Exoten am Meeresboden

Larissa Tetsch


Editorial

(18.04.2023) GREIFSWALD/WIEN: Marine Asselspinnen lassen nicht nur verlorene Gliedmaßen nachwachsen. Ihre Fähigkeit, sogar den Hinterleib zu regenerieren, verspricht tiefgreifende Einblicke in einen auch für die regenerative Medizin interessanten Prozess.

Es ist ein Menschheitstraum und beliebtes Motiv in Science-Fiction-Filmen: Wäre es nicht praktisch, wenn wir beschädigte oder verlorene Körperteile wie Arme oder Beine nachwachsen lassen könnten? Für viele Tiere ist das Realität: angefangen bei Schwämmen und Nesseltieren, die ihren vollständigen Körper aus kleinen Gewebestücken regenerieren, über Plattwürmer mit nachwachsendem Kopf bis hin zur Eidechse, die ihren Schwanz abwirft und anschließend nachbildet.

Die faszinierende Regenerationsfähigkeit von Tieren hat es auch Georg Brenneis vom Department für Evolutionsbiologie der Universität Wien angetan. „Im Tierreich ist sie weit verbreitet“, erzählt er. „Ein klares Muster gibt es aber nicht.“ Auffällig ist laut Brenneis, dass Vertebraten – von Ausnahmen wie Fischen, Salamandern und dem „Regenerationswunder“ und Modellsystem Axolotl abgesehen – eher schlecht darin sind, Gliedmaßen oder Organe nachzubilden. Das Warum ist umstritten. Möglicherweise sei die Entstehung des adaptiven Immunsystems einer der Faktoren, so der Evolutionsbiologe: „Aus Kosten-Nutzen-Gründen könnte es in der Evolution aller Lebewesen zu Trade-offs zwischen den energetischen Kosten aller vorteilhaften Fähigkeiten gekommen sein. Wahrscheinlich hat die Fähigkeit zu komplexer struktureller Regeneration den meisten Wirbeltiere keinen ausreichend großen Nutzen gebracht.“

Asselspinnen auf dem Meeresboden

Editorial
Mix aus Altem und Neuem

Brenneis selbst befasst sich mit Asselspinnen (Pycnogonida), die er schon als Student in Berlin kennenlernte. Sie gehören neben Pfeilschwanzkrebsen (Xiphosura) und Spinnentieren (Arachnida) zu den Kieferklauenträgern (Chelicerata). Vor allem zwei Dinge sind für ihn interessant: „Zum einen entspringen Asselspinnen im Stammbaum der Kieferklauenträger an der untersten Aufzweigung; sind also die Schwestergruppe aller übrigen Ordnungen an Spinnentieren und Pfeilschwanzkrebsen. Zum anderen leben sie rein marin und zeigen einen ursprünglichen Entwicklungsmodus mit winzigen Larvenstadien. Damit können sie uns helfen, die Evolution der Spinnentiere zu verstehen.“

Evolutionsbiologe und Studienleiter Georg Brenneis
Georg Brenneis forscht seit Sommer 2022 als Postdoktorand an der Universität Wien. Sein bevorzugter Sammelort für P. litorale liegt jedoch in der Nordsee – im Felswatt von Helgoland. Foto: G.Brenneis

Optisch sehen Asselspinnen aus wie eine Mischung aus Spinne und Krebs: An einem vergleichsweise kleinen Körper sitzen meist acht lange Beine. Der Körper besteht aus einem Vorderteil, einem durch Querfurchen segmentierten dünnen Mittelteil mit den Laufbeinpaaren und einem reduzierten Hinterteil mit Enddarm und After. Teile des Darmtrakts und die Gonaden sind in die Beine ausgelagert. „Das gibt es nur bei den Asselspinnen“, sagt der Zoologe. Die mehr als 1.300 Pycnogonida-Arten besiedeln die Böden aller Ozeane – von den Polen bis in die Tropen und dem Flachwasserbereich bis in die Tiefsee – und bewegen sich dort langsam krabbelnd fort. „Sie ernähren sich von Tieren, die noch langsamer sind als sie selbst“, sagt Brenneis mit einem Schmunzeln. Bevorzugte Beute sind sessile Tiere wie Polypen, Moostierchen und Schwämme, aber auch Meeresnacktschnecken und Quallen. Oft dient ihnen ein Rüssel am Vorderende dazu, ihre Beute auszusaugen. Auch sind Detritivoren unter ihnen, die folglich zerfallende Reste abgestorbener Pflanzen und Tiere fressen.

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Warum ist ihre Regenerationsfähigkeit für die Forschung so interessant? Brenneis muss ausholen: „Es gibt bei vielen Tieren prinzipiell zwei Körperachsen: eine primäre Körperachse, die eine Einteilung in vorne und hinten ergibt, sowie eine sekundäre Körperachse, deren Körperanhänge wie Arme und Beine beginnend vom Körper in die Peripherie verlaufen.“ Bekannt war, dass Asselspinnen ebenso wie andere Gliederfüßer Beine nachwachsen lassen und wie manche Krabben sogar gezielt abwerfen, um Fressfeinden zu entkommen. Verlässliche Hinweise darauf, dass Gliederfüßer allerdings ihre primäre Körperachse regenerieren können, gab es keine. „Auch Asselspinnen können das nicht, besagte deshalb die Lehrmeinung, und keiner schaute mehr genau hin“, so der Evolutionsbiologe. „Hinzu kommt: Gliederfüßer sind Häutungstiere, die oft wurmartig aufgebaut sind und somit keine ausgeprägten Strukturen der sekundären Körperachse besitzen. Einige Autoren vermuten deshalb, dass die Regenerationsfähigkeit der Gliederfüßer zusammen mit der Evolution ihrer Beine neu entstand.“

Fürsorgliche Väter

Brenneis schaute genauer hin (PNAS. doi.org/grphfw). Nach seiner Promotion an der Berliner Humboldt-Universität und einigen Jahren als Postdoktorand in Boston kehrte er als Principal Investigator mit eigenem Forschungsprojekt nach Greifswald zurück, wo er als Student bereits zwei Semester verbracht hatte. Mit dabei war sein „Haustier“: die Asselspinne Pycnogonum litorale. „Sie ist für uns ein optimales Modellsystem, weil wir ihre Haltungsbedingungen kennen und wissen, was alle Entwicklungsstadien fressen“, freut sich der Zoologe. Natürlicherweise lebt P. litorale im Nordatlantik. Doch auch in der Nordsee ist das Tier zu finden – vorausgesetzt, man schaut genau hin, denn einschließlich seiner Beine ist es nur bis zu zwei Zentimeter lang.

Die Projektidee der kleinen Greifswalder Arbeitsgruppe war einfach: Den Tieren verschieden große Teile ihres Hinterkörpers amputieren und beobachten, welche Strukturen sie nachbilden. Zuerst mussten sie dafür jedoch die geeignetsten Entwicklungsstadien auswählen: Asselspinnen-Weibchen legen Eier, die Asselspinnen-Männchen außerhalb des Körpers befruchten und dann als Eiballen am Bauch tragen. Aus jedem Ei schlüpft eine 150 Mikrometer große Protonymphe, die aussieht wie ein Kopf mit Rüssel. Mit jeder Häutung kommt ein Stück Körper hinzu, bis das Larvenstadium VII letztlich wie eine Miniversion adulter Asselspinnen mit allen Körpersegmenten und den vier Laufbeinpaaren aussieht. Diese Juvenilstadien häuten sich mehrmals, bis sie ausgewachsen sind. „Zuerst wollten wir herausfinden, ob vollständig ausdifferenziertes Gewebe regeneriert werden kann“, erinnert sich der Forscher. „Deshalb schauten wir nach, in welchem Larvenstadium der Hinterkörper bereits Enddarm, Anus und zugehörige Muskulatur funktionsfähig ausgebildet hat.“ Das entsprechende Larvenstadium V nahmen die Evolutionsbiologen als jüngstes Entwicklungsstadium in ihre Studie auf. Die Larve besitzt zwei volle Laufbeinpaare plus Knospen, aus denen sich das dritte Beinpaar mit der nächsten Häutung entwickelt.

Schema der Amputation und Regeneration des Asselspinnen-Hinterleibs
Fluoreszenzaufnahmen eines Juvenilstadiums von P. litorale nach Amputation. llustr. G.Brenneis

Hauptsache Geschlechtsorgane

Insgesamt operierte Brenneis‘ Team 23 Tiere, darunter die zwei letzten Larvenstadien, mehrere Juvenilstadien sowie ausgewachsene Tiere. Letztere regenerierten nie, überlebten zum Teil aber über Monate. Interessanterweise nahmen selbst ausgewachsene Asselspinnen mit großen Verletzungen Nahrung auf, auch wenn sie keinen Anus mehr besaßen, und würgten ihren Kot vermutlich aus der Mundöffnung hervor, wie es auch für frühe Larvenstadien ohne Anus bekannt ist.

Anders die Larven- und Juvenilstadien: Sie bildeten verlorene Strukturen nach – wie gut, hing vom Ausmaß ihrer Verletzung ab, erklärt Brenneis: „Wir erhielten entweder vollständige achtbeinige Tiere oder aber sechsbeinige Tiere, denen ein Körpersegment fehlte. Unabhängig davon regenerierten die Asselspinnen aber fast immer ihren hinteren Körperpol mit Enddarm, Anus und Muskulatur.“ Was die Regeneration der Körpersegmente initiiert, darüber kann Brenneis derzeit nur spekulieren. „Scheinbar gibt es einen Zusammenhang zur Amputation der innervierenden Ganglien“, sagt der Evolutionsbiologe nicht gänzlich überrascht. „Beim Axolotl lässt sich die Regeneration verstärken, indem man die Innervierung anregt“.

Hohe Priorität besteht für verletzte Asselspinnen indes darin, ihre Fortpflanzungsfähigkeit wiederherzustellen: Tiere, die nur das dritte Beinpaar nachbildeten, besaßen darinnen Samen- beziehungsweise Eileiter sowie die dazugehörigen Geschlechtsöffnungen. Eigentlich liegen diese im vierten Beinpaar. Brenneis erklärt: „Regenerierte Körperteile haben oft andere Eigenschaften als ihre Vorgänger. Neugebildete Beine tendieren dazu, Geschlechtsöffnungen auszubilden – sozusagen als Sicherheitsmaßnahme.“ Auch in der Natur sind sechsbeinige Asselspinnen gelegentlich anzutreffen. Die Greifswalder Studie bietet dafür nun eine Erklärung: Vermutlich verletzten Räuber die Asselspinnen in frühen Entwicklungsstadien, die daraufhin einen Teil ihres Körpers nachbilden. Ihre außerordentliche Regenerationsfähigkeit könnte somit zum evolutiven Erfolg der Tiergruppe beigetragen haben.

Seit August 2022 forscht Brenneis an der Universität Wien. P. litorale ist natürlich wieder mit von der Partie. Die spannendste Arbeit liegt vor ihm, ist der Biologe überzeugt: „Unsere Studie hat die Grundlage geschaffen, um die zellulären und molekularen Mechanismen der Regeneration aufzuklären. Mit Genexpressionsanalysen und Fluoreszenzmarkern möchten wir das Schicksal einzelner Zellen verfolgen.“ Brenneis‘ Ziel ist es, die Zelltypen aufzuspüren, die für die Regeneration verantwortlich sind. Das müssen nicht unbedingt totipotente Stammzellen sein. Bei Krebsen sind für die Beinregeneration beispielsweise spezielle Muskelvorläuferzellen verantwortlich. „Bei Asselspinnen könnten auch in der Hämolymphe flottierende Zellen, die am Wundverschluss beteiligt sind, die Regeneration anstoßen“, spekuliert Brenneis und freut sich auf die Experimente seiner To-do-Liste.