Licht, Kamera, Action!

Tobias Ludwig


Editorial

(18.04.2023) VILLIGEN, SCHWEIZ: Forschende des Paul Scherrer Instituts bauen einen Lichtschalter in ein potenzielles Krebsmedikament ein und nehmen dessen Strukturdynamik in einem 740 Meter langen Teilchenbeschleuniger auf.

Es klingt wie eine ferne Utopie: Ein Krebsmedikament wandert durch den Körper. Der Wirkstoff ist hochpotent, kann aber nicht zwischen gesunden und entarteten Zellen unterscheiden. Normalerweise wäre das eine brenzlige Situation, denn gesundes Gewebe sollte schließlich nicht zu Schaden kommen. Doch was hier in der Blutbahn zirkuliert, ist kein gewöhnlicher Wirkstoff: Das Medikament liegt in einer inaktiven Form vor. Um es in den Tumorkiller zu verwandeln, bedarf es nicht viel – ein Lichtstrahl genügt.

Dieses Konzept ist unter dem Namen Photopharmakologie bekannt und steckt noch in den Kinderschuhen. Die Biochemiker um Jörg Standfuss vom Paul Scherrer Institut im schweizerischen Villingen möchten es in eine praktikable Methode verwandeln. Unter ihnen ist auch Maximilian Wranik, dessen Promotion bei Standfuss ihn zum Erstautor der neuesten Publikation der Arbeitsgruppe machte (Nat. Commun. doi.org/grs72x).

Pharmakologische Fragestellungen haben es Wranik schon länger angetan, sagt er. Besonders interessiert er sich für die Dynamik von Wirkstoffen und deren Zielstrukturen: „Durch mein Studium der Pharmazie habe ich einen nahen Bezug zu Drug-Target-Interaktionen und beschäftige mich besonders gern mit strukturbiologischen Fragestellungen, um detaillierte Einblicke zu gewinnen“, erzählt er. Auf der Suche nach einem Promotionsthema stieß er auf das Paul Scherrer Institut (PSI) und sein Interesse war doppelt geweckt: „Licht ist ein sehr guter Trigger, um genau die Reaktionen auszulösen, die ich verfolgen möchte. Es ermöglicht eine herausragende zeitliche Auflösung“, erläutert der Pharmazeut. Für Wranik und seinen Gruppenleiter Jörg Standfuss macht das die Photopharmakologie zur Methode der Wahl.

Biochemiker Jörg Standfuss und Maximilian Wranik an der Experimentierstation des Teichenbeschleunigers SwissFEL
Jörg Standfuss (links) und Maximilian Wranik (rechts) an der Experimentierstation des Schweizer Freie-Elektronen-Röntgenlasers SwissFEL. Foto: Markus Fischer/Paul Scherrer Institut

Editorial

Bisher hatte sich Standfuss‘ Arbeitsgruppe vor allem mit Molekülen wie Rhodopsin beschäftigt, die von sich aus photoaktiv sind. In ihrer neuesten Studie gingen die Schweizer jetzt einen Schritt weiter: Sie führten eine Photoaktivität künstlich in einen pharmakologischen Wirkstoff ein. Den Ausgangspunkt ihrer Experimente bildete Combretastatin A4, ein Naturstoff aus der Gruppe der Stilbene sowie vaskuläres Disruptivum, das die Angiogenese von Tumorgefäßen hemmt. Eine seiner Zielstrukturen ist Tubulin, also der Grundbaustein aller Mikrotubuli. Genauso wie das Zellteilungsgift Colchicin bindet es in einer Tasche zwischen der α- und β-Untereinheit von Tubulin und verhindert dadurch, dass sich die Tubulin-Moleküle zu funktionierenden Mikrotubuli vereinen. Derivate des Combretastatins werden derzeit in klinischen Studien gegen diverse Tumoren getestet. Wie der Wirkstoff jedoch mit seinem Zielmolekül interagiert, blieb bisher unbekannt. Wranik erklärt: „Die intermediären Zustände zwischen Bindung von Combretastatin und Tubulin und Lösen der Bindung sind zu kurzlebig, als dass es bisher möglich war, ihre Struktur aufzuzeichnen.“ Statische Standardverfahren wie die Röntgenkristallographie versagten.

„Erst die Entwicklung der Röntgen-Freie-Elektronen-Laser (XFEL) in der letzten Dekade machte derartige Experimente realisierbar“, sagt er. Nach Angaben der Internationalen Atomenergie-Behörde (IAEA) existieren weltweit derzeit nur 14 dieser Großanlagen. Dabei ist das Wort „groß“ pure Untertreibung: Der Tunnel, in dem der Teilchenbeschleuniger des Schweizer Lasers SwissFEL untergebracht ist, erreicht eine Länge von 740 Metern. Der XFEL am Deutschen Elektronen-Synchrotron (DESY) in Hamburg erstreckt sich sogar über 3,4 Kilometer.

Undulator-Prinzip des Freie-Elektronen-Lasers
Der Undulator eines Freie-Elektronen-Lasers zwingt hindurchfliegende Elektronen mit seinen Permanentmagneten auf einen Slalom-Kurs, auf dem die Elementarteilchen bei jeder Kurve Röntgenstrahlung freisetzen.

Editorial
Slalom für Elektronen

Das theoretische Konzept des FEL hat schon über 50 Jahre auf dem Buckel. Es wurde 1971 von dem US-amerikanischen Physiker John Madey entwickelt (J. Appl. Phys. doi.org/fqbjcp) und 1976 in ein funktionierendes Testsystem übertragen (Phys.Rev.Lett. doi.org/bv5pzt). Bis zur Fertigstellung des ersten Röntgen-FEL sollten allerdings noch 35 Jahre vergehen. Die Röntgenlaserquelle der Linac-Coherent-Light-Source (LCLS) am Stanford-Linear-Accelerator-Center (SLAC) in Kalifornien nahm erst 2011 ihren Betrieb auf. Die Funktion dieser Laser basiert darauf, dass Elektronen, die um eine Kurve fliegen, Licht emittieren. Dafür werden die Elektronen eines Freie-Elektronen-Lasers zunächst in einem Teilchenbeschleuniger auf annähernde Lichtgeschwindigkeit gebracht und schießen dann durch einen sogenannten Undulator. Dessen Dipolmagneten, die in abwechselnder Nord-Süd-Ausrichtung hintereinanderstehen, zwingen die Elektronen auf eine Slalom-ähnliche, meist sinusförmige Flugbahn, wodurch die Teilchen Lichtstrahlung aussenden. Dieses Grundprinzip haben FEL mit Synchrotron-Lichtquellen gemein. In einem FEL werden die umherschlängelnden Elektronen jedoch zusätzlich durch die Wechselwirkung mit Strahlung derselben Wellenlänge zu kleinen Grüppchen zusammengeschoben. Die von den Elektronengruppen emittierte Strahlung überlagert sich dabei perfekt und wird verstärkt.

USchema der dynamischen Strukturveränderungen des potenziellen Krebsmedikaments Combretastatin
Die βT7-Schleife (grün) von Tubulin dient der Colchicin-Bindungstasche zwischen α- und β-Untereinheiten als Deckel: Isomerisiert Combretastatin von seiner cis-Form (gelb) in die trans-Form (orange), öffnet sich die 446 Kubik-Ångström große Bindungstasche binnen hundert Nanosekunden um fast 80 Kubik-Ångström. In Abwesenheit des Liganden faltet sich die βT7-Schleife dagegen zurück und arretiert in der leeren Bindungstasche. Sie fasst dann nur noch ein Volumen von 71 Kubik-Ångström. Illustr.: Nach Abbildung 3 von Nat. Commun. doi.org/grs72x Größere Abbildung: Link

Ein Molekül mit Lichtschalter

Mithilfe derart massiver Laser konnten bereits Detailaufnahmen der Wechselwirkungen von Liganden und ihren Zielstrukturen aufgezeichnet werden – allerdings nur von Molekülen mit natürlicher Photoaktivierbarkeit. Combretastatin A4 zählt nicht zu ihnen, weshalb das Team um Standfuss die Photoreaktivität des Wirkstoffs verbesserte. „Wir tauschten seine zentrale Kohlenstoff-Doppelbindung gegen eine Stickstoffbindung aus“, fasst Wranik ihr Vorgehen zusammen. Durch die kleine Änderung schufen die Forschungstreibenden einen Photoswitch: „Unser verändertes Combretastatin lässt sich durch grünes Licht von einer aktiven und Tubulin-bindenden cis-Konformation reversibel in eine schlecht bindende trans-Form überführen. Bestrahlen wir das Molekül dann mit blauem Licht, stellen wir die cis-Konformation wieder her.“

Endlich konnten sich die Schweizer die Bindungsdynamik des Tubulin-Inhibitors im Detail anschauen. Dazu ließen sie ihr lichtreaktives Combretastatin an Tubulin binden und kristallisierten den Wirkstoff-Target-Komplex. Durch Bestrahlung der Kristalle mit blauem Licht einer Wellenlänge von 385 Nanometern lagen alle Wirkstoffmoleküle in der hochaffinen cis-Form vor. Eingebettet in eine Hydroxyethylcellulose-Matrix führten sie die Kristalle nun dem Freie-Elektronen-Laser zu und inaktivierten das Wirkstoffmolekül in unterschiedlichen Zeitintervallen mit kurzen Lichtpulsen im grünen Bereich zwischen 450 und 530 Nanometern. Dieses als serielle Kristallographie bezeichnete Verfahren erlaubte es den Forschenden, die Strukturänderungen von Ligand und Protein nachzuverfolgen. Trivial waren diese Experimente nicht, denn die strukturellen Anpassungen finden im Nanosekunden-Bereich statt. „Der Schweizer Freie-Elektronen-Laser SwissFEL erzeugt eine qualitativ höherwertige Röntgenstrahlung als Synchrotron-Röntgenquellen und ermöglichte uns eine zeitliche Auflösung im Femtosekunden-Bereich“, schwärmt Wranik. Die Methode erlaubte den Schweizern zudem eine räumliche Auflösung von 1,7 Ångström. Zusammen mit Computersimulationen gelang es dem Team um Standfuss, einen an ein Daumenkino erinnernden Film der Strukturdynamik von Combretastatin zu erstellen.

Allerdings zeichneten die Schweizer alle Strukturänderungen innerhalb eines Kristallgitters auf. Verhalten sich die Interaktionspartner in Lösung tatsächlich ähnlich? Für eine Antwort verglichen die Forschenden ihre Ergebnisse mit Spektroskopie-Daten, die in einem Puffersystem aufgenommen worden waren. Signifikante Unterschiede fanden sie nicht.

Adé Schlüssel-Schloss-Prinzip
Die Gruppe beobachtete erstmalig, dass sich nicht nur die Konformation ihres Wirkstoffs änderte, sondern sich auch die Bindungstasche des Tubulin anpasste. „Weil sich die cis-Bindung in unserem modifizierten Combretastatin entspannt, streckt sich das Molekül um mehr als zwei Ångström. Dadurch verändern sich seine Interaktionen mit Tubulin. Der Wirkstoff bindet nur noch mit niedriger Affinität, verlässt die Bindetasche aber nicht“, skizziert Wranik. Dieses unter der Bezeichnung Induced-Fit bekannte Modell erweitert die überholte Vorstellung starrer Schlüssel-Schloss-Beziehungen zwischen Enzymen und ihren Substraten. Da sich Combretastatin strukturell entspannt, bläht sich auch die Bindetasche des Tubulins von einem Volumen von 446 Kubik-Ångström auf ein Volumen von 525 Kubik-Ångström auf. Verlässt Combretastatin dann das Tubulin, schrumpft die Tasche schrittweise auf 71 Ångström. Eine entscheidende Rolle spielt bei all dem die βT7-Schleife des Tubulins, sagt Wranik: „Wir konnten die Hypothese bestätigen, dass diese Schleife als molekulare Schranke fungiert und abhängig von ihrer Konformation mit der Ligandenbindung konkurriert. Nur hochaffine Liganden mit einer bestimmten Struktur triggern ein Umklappen der Schleife und öffnen damit die Bindetasche.“
Licht am Horizont

Für das rationale Wirkstoffdesign hat das natürlich Konsequenzen. Nicht länger sollte das Hauptaugenmerk ausschließlich auf einer starken Bindung von Zielstrukturen liegen. Denn einige Targets erfordern Liganden, die konformationell flexibel sind. Erst sie erreichen die Bindestelle.

Abgesehen von der Grundlagenforschung eröffnet die Studie der Schweizer natürlich auch der Klinik völlig neue Möglichkeiten. „Das junge Feld der Photopharmakologie könnte dafür sorgen, dass Wirkstoffe erst an ihrem Zielort durch ein simples Bestrahlen mit Licht aktiviert werden“, blickt Wranik in die Zukunft. Neben Krebsmedikamenten wäre das auch für viele andere Therapeutika wie etwa Antibiotika denkbar.