Noch ein Amyloid

Mario Rembold


Editorial

(07.02.2023) TÜBINGEN: β-Amyloid gilt als wichtiger Faktor in der Entstehung der Alzheimer-Krankheit. Das Protein Medin könnte die Entstehung von β-Amyloid-Ablagerungen begünstigen – jedenfalls in den Blutgefäßen des Gehirns.

Seit Alois Alzheimer histologische Veränderungen im Gehirn erstmals im Zusammenhang mit Demenz beschrieb, wird rege diskutiert und geforscht, was daran Henne und was Ei ist. Dass amyloide Plaques die Funktion von Nervenzellen beeinträchtigen, erscheint plausibel. Andererseits finden sich Proteinablagerungen post mortem auch bei Menschen, die zu Lebzeiten nicht über kognitive Probleme klagten.

Jonas Neher vom Tübinger Standort des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE)
Medin begünstigt die Aggregation von Aβ-Peptiden – vor allem in Hirn-Blutgefäßen von Alzheimer-Patienten. Das Wie untersucht die Arbeitsgruppe von Jonas Neher am Tübinger Standort des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE). Foto: Ingo Rappers/HIH

Fest steht: β-Amyloid-Plaques sind für die Alzheimer-Pathologie von zentraler Bedeutung. Sie entstehen, wenn Aβ-Peptide aggregieren, nachdem sie aus dem Amyloid-Precursor-Protein (APP) durch zwei Sekretasen herausgeschnitten wurden. APP selbst ist ein integrales Membranprotein, das bei der Bildung von Synapsen eine Rolle spielt. Seine genaue Funktion ist jedoch noch unbekannt. Auf jeden Fall unterstützt es die Funktion von Neuronen, kommt aber auch in anderen Organen wie der Leber und dem Pankreas vor. Nebenbei: Nicht alle APP-Peptide bilden amyloide Plaques. Einige können auch positive Einflüsse auf den Metabolismus haben (Metabolism, doi.org/jszn).

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Außerdem ist nicht nur APP in der Lage, Amyloide hervorzubringen. Insgesamt sind mehr als 30 Peptide und Proteine bekannt, die zu amyloiden Fibrillen aus mehreren hundert Nanometer langen β-Faltblättern aggregieren können. „Die meisten Amyloide gehen außerdem mit einem pathologischen Prozess einher“, ergänzt Jonas Neher, Leiter der AG Neuroimmunologie und Neurodegenerative Erkrankungen am Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) in Tübingen. In einer aktuellen Arbeit bringt seine Arbeitsgruppe in Kooperation mit anderen europäischen Forscherinnen und Forschern nun ein weiteres Protein mit Alzheimer in Verbindung: Medin. Medin-Aggregate finden sich verstärkt in Hirn-Blutgefäßen von Alzheimer-Patienten, und zwar gemeinsam mit Aβ-Aggregaten. Laut den Tübinger Forschern kann Medin sogar die Entstehung von Aβ-Aggregaten zumindest im Reagenzglas und in der Maus begünstigen (Nature, doi.org/gq8zk4).

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Mehr als nur β-Amyloid

Die ohnehin schon unübersichtliche Diskussion zur Alzheimer-Pathogenese ist also um eine weitere Variable reicher. Dringend tatverdächtig ist vor allem das Tau-Protein: Normalerweise stabilisiert es Mikrotubuli, lagert sich bei Alzheimer aber innerhalb von Nervenzellen zu unlöslichen Neurofibrillen zusammen. Ob und welche Proteinaggregate kausal für Demenzen verantwortlich sind, ist allerdings noch immer Gegenstand wissenschaftlicher Diskussion. Auch unser Wissenschaftsnarr diskutierte in LJ-Ausgabe 11/2021 rege mit (Link). Wie kompliziert die Angelegenheit ist, bezeugt auch dieser Befund: Der gegen Alzheimer entwickelte Antikörper Aducanumab fängt zwar Aβ nachweislich weg, verhindert den Ausbruch der Demenz aber selbst bei frühzeitiger Verabreichung nicht. Unbekannte Protagonisten spielen also eine Rolle.

Auch Neher bestätigt, dass die Entstehung der Alzheimer-Demenz ein multifaktorielles Zusammenspiel unterschiedlicher molekularer Akteure ist, die entzündliche Reaktionen bis hin zur Blutversorgung beeinflussen. Dennoch ist er davon überzeugt, dass Aβ ein wichtiger Auslöser für die Krankheitsentstehung ist. „Mit Lecanemab gibt es zum ersten Mal einen Antikörper, der einen signifikanten Effekt auf die Kognition gezeigt hat“, nennt er ein ermutigendes Beispiel für einen anti-Aβ-Wirkstoff. Allerdings muss er früh verabreicht werden, um für Patienten von Vorteil zu sein. „Das unterstützt die Theorie einer ursächlichen Rolle von Aβ“, ergänzt Neher.

Dass sich amyloide Plaques auch bei Verstorbenen ohne Demenz-Diagnose finden, überrascht Neher unterdessen nicht: „Aβ-Ablagerungen können schon zehn bis zwanzig Jahre vor der Feststellbarkeit kognitiver Dysfunktion im Patienten auftreten.“ Somit können zwar weitere Faktoren als Auslöser notwendig sein, ohne Aβ-Plaques kommt es aber wohl nicht zur Alzheimer-Demenz. Neher fasst den aktuellen Konsens zusammen: „Aβ triggert entzündliche Reaktionen, die eine Tau-Pathologie hervorrufen.“

Problem statt Lösung

Auf Medin stieß Nehers Team vor zehn Jahren, als es dessen Vorläuferprotein Lactadherin oder milk fat globule EGF-like factor-8 (MFG-E8) untersuchte: „MFG-E8 fördert die Phagozytose apoptotischer Zellen durch Makrophagen und wir hatten damals die Idee, dass es auch zur Phagozytose von Aβ-Plaques beitragen könnte.“ Anstatt vor Alzheimer-Demenz zu schützen, fanden die Tübinger jedoch Indizien, dass MFG-E8 dessen Pathologie verschärft. Denn es sind bestimmte MFG-E8-Peptide, die Medin-Aggregate bilden.

Elektronenmiskroskopische Aufnahmen von gelösten und pathologisch aggregierten Beta-Amyloid-Peptiden
Aβ-Peptide können sich sowohl zu amorphen Aggregaten (links) als auch zu amyloiden Fibrillen (rechts) zusammenlagern – je nach Salzkonzentrationen, pH-Wert und Temperatur sowie der Gegenwart von Aggregationskeimen. EM: Henrik Müller/PTCL Oxford

Tatsächlich ist Medin das am häufigsten beim Menschen gefundene Amyloid überhaupt: Es taucht bei 97 Prozent aller Europäer in den Blutgefäßen auf, wenn sie älter als 50 Jahre sind. Im eigentlichen Sinn pathologisch seien Medin-Ablagerungen daher wohl nicht, erklärt Neher, aber altersbedingte Risiken für Gefäßerkrankungen dürften auch mit Medin im Zusammenhang stehen. „Die Blutgefäßfunktion nimmt ja im Alter ab. Und von Mäusen mit Medin-Ablagerungen in den Blutgefäßen wissen wir, dass ihr Blutfluss im Gehirn verschlechtert ist. Entfernt man die Medin-Ablagerungen genetisch, treten diese Probleme in der Maus nicht auf.“

Natürlich haben Experimente zur Durchblutung des Mäusehirns erstmal nichts mit Alzheimer zu tun. Also mussten Neher und Co. zunächst klären, ob MFG-E8-Peptide in der Maus überhaupt amyloide Fibrillen bilden können. „Medin kannten wir vorher schließlich nur aus menschlichen Proben“, erinnert sich Neher. Also nahmen die Neuroimmunologen den Nager genauer unter die Lupe und konnten in ihm tatsächlich Medin nachweisen sowie ähnliche Auswirkungen auf die Blutgefäße wie beim Menschen beschreiben (PNAS, doi.org/gmwnc6).

Gemeinsam in Blutgefäßen

Darauf aufbauend suchte Nehers Arbeitsgruppe nach Zusammenhängen zwischen Medin und Alzheimer. „In der Alzheimerforschung gibt es verschiedene Maus-Modelle“, erklärt Jessica Wagner, Doktorandin in der Neher-AG und Erstautorin der aktuellen Publikation (Nature, doi.org/gq8zk4). „Wir haben APP-Mäuse verwendet, die vermehrt Aβ produzieren und infolge dessen Aβ-Ablagerungen in den Hirngefäßen bilden“. In zwei ihrer Mauslinien untersuchten die Forscher mithilfe histologischer Antikörper-Färbungen, wo Medin und Aβ im Mäusegehirn auftauchen, und erkannten: Die Peptide aggregieren gemeinsam. Darüber hinaus verringerte sich in der Maus die Last an Aβ-Aggregaten um 40 bis 65 Prozent, sobald die Tübinger die für Medin relevante Domäne genetisch aus MFG-E8 entfernten, und zwar vor allem in Blutgefäßen.

„Tatsächlich kommen vaskuläre Aβ-Ablagerungen bei mehr als der Hälfte aller Alzheimer-Patienten vor“, ergänzt Wagner ein weiteres Puzzlestück. Die Rede ist dann von cerebraler Aβ-Angiopathie (CAA). „Und wenn neben Aβ-Aggregaten noch ein anderes Amyloid in der Vaskulatur vorkommt, ist es natürlich spannend herauszufinden, ob sie miteinander wechselwirken“, so Wagner.

Kognitive Dysfunktion

Also untersuchten die Autoren die Gehirne von 16 verstorbenen Alzheimer-Patienten. In deren Blutgefäßen erwies sich die Menge von MFG-E8 als 30- bis 40-mal höher als im Gehirn. Das war zwar wenig überraschend, da MFG-E8 vor allem in Blutgefäßen produziert wird. Doch speziell bei Patienten mit CAA-Pathologie war MFG-E8 im Schnitt nochmal um das 2,3-Fache erhöht. Kurzum: Auch in menschlichen Blutgefäßen sahen die Forscher eine Ko-Aggregation von Medin und Aβ. In amyloiden Plaques außerhalb von Blutgefäßen fanden sie dagegen kein Medin. „Das hat uns überrascht, denn es stimmt nicht mit unserem Maus-Modell überein“, fasst Neher ihren aktuellen Wissensstand zusammen.

Ein Blick auf das Religious Orders Study/Memory and Aging Project (ROSMAP) untermauert hingegen Nehers Verdacht, dass Medin zur Alzheimer-Symptomatik beiträgt: „Diese US-Langzeitstudie zeichnet sich durch eine sehr gut charakterisierte Neuropathologie aus. Außerdem beinhaltet sie ein Organspende-Programm, was uns viele Möglichkeiten bietet, uns den Krankheitsverlauf anzuschauen.“ Zwar ist Medin in den ROSMAP-Datensätzen nicht erfasst, dafür aber die Transkription von MFG-E8. Also setzten die Autoren den kognitiven Zustand der Studienteilnehmer in Beziehung zu ihren histologischen Befunden und Transkriptomen: „Wir rechneten die bekannten Effekte der Alzheimer-Plaques und der Tau-Pathologie heraus und ermittelten, ob ein zusätzlicher Effekt auf die kognitive Dys- funktion durch MFG-E8 bleibt. Einen solchen Effekt haben wir gesehen“, erklärt Neher.

Und auch ihre letzte Vermutung, dass Medin für Aβ als Aggregationskeim dient, erwies sich als korrekt. In In-vitro-Fibrillogenese-Assays beschleunigte Medin die Aggregation von rekombinantem Aβ. Als In-vivo-Beleg injizierten die Forscher Medin aus menschlichen Blutgefäßen darüber hinaus in den Hippocampus von Mäusen und fanden sechs Monate später vermehrt Aβ-Ablagerungen in deren Blutgefäßen. „Eigentlich hätten wir das ahnen können, da es in beiden Peptiden einen extrem homologen Abschnitt gibt“, fasst Neher zusammen.

Ließen sich Alzheimer-Demenzen also über eine Regulation von MFG-E8 und Medin verhindern oder zumindest verzögern – zumindest bei Aβ-Angiopathie-Patienten? „Natürlich ist es unser Ziel, Alzheimer zu behandeln“, antwortet Neher. „Ob Medin als therapeutisches Ziel in Frage kommt, wollen wir jetzt herausfinden.“