Aus dem „Jurassic Park“ der Enzyme

Tobias Ludwig


Editorial

(09.03.2023) LEIPZIG: Ein interdisziplinäres Forscherteam schafft, was wie Science-Fiction klingt: Mithilfe aufwändiger Computer-Rekonstruktionen erweckt es ein zwei Milliarden Jahre altes Enzym zum Leben.

Heutige Enzyme haben eine Milliarden Jahre lange Evolutionsgeschichte hinter sich, in der sich ihre Funktionen oft anpassten und verfeinerten. Um ihre Entwicklung nachzuvollziehen, konnten Forscher bislang nur einen theoretischen Blick in die Verrgangenheit werfen. Dass aus einer solchen Rekonstruktion ein funktionstüchtiger Vorläuferkandidat hervorgehen kann, beweisen die Forschungstreibenden um Mario Mörl und Sonja Prohaska in ihrer kürzlich veröffentlichten Studie (Mol. Biol. Evol. doi.org/grdk2h).

„Ich beschäftige mich schon lange mit Enzymen, die Nukleotide auf RNA übertragen, ohne dabei eine Matrize zu verwenden“, erzählt Mario Mörl. Seit 2004 bekleidet der Biologe den Lehrstuhl für Biochemie und Molekularbiologie an der Universität Leipzig. Bereits als Postdoktorand bei Nobelpreisträger Svante Pääbo begann er sich für transfer-RNAs (tRNA) zu interessieren. Für deren Prozessierung spielen bestimmte ubiquitäre und hochspezialisierte RNA-Polymerasen eine essenzielle Rolle, erklärt Mörl. „Diese Nukleotidyltransferasen hängen den obligatorischen CCA-Terminus an die 3‘-Enden von tRNAs, an die später die Aminosäuren geknüpft werden“, erläutert er. Dabei wunderte sich Mörl über eine interessante Eigenschaft der CCA-addierenden Enzyme von Bakterien und Eukaryonten: „Sie zeigen nur eine niedrige Affinität zu ihren tRNA-Substraten. Tatsächlich ist sie so schlecht, dass wir keine Bindungskonstanten ermitteln konnten“, erinnert sich Mörl. Dennoch ist die Reaktion sehr effizient. Im Gegensatz zu Bakterien und Eukaryoten zeigen die CCA-addierenden Enzyme aus Archaeen eine hohe Substrataffinität bei vergleichbarer Effizienz. „Das war für uns und unsere Kolleginnen und Kollegen sehr rätselhaft“.

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An der falschen Stelle

Um dem Rätsel auf die Spur zu kommen, wandte sich Mörl an Sonja Prohaska. Am Interdisziplinären Zentrum für Bioinformatik (IZBI) in Leipzig leitet sie die Gruppe „Evolution und Entwicklung“. Die Bioinformatiker stellten fest, dass der phylogenetische Baum der Enzyme nicht mit der Evolution der Arten übereinstimmt. Ein Kladogramm ribosomaler RNA beispielsweise teilt sich ausgehend von einem gemeinsamen Vorläufer zunächst in die Reiche der Bakterien und Archaeen auf. Die Eukaryonten spalten sich später von den Archaeen ab. „In einem phylogenetischen Baum der tRNA-Nukleotidyltransferasen befinden sich die Tiere und ihre einzelligen Verwandten jedoch bei den Bakterien. Ihre CCA-addierenden Enzyme stammen also aus Prokaryoten und das ist sehr ungewöhnlich“, sagt Prohaska.

Sekundär- und Tertiärstrukturen einer tRNA
Sekundär- und Tertiärstrukturen einer tRNA. Ihr 3‘-CCA-Terminus (gelb) ist für ihre Funktion essentiell: An die 3’-OH-Gruppe derAdenosin-Ribose wird die COOH-Gruppe eines Aminosäurerests verestert. Illustr: Yikrazuul

Als Urheber dieser ungewöhnlichen Entwicklung identifizierten die Leipziger Proteobakterien. Diese müssen das tRNA-Nukleotidyltransferase-Gen in grauer Vorzeit per horizontalem Gentransfer in einen Vorläufer der Metazoa geschmuggelt haben. Laut Prohaska ist das ein äußerst seltener Vorgang. „Das hat uns gezeigt, dass diese Enzyme eine sehr interessante Entwicklung hinter sich haben“, ergänzt Mörl. Um die denkwürdige Evolution der CCA-addierenden Enzyme nachzuvollziehen, entschlossen sich die beiden Leipziger Gruppen, „Jurassic Park“ zu spielen, wie Mörl grinsend einwirft. Ihr Ziel: Anzestrale Vorläuferkandidaten für tRNA-Nukleotidyltransferasen zu rekonstruieren.

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Zunächst war wieder Prohaskas Team am Zug. Um mögliche Vorläuferkandidaten am Computer zu errechnen, verglichen die Bioinformatiker 102 tRNA-Nukleotidyltransferasen aus 13 unterschiedlichen Ordnungen von γ-Proteobakterien. „Wir haben uns bei unserer Analyse für diese Bakterienklasse entschieden, weil wir das CCA-addierende Enzym aus E. coli als dem wahrscheinlich bekanntesten Vertreter der γ-Proteobakterien in der Vergangenheit bereits intensiv erforscht hatten“, begründet Mörl die Entscheidung. Aus den aneinander ausgerichteten Sequenzen errechnete die Gruppe um Prohaska dann einen phylogenetischen Baum.

Zurück in die Vergangenheit
„Die Äste dieses Baumes lassen sich zu ihrem Ursprung zurückverfolgen und dadurch Änderungen, die zwischen einzelnen Verzweigungen passiert sind, rekonstruieren“, erläutert die Bioinformatikerin. Für jede Position des theoretischen Vorläuferenzyms konnten die Leipziger so den wahrscheinlichsten Aminosäurerest errechnen. Dank der guten Verfügbarkeit an qualitativ hochwertigen Sequenzdaten seien solche Analysen mittlerweile verlässlich, ergänzt Prohaska. Anhand der zurückverfolgten Äste datierten die Forschungstreibenden ihre rekonstruierten Aminosäurefolgen schließlich auf eine Zeit vor zwei Milliarden Jahren zurück. Aus ihren Kandidatensequenzen wählten die beiden Gruppen vier Rekonstruktionen aus, die sich nur wenig in der Anzahl ihrer Insertionen und Deletionen unterschieden, und klonierten sie in E. coli. „Alle vier Kandidaten konnten wir in E. coli in einem aktiven Zustand exprimieren“, sagt Mörl. „Für unsere weiteren Versuche entschieden wir uns daher für den Kandidaten, der sich am besten rekombinant herstellen ließ“, schildert er. Und tatsächlich zeigte das anzestrale CCA-addierende Enzym (AncCCA1) eine ähnliche vorhergesagte 3D-Struktur wie EcoCCA aus E. coli. Auch die Sequenzen des gegenwärtigen E. coli-Enzyms und seines rekonstruierten Vorläufers unterscheiden sich nur marginal. Ein beachtliches Ergebnis, findet Prohaska: „Wir haben uns so gefreut, denn solche Rekonstruktionen sind immer ein Sprung ins Ungewisse. Es war für uns keineswegs klar, dass wir mit unserer Rekonstruktionsmethode tatsächlich eine funktionale Sequenz erhalten“.
Genau, aber ineffizient

Ihren Kandidaten analysierten die Nassbiologen um Mörl weiter und testeten zunächst in vitro, wie genau es der Vorläufer mit dem Anhängen von CCA-Nukleotiden nimmt. „Es stellte sich heraus, dass der Vorläufer genauso exakt arbeitet wie moderne Enzyme. Er macht keine Fehler“, fasst Mörl die Ergebnisse zusammen. Daraufhin machten die Biologen AncCCA1 für E. coli überlebenswichtig: Sie exprimierten das eigentlich nicht-essenzielle Enzym in einem E. coli-Stamm, der sein eigenes CCA-addierendes Enzym nicht mehr herstellen kann. „Zusätzlich exprimierten wir eine RNase, die unvollständige und somit defekte CCA-Enden an tRNAs erzeugt. Das sorgte für Stress in den Zellen“. Dabei zeigte sich, dass E. colis in Gegenwart des anzestralen Kandidaten weniger gut mit dem RNase-Stress umgehen können als bei Anwesenheit seiner modernen Variante.

Phylogenetischer Baum von Enzym-Familien
Anhand phylogenetischer Bäume lassen sich funktionale Vorgängersequenzen mancher Proteine rekonstruieren. Illustr: Zapnito
Ein Schritt vor, zwei zurück

Doch warum? „Wir nahmen Zeit- und Konzentrationsreihen auf und stellten fest, dass das rekonstruierte Enzym sehr viel langsamer arbeitet“, erinnert sich Mörl. Also schauten sich die Forscher auch die Substratbindung von AncCCA1 an. Dafür inkubierten sie das rekonstruierte und das moderne Enzym mit radioaktiv markierter tRNA. Für EcoCCA konnten sie wie erwartet keine Interaktion mit tRNAs nachweisen, da die Affinität des Enzyms zu seinem Substrat bekanntermaßen niedrig ist. Der anzestrale Kandidat hingegen band die tRNA ausgezeichnet. „Das hatten wir nicht erwartet“, schildert Mörl. „Interessanterweise unterscheidet AncCCA1 auch nicht zwischen seinem Substrat, also der tRNA ohne CCA-Ende, und seinem Produkt, also der tRNA mit CCA-Ende. Es bindet beide mit gleicher Effizienz.“

Als Mörl dann mit einer Corona-Infektion das Bett hüten musste, kam ihm die entscheidende Idee: „Wenn das Enzym nicht unterscheiden kann, ob die tRNA bereits über ein CCA-Ende verfügt oder nicht, katalysiert es die Rückreaktion vielleicht genauso gut wie die Hinreaktion“. Genau das beobachteten die Leipziger dann auch im Labor und fanden den Grund für die niedrige Arbeitsgeschwindigkeit des rekonstruierten, CCA-addierenden Enzyms: Es hält die tRNA so stark fest, dass es den bereits angehängten CCA-Schwanz auch direkt wieder abknabbern kann, erklärt Mörl. „Das anzestrale Enzym arbeitet vermutlich prozessiv. Es bindet die tRNA und baut alle Nukleotide in einem Rutsch ein. Sein modernes Pendant hingehen agiert eher distributiv. Es baut ein Nukleotid ein und lässt die tRNA los, bindet sie wieder und baut das nächste ein, und so weiter.“ Erst dieser distributive Mechanismus der Substratumsetzung sichert die hohe Effizienz moderner Enzyme und scheint die evolutive Entwicklung CCA-addierender Enzyme begünstigt zu haben. Gleichzeitig sorgt er aber auch dafür, dass sich deren Bindungskonstanten für tRNA-Substrate nicht messen lassen.

Arbeitsgruppe von Mario Mörl am Institut für Biochemie der Universität Leipzig
Die Arbeitsgruppe von Mario Mörl (ganz rechts) am Institut für Biochemie der Universität Leipzig. Foto: Valerie Thalhoferon

Als Nächstes wollen die beiden Leipziger Gruppen zusammen klären, wann der Übergang zwischen den beiden Arbeitsweisen vonstattengegangen sein könnte. Außerdem hoffen sie, die genauen Aminosäuren bestimmen zu können, die für beide Arbeitsmodi verantwortlich sind. Und sie wollen die Bindung von tRNAs an das anzestrale Enzym genauer charakterisieren, um Rückschlüsse auf die Arbeitsweise moderner Enzyme ziehen zu können. Schließlich lassen sich wegen deren niedrigen Bindungsaffinitäten keine Kristallstrukturen mit gebundenen tRNAs lösen. „Wenn wir das alles bestimmen können, verstehen wir endlich, wie moderne tRNA-Nukleotidyltransferasen eigentlich funktionieren“, blickt Mörl in die Zukunft.