Trickreiche Krebszellen

Larissa Tetsch


Editorial

(07.02.2023) WÜRZBURG: Der Transkriptionsfaktor MYC ist an fast allen aktiven Promotoren einer Zelle zu finden. Für seine Rolle als Onkoprotein bei der Entstehung einer Vielzahl von Tumoren ist offensichtlich seine Fähigkeit entscheidend, Multimere zu bilden.

Bei einer Prüfung werden die meisten Studenten auf die Frage nach einem Onkogen wohl myc nennen. Kein Wunder, denn die drei eng verwandten MYC-Proteine spielen bei der Entartung von Zellen eine wichtige Rolle. Der Transkriptionsfaktor, der das ungebremste Wachstum von Zellen fördert, steht deshalb im Fokus der Arbeit von Martin Eilers und seinem Team am Biozentrum der Universität Würzburg. „Die Expression von myc ist in allen Tumor-Entitäten, aber darüber hinaus auch in den meisten individuellen Tumoren erhöht“, erklärt der Professor für Biochemie und Molekularbiologie. „Im Umkehrschluss lässt sich die Entstehung eines Tumors künstlich auslösen, indem man die MYC-Produktion erhöht.“

Dabei seien Tumoren regelrecht abhängig von der myc-Expression: Da sie mehr MYC brauchen als gesunde Zellen, ist der Transkriptionsfaktor ein ausgesprochen attraktives Ziel für neue Krebstherapien. „Wir wissen, dass Krebszellen sterben, wenn MYC gehemmt wird, aber es gibt bislang keinen Weg, dies auf therapeutische Weise zu tun“, sagt Eilers und deutet an, dass die von seiner Gruppe kürzlich publizierten Forschungsergebnisse hier neue Möglichkeiten eröffnen könnten (Nature, doi.org/js89).

Mikroskopie der Verteilung von MYC-Proteinen in gesunden und in Tumor-Zellen
In normalen Zellen (links) sind MYC-Proteine gleichmäßig im Zellkern verteilt, während sie in Krebszellen (rechts) als Antwort auf Störungen der Transkriptions-Elongation, des mRNA-Splicings oder des Proteasoms zu kugelartigen Strukturen multimerisieren. Immunfluoreszenz: AG Eilers

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Betrachten wir also zunächst, was MYC normalerweise macht. Als Transkriptionsfaktor sitzt es – als Heterodimer mit dem Protein MAX – an eigentlich allen Promotoren der Zelle und aktiviert dort die Genexpression. „Die Effekte sind allerdings schwächer, als man erwarten könnte“, sagt Eilers – und sieht das als Zeichen, dass hier bisher etwas übersehen wurde.

Tatsächlich beschreibt sein Team, dass MYC nicht nur als Heterodimer mit MAX vorkommt, sondern auch in Form großer Multimere oder Kondensate auftreten kann. Das fiel den Forschern auf, als sie das Protein rekombinant produzierten. „Zuerst wollten wir diese Beobachtung nicht weiterverfolgen“, so der Biochemiker. „Aber nachdem wir sahen, dass die Multimere in Zellen immer dann auftreten, wenn wir die Elongation der Transkription hemmen, hatten wir das Gefühl, dass wir da einer wichtigen Sache auf der Spur sind.“ Inzwischen konnten die Würzburger die Multimere in verschiedenen humanen und tierischen Zelllinien, in Tumormodellen und sogar in Tumorzellen von Patienten mit multiplem Myelom nachweisen. „Ein Blick in die Literatur zeigt, dass MYC-Multimere immer mal wieder beobachtet worden sind“, sagt Eilers. „Wir zeigen aber erstmals, dass sie eine konservierte Antwort auf Stress sind. Dabei sind die Kondensate hochdynamische Gebilde, die sich schnell wieder auflösen, wenn der Stressfaktor wegfällt.“ Was aber ist der biologische Sinn dieses konservierten Verhaltens des Transkriptionsfaktors?

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Schutz vor Enzym-Kollision

Von ihren Experimenten wussten Eilers und Co., dass sich die Multimere immer dann bilden, wenn die RNA-Polymerase während der Transkription langsamer wird – sei es weil die Elongation gestört ist oder weil das Spleißen der Primärtranskripte nicht mehr richtig funktioniert. Die Multimere bildeten sich dann in der Nähe der Promotoren, waren aber mit bis zu mehreren tausend Proteinen so groß, dass sie weit über den regulatorischen Bereich der Gene herausragten. Die Kondensate waren kugelförmig mit einem Durchmesser von bis zu fünf Mikrometern und hatten eine Art Schale, in der die MYC-Proteine dicht gepackt beieinanderlagen. Diese Hohlkugeln saßen dann bevorzugt auf angehaltenen Replikationsgabeln. „Das sind sehr fragile Strukturen“, weiß Eilers und erklärt, dass die MYC-Hohlkugeln verhindern könnten, dass RNA-Polymerasen in die Replikationsgabeln laufen. Denn dann – insbesondere, wenn die RNA-Polymerase in Gegenrichtung zur Replikationsmaschinerie läuft – könne es zu schweren DNA-Schäden kommen, insbesondere zu Doppelstrangbrüchen.

An dieser Stelle erinnert der Biochemiker noch einmal daran, dass noch nicht bekannt ist, wie MYC die Krebszellen schützt. „Eine Vermutung ist, dass MYC den Tumorzellen hilft, sich vor dem Immunsystem zu verstecken, denn die MYC-Überproduktion ist nur in immunkompetenten Zellen wichtig für das Überleben. Doppelstrangbrüche wiederum können für das Immunsystem ein Signal sein, dass mit der Zelle etwas nicht stimmt.“

Aus dem Heterodimer gedrängt

Kurz gesagt vermuten die Würzburger also, dass die Zelle eine langsamer werdende RNA-Polymerase bemerkt und dies als Zeichen dafür nimmt, dass irgendwo eine Replika­tionsgabel angehalten wurde. Wichtig ist nun, die Transkription möglichst schnell, am besten gleich am Promotor, zu beenden. Dazu sind in die MYC-Kondensate weitere Proteine eingebaut, beispielsweise Faktoren, die für die Termination der Transkription notwendig sind. „Die RNA-Polymerase wird dadurch sozusagen aktiv von der DNA geschubst“, erklärt Eilers. Eine weitere Rolle spielt der Elongationsfaktor SPT5, der in die Multimere hineingezogen und damit der RNA-Polymerase an anderer Stelle entzogen wird. Ohne den Elonga­tionsfaktor kommt die Transkription zum Erliegen. Wie die Zelle von der verlangsamten Transkription auf die Probleme bei der Replikation schließt, ist allerdings noch eine völlig offene Frage, die Eilers zukünftig mit seiner Arbeitsgruppe angehen möchte.

Zumindest für den Wechsel von der Heterodimer- zur Multimer-Form haben die Würzburger eine gute Erklärung. Die Tatsache, dass auch eine Hemmung des Proteasoms die Kondensation von MYC induziert, rückte die Ubiquitinylierung in den Fokus der Aufmerksamkeit. „MYC hat eine hohe Umsatzrate und wird kontinuierlich ubiquitinyliert“, erklärt Eilers. „Wenn das Proteasom nicht mehr funktioniert, kann der markierte Transkriptionsfaktor nicht mehr abgebaut werden. Die Ubiquitin-Reste sammeln sich an, bis MYC mit Ubiquitin-Resten gespickt ist wie ein Stachelschwein.“

Der Würzburger Biochemiker Martin Eilers und Mitglieder seines Teams
Einige der Mitarbeiter der Arbeitsgruppe Eilers, die am Projekt MYC-Hohlkugeln beteiligt sind: vorn Daniel Solvie, Leonie Uhl und Amel Aziba; hinten Daniel Fleischhauer, Martin Eilers und Elmar Wolf (v.l.n.r.) Foto: AG Eilers

Interessanterweise sitzen manche der Ubiquitin-Reste genau an den Stellen, an denen MYC und MAX interagieren. Das stört vermutlich die Wechselwirkung zwischen den beiden Proteinen, sodass MYC frei für die Kondensatbildung wird. Konsequenterweise können MYC-Proteine, die keine Lysin-Reste für die Übertragung von Ubiquitin besitzen, keine Multimere bilden und auch kein SPT5 rekrutieren.

Kandidat für Krebsmedikament

Nachdem die Ubiquitinylierung so entscheidend für die Funktion von MYC ist, war es ein großer Wurf, dass die Forscher das dafür verantwortliche Enzym dingfest machen konnten. Konkret suchten sie eine Ligase, die Ubiquitin an Lysin 6 anhängt – Markierungen an dieser Aminosäure führen nur mit Verzögerung zu einem Abbau des Proteins durch das Proteasom. Ein Enzym, das diese besondere Ubiquitinylierung vornehmen kann, ist die HUWEI-Ligase. Und tatsächlich konnte das Team um Eilers nachweisen, dass dieses Enzym verantwortlich ist für das Anhängen der Lysin-Reste, die die Interaktion von MYC und MAX inhibieren.

Und noch besser: Das Team konnte auch zeigen, dass eine Hemmung der Ligase Krebs­zellen massiv schadet, wie der Arbeitsgruppenleiter beschreibt: „Wenn wir HUWEI in Krebs­zellen ausschalten, bricht die DNA förmlich auseinander und die Zellen sterben.“ Damit hat sich – mitten aus der Grundlagenforschung heraus – eine wunderbare therapeutische Anwendung ergeben, die der Biochemie-Professor nicht ungenutzt lassen wollte. Er gründete die Firma Tucana Biosciences, bei der unter anderem die große Hamburger Pharmafirma Evotec an Bord ist. Ihr derzeit wichtigstes Unterfangen: einen zum therapeutischen Einsatz geeigneten Hemmstoff für die HUWEI-Ligase finden. (Siehe auch S. 40)

Auf die Frage, ob die Multimere nicht auch in gesunden Zellen eine Rolle spielen und somit die therapeutische Hemmung von HUWEI ein Problem sein könnte, antwortet Eilers, dass sicher auch gesunde Zellen bei Stress MYC-Multimere bilden. Aber: „Tumorzellen sind einfach aufgrund ihres schnellen Wachstums viel stärker gestresst, beispielsweise weil sie im Sauerstoff-armen Milieu überleben müssen.“ Außerdem sei in vielen Tumoren die Nukleosid-Zufuhr gestört, sodass die Replikation immer wieder stockt.

Seine Professur aufzugeben, um ganz in die Welt der Unternehmer einzutauchen, kommt für den Tucana-Gründer jedoch nicht in Frage. Stattdessen gibt es einen Kooperationsvertrag mit der Uni, sodass das Unternehmen Mitarbeiter der Arbeitsgruppe bezahlen kann. Von den drei Erstautoren der Nature-Veröffentlichung – Daniel Solvie, Leonie Uhl und Apoorva Baluapuri – ist Letzterer inzwischen nach Harvard gewechselt. Die beiden anderen arbeiten derzeit weiterhin an den MYC-Hohlkugeln – und versuchen unter anderem aufzuklären, wie diese die angehaltenen Replikationsgabeln erkennen.