnecken oder Plattwürmer tun. „Zwitter stehen dann vor der Entscheidung, wie viele ihrer begrenzten Ressourcen sie in die Ausprägung der unterschiedlichen Geschlechter investieren“, erklärt Lukas Schärer von der Universität Basel, der mit seinem Team die Evolution der geschlechtlichen Fortpflanzung an Plattwürmern der Gattung Macrostomum erforscht.

Auch bei getrennt geschlechtlichen Organismen kann es je nach Umweltbedingung sinnvoll sein, unterschiedlich viele weibliche oder männliche Nachkommen, also Töchter und Söhne, zu produzieren. Bei Zwittern untersucht man dagegen die unterschiedliche Ausprägung der weiblichen und männlichen Geschlechtsorgane in einem Individuum. Dafür ist es ausgesprochen praktisch, wenn das Versuchstier durchsichtig ist wie die Macrostomum-Arten. „Als ich vor zwanzig Jahren auf diesem Forschungsgebiet angefangen habe, wurde mir klar, dass ich für meine Untersuchungen einen durchsichtigen Zwitter brauche“, erinnert sich Schärer. „Und da habe ich mich auf die Suche gemacht.“ Diese Weitsicht hat sich ausgezahlt, denn unter dem Mikroskop lassen sich die Hoden- und Eierstockgrößen der nur rund ein bis vier Millimeter langen Plattwürmer gut genug abschätzen. Von Vorteil ist außerdem, dass die verschiedenen Arten weltweit im Süß-, Brack- und Salzwasser vorkommen.

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Verschiedene Arten der Plattwurm-Gattung Macrostomum: Die Würmer sind transparent, sodass sich die Größe der weiblichen und männlichen Geschlechtsorgane – und damit die Investition in weibliche und männliche Reproduktion – einfach unter dem Mikroskop am lebenden Tier bestimmen lässt. Foto: Jeremias Brand

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Für die Forschung um die Welt

Aus verschiedenen Studien ist bereits bekannt, dass für die Entscheidung über die Investition in die Geschlechter die Konkurrenz zwischen Männchen in einer Gruppe – oder bei Zwittern die zwischen Spermien verschiedener Spender – eine entscheidende Rolle spielt. Je größer die Konkurrenz, etwa in großen Gruppen oder bei häufigen Paarungen, desto mehr lohnt sich die Investition in das männliche Geschlecht. Auch bei Macrostomum ist das so, wie Schärer erklärt: „Wir haben verschiedene Arten in kleinen und in großen Gruppen aufwachsen lassen und konnten sehen, dass viele von ihnen in der Lage sind, ihre Investition in die Geschlechter an die Gegebenheiten anzupassen.“ Wie Letztere durch das Paarungsverhalten der Würmer beeinflusst werden, haben Schärer und sein damaliger Doktorand Jeremias Brand in ihrer aktuellen Studie zeigen können (BMC Biology 20: 35). Darin ist jede Menge Fleißarbeit enthalten, denn zuerst einmal mussten die Baseler die Fortpflanzungsstrategien einer großen Anzahl an Macrostomum-Arten unter die Lupe nehmen.

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„Für unsere Analysen ist ein verlässlicher Stammbaum essenziell“, ist Schärer überzeugt. „Nur so können wir die Fortpflanzungsstrategien der einzelnen Arten und die Morphologie ihrer Spermien mit ihrem Verwandtschaftsgrad in Verbindung bringen.“ Deshalb rekonstruierte Doktorand Brand anhand molekularer Daten einen phylogenetischen Stammbaum von 150 Macrostomum-Arten, den die Gruppe ebenfalls dieses Jahr veröffentlichte (Mol. Phylogenet. Evol. 166: 107296). Für die BMC-Biology-Studie bestimmte Brand dann bei 120 Arten die Größe der Hoden und Eierstöcke und errechnete daraus einen Quotienten als Maß für die investierte Energie. Da viele der untersuchten Plattwürmer nicht im Labor angezogen werden können, fand ein Großteil der Forschung im Feld statt. „Jeremias und ich waren für die Untersuchungen unter anderem in Australien, in Florida, Finnland und Italien“, erzählt Schärer. Danach wussten die Forscher, welche Art vergleichsweise mehr in die weibliche und welche mehr in die männliche Seite investierte. Aber womit hängt das zusammen? Eine Antwort fanden sie im Paarungsverhalten der Würmer.

Friedlich oder brachial?

Wenn sich zwei Zwitter treffen, müssen sie aushandeln, wer beim Sex Spermien spendet und wer sie empfängt. Das birgt Potenzial für Konflikte, erklärt Schärer: „Wir gehen davon aus, dass die Würmer oft die gleiche Präferenz haben, sie also beide bevorzugt als Spermienspender auftreten wollen.“ Für das Problem hat Macrostomum zwei Lösungen gefunden. Die eine ist ein scheinbar friedlicher Kompromiss, die reziproke Paarung, bei der sich beide Partner gegenseitig begatten. „Unser Modellorganismus ist ein Simultan-Zwitter“, sagt Schärer und beschreibt, dass sich beide Partner gleichzeitig begatten, indem sie sich mit ihren Schwanzplatten umklammern und so eine Art Kringel bilden.

Zwar löst die reziproke Paarung einen Konflikt, aber gleich tritt das nächste Problem auf: Die Würmer sind nun nicht mehr in der Lage, Spermien zu verweigern. Doch auch dafür haben sie eine Lösung gefunden: Sie können unerwünschte Spermien nach der Paarung wieder aus der Geschlechtsöffnung entfernen, indem sie ihre Mundöffnung über diese stülpen und das Ejakulat heraussaugen. In einer Art Wettrüsten versuchen die Spender das jedoch zu verhindern, indem sie ihre Spermien mit Widerhaken ausstatten, um sie im weiblichen Genital zu verankern.

Auf eine ganz und gar unfriedliche Lösung des Paarungskonflikts setzen dagegen andere Arten. Sie erzwingen eine Paarung, indem sie ihrem „Partner“ die Spermien mit einem spitzen Begattungsorgan direkt unter die Haut spritzen. Die Spermien kriechen dann von selbst durch das Gewebe zur Eizelle. „Bei dieser hydrodermalen Paarung ist es dem Empfänger nicht mehr möglich, Spermien nachträglich zu entfernen“, so Schärer. „Die Spermien dieser Arten besitzen deshalb auch keine oder nur kleine rückgebildete Widerhaken.“ Außerdem hat sich das weibliche Genital in seiner Komplexität zurückgebildet, während der als Stilett bezeichnete Penis kürzer und spitzer ist als bei den reziprok paarenden Arten.

In einer weiteren Publikation mit Brand als Erstautor zeigen die Evolutionsbiologen, dass diese hydrodermale Paarung in der Gattung Macrostomum mindestens zehnmal unabhängig voneinander entstanden ist und dabei immer mit den gleichen morphologischen Veränderungen einhergeht (Evol. Lett. 6(1): 63-82). Ob bei dieser martialischen Paarungsmethode nur ein Partner oder beide nacheinander zum Zug kommen, wissen die Forscher dagegen noch nicht. „Anders als die reziproke Paarung lässt sich die hydrodermale Insemination nämlich im Labor nur selten beobachten“, bedauert Schärer.

Dieses unterschiedliche Paarungsverhalten, so vermuteten die Baseler, sollte sich eigentlich auf die Investition in die Geschlechter auswirken: „Da wir bei der reziproken Paarung häufige Paarungen und viel Konkurrenz zwischen den Spermien sehen, sollte tendenziell viel in die männliche Seite investiert werden.“ Bei der hydrodermalen Paarung ist die Situation komplexer. Da hier die Spermien nicht mehr nachträglich entfernt werden können, ist davon auszugehen, dass die von mehreren Spendern stammenden Zellen stark miteinander konkurrieren müssen. Auf der anderen Seite neigen Arten mit hydrodermaler Befruchtung zu vermehrter Selbstbefruchtung, was die Konkurrenz durch andere Männchen reduzieren würde. In diesem Fall sollte sich eine vermehrte Investition in weibliche Keimzellen lohnen. Schärer: „Hinzu kommt, dass sich Arten mit hydrodermaler Insemination wohl seltener paaren als solche mit reziprokem Geschlechtsverkehr.“

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Lukas Schärer (li.) und sein ehemaliger Doktorand Jeremias Brand. Fotos (2): Privat

Tatsächlich sehen Brand und Schärer eine bimodale Verteilung, bei der reziprok paarende Arten vermehrt in die männliche Seite und hydrodermal paarende Arten vermehrt in die weibliche Seite investieren. Welche Rolle dabei die Selbstbefruchtung spielt, klärten die Forscher durch Transkriptomanalyse. Letztere ermöglicht, den Grad der Heterozygotie zu bestimmen, also die Diversität der Allele. Ist diese niedrig, ist dies ein Anzeichen für häufige Selbstbefruchtung (oder andere Formen der Inzucht). Genau das sahen die Baseler bei den hydrodermal paarenden Plattwürmern, und je geringer der Heterozygotie-Grad, desto mehr wurde in die Eierstockgröße investiert.

Samenspender zurückverfolgen

Zukünftig möchte Schärer sich die Mechanismen der Spermienkonkurrenz genauer anschauen. „Wir wollen herausfinden, wie sich die Spermien verschiedener Macrostomum-Arten unterscheiden und wie sich das auf ihren Erfolg auswirkt“, sagt er und erklärt, dass dabei sieben transgene Plattwurm-Stämme helfen sollen. „Bislang konnten wir zwar Spermien im Empfänger nachweisen, wussten aber nicht, von wem genau sie kamen. Jetzt können wir die Spermien verschiedener Spender unterscheiden, weil sie durch die Produktion des grün-fluoreszierenden Proteins unterschiedlich grün leuchten.“ Dafür muss Schärer allerdings auf Brand verzichten, denn dieser ist inzwischen Postdoc am Max-Planck-Institut für Multidisziplinäre Naturwissenschaften in Göttingen. Dort untersucht er, wie sich bei einem anderen Plattwurm Individuen mit sexueller und asexueller Fortpflanzung genetisch unterscheiden.