Frische Winzlinge

Tobias Ludwig


Editorial

(15.05.2023) BERLIN: Die Forschungsgruppe um Norbert Hübner am Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin (MDC) suchte nach zuvor übersehenen Mikroproteinen und stellte fest: Sie sind quasi aus dem Nichts entstanden.

Auch die Biologie hat ihre dunkle Materie. Noch vor wenigen Dekaden hielten Forschende die DNA, die nicht für Gene codiert, für Müll. Der in den 1960er-Jahren dafür etablierte Begriff der „Junk-DNA“ unterstellte, dass 95 Prozent des menschlichen Genoms lediglich Füllmaterial seien. Mittlerweile ist diese Ansicht überholt. Auch die nicht-codierenden Abschnitte innerhalb von Genen wie etwa die nicht-translatierten Regionen (UTR) üben mitunter wichtige Steuerungsfunktionen aus oder sind mit bestimmten Merkmals­ausprägungen assoziiert. Doch die vermeintlich funktionslose DNA beherbergt noch weitere, bisher größtenteils übersehene Strukturen: die Mikroproteine (siehe auch S. 48-51). Die Gruppe um Norbert Hübner am Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in Berlin-Buch identifizierte bereits einige Tausend dieser Kleinst-Proteine in menschlichen Organen. Jetzt zeigten sie dass viele von ihnen evolutionär noch in den Kinderschuhen stecken.
Beim Ribosom nachgeschaut

„Als ich anfing, mich mit Mikroproteinen zu beschäftigen, war das etwas komplett Neues“, erinnert sich Jorge Ruiz-Orera. Der Evolutionsbiologe ist einer der Erstautoren der neuesten Publikation der Berliner (Mol Cell. doi.org/grsqcx). Seit zehn Jahren versucht er, vor allem eine Frage zu klären: „Wie viele Mikroproteine gibt es eigentlich? Noch vor einigen Jahren kannte man nur zwei, drei Beispiele. Mittlerweile sind wir fast im fünfstelligen Bereich und jedes Jahr kommen neue hinzu.“ Für Erstautorin Jana Schulz begann das Interesse am Thema mit ihrer Doktorarbeit. „Ich habe mich damals für die AG Hübner entschieden und darüber zu den Mikroproteinen gefunden.“

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Vor allem eine Technologie half den Berlinern bei ihrer Suche nach den kleinen Eiweißen. „Dank des Ribosomen-Profiling ist es möglich, genau zu sehen, welche Sequenzen translatiert werden. Dadurch konnten wir zahlreiche neue Translationsstartstellen identifizieren“, erläutert Schulz. Das Ribosomen-Profiling, auch Ribo-Seq genannt, wurde erstmalig 2009 von der Gruppe um den US-amerikanischen Biochemiker Jonathan Weissmann beschrieben (Science. doi.org/dqcz9v): Wird mRNA aus Zellen oder Geweben isoliert, haften etliche Ribosomen an ihr, die mit dem Translatieren der mRNA beschäftigt sind. Nach Zugabe von Nucleasen bleiben nur die Bereiche unangetastet, die von den Ribosomen geschützt sind. Anschließend werden die Ribosomen durch Proteasen zerlegt. Was übrig bleibt, sind kleine mRNA-Schnipsel, deren Herkunft anhand eines Referenzgenoms bestimmt werden kann. So lässt sich feststellen, an welchen Stellen des Genoms Proteine dabei sind, zusammengesetzt zu werden.

Klein und jung

Mithilfe von Ribo-Seq gingen Hübner und Co. also auf die Suche nach den oft übersehenen Zwerg-Proteinen. Zwar war bereits bekannt, dass UTRs und lange nicht-codierende RNAs (long non-coding RNAs, lncRNAs) hypothetische Mikroproteine enthalten; an eine Expression der Winzlinge glaubte aber niemand. Wie falsch diese Annahme für menschliches Gewebe ist, zeigte unter anderem Hübners Gruppe im vergangenen Jahr (Nat. Biotechnol. doi.org/gqh38v). In der Publikation katalogisierten sie über 7.000 kurze Translationsstellen (short open reading frames, sORFs).

Porträts der beteiligten Forschenden: Jana Schulz, Jorge Ruiz-Orera und Norbert Hübner
Jana Schulz (li.) und Jorge Ruiz-Orera (re.) teilen das Interesse an Mikroproteinen von Norbert Hübner, dem Leiter der AG „Genetik und Genomik von Herz-Kreislauferkrankungen“ am Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin (MDC) in Berlin-Buch. Fotos: AG Hübner, MDC/D. Ausserhofer, MDC/AG Albà, PRBB

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Ausgehend von diesen Ergebnissen begaben sich Ruiz-Orera und Schulz auf die Suche nach dem Ursprung der Mikroproteine. Dafür schauten sich die Biologen die katalogisierten sORFs genauer an. „Wir stellten fest, dass 90 Prozent dieser Proteine evolutionär betrachtet jung sind“, erklärt Ruiz-Orera. „Normalerweise können wir über viele Spezies hinweg Homologien in Proteinen feststellen. Die meisten humanen Mikroproteine lassen sich jedoch – wenn überhaupt – nur bis zu den Primaten zurückverfolgen. Sie sind also neu entstanden.“ Dies passt laut Ruiz-Orera zum generellen Verständnis der Proteinevolution. Danach sind neue Eiweiße zunächst kurz und verlängern und spezialisieren sich erst im Laufe ihrer evolutionären Entwicklung. Bei den jungen Mikroproteinen ist Letzteres bisher nicht erfolgt. Die frischen Winzlinge lassen sich nicht nur in Menschen und Primaten, sondern auch in anderen Tieren und sogar Bakterien nachweisen. Aber auch dort haben sie sich erst kürzlich entwickelt.

Auf Partnersuche

Aus ihrem Protein-Katalog wählten die Berliner daraufhin 45 Mikroproteine aus, deren Expression im menschlichen Herzen sie bereits 2019 gezeigt hatten (Cell. doi.org/c73d). Zudem prüfte Hübners Arbeitsgruppe in zahlreichen Datenbanken, ob die Mikroproteine mit Erkrankungen assoziiert sind. Zusätzlich seien sie noch einen Schritt weiter gegangen, ergänzt Schulz: „In unseren bisherigen Studien hatten wir Proteine kleiner als 15 Aminosäuren ausgeschlossen, durchkämmten unsere Ribo-Seq-Daten jetzt aber nach Translationsereignissen ultrakurzer Mikroproteine.“ Das war keine leichte Aufgabe, denn je kürzer der translatierte Bereich, desto schwächer deren Sequenzierungssignale. Um sie vom Hintergrundrauschen zu unterscheiden, benötigten die Berliner etliche Sequenzierreaktionen der identischen Sequenzen.

Immunfluoreszenz-Mikroskopie von Mikroproteinen
Die Arbeitsgruppe von Norbert Hübner überexprimierte mehr als zwei Dutzend Mikroproteine mit einem C-terminalen FLAG-Tag in HeLa- Zellen und visualisierte sie per Immunfluoreszenz (rot). Meist migrierten die Proteinwinzlinge in Mitochondrien (grün), fanden sich aber auch im Zellkern (blau). Abb.: Franziska Trnka, MDC

Die Forschungsgruppe konzentrierte sich auf die am stärksten exprimierten Mikroproteine und wählte unter ihnen 221 Kandidaten aus, die sie zusammen mit den 45 längeren Eiweißen unter die Lupe nahmen. Um ihrer Funktion auf die Spur zu kommen, screenten Hübner et al. das Interaktom der Mikroproteine mithilfe eines Protein Interaction Screen on Peptide Matrices (PRISMA)-Assays (iScience doi.org/j6p9). „Bei dieser Technik werden Peptide mit einer Länge von 15 Aminosäuren auf einer Membran immobilisiert“, beschreibt Schulz. „Längere Proteine werden also zerschnitten und in überlappenden Fragmenten aufgebracht.“ Die so präparierte Membran inkubierten die Forschenden mit Zelllysaten von humanen embryonalen Nieren (HEK)-Zellen. Dabei binden interagierende Proteine des Lysats an die immobilisierten Peptide. Für ein hochaufgelöstes Interaktom der Peptide werden die Peptidspots ausgeschnitten und im Massenspektrometer analysiert.

Schema der Methodik des Ribosomalen Fußabdrucks
Ribosomaler Fußabdruck: Werden aktive Polysomen mit RNase verdaut und die ribosomgeschützten mRNA-Fragmente anschließend proteolytisch von Ribosomen befreit, können sie in eine cDNA-Bibliothek transkribiert und tiefensequenziert werden. Illustr. nach: Nat Rev Genet. doi.org/f5s3wx

„Allerdings“, wirft Schulz ein, „betrachten wir hier Interaktionen zwischen Proteinen und linearen Mikroprotein-Fragmenten. Kurze Proteine zeigen zwar selten ausgeprägte 3D-Strukturen; wir können jedoch nicht ausschließen, dass es in vivo auch strukturbasierte Interaktionen gibt.“ Die Daten der Berliner legen jedoch nahe, dass zumindest einige Mikroproteine mittels kurzer Motive mit großen Proteinen interagieren. Um unspezifisch bindende Proteine auszuschließen, verglich Hübners Gruppe die Interaktionen eines Proteinspots mit denen aller anderen Proteinspots der Membran. Außerdem zeigten die Forschenden mithilfe einiger Kontrollpeptide, deren Interaktionspartner und Bindemotive sie kannten, dass bereits Punktmutationen zum Verlust der Bindekapazität führen.

Fallbeispiele

Aus der Vielzahl möglicher Interaktionspartner pickten die Berliner schließlich die interessantesten Kandidaten heraus: So bindet das Mikroprotein PVT1-MP an diverse Splicing-Faktoren, deren Wechselwirkung Schulz et al. in lebenden Zellen bestätigen konnten. Die genaue Funktion des Mikroproteins ist den Berlinern allerdings noch ein Rätsel.

Weiter kamen sie mit LINC01128-MP. Dieses Mikroprotein bindet an mehrere Clathrin-Proteine, die essentiell für die Endozytose und für intrazelluläre Transportwege sind. „Wir haben dieses Mikroprotein in HeLa-Zellen ausgeschaltet und uns dann die Aufnahme von Transferrin angeschaut. Im Vergleich zum Wildtyp nehmen die Zellen ohne LINC01128-MP signifikant weniger Transferrin auf“, fasst Schulz zusammen. Wie der Winzling die Endozytose im Detail beeinflusst, ist jedoch noch ungeklärt.

Als Nächstes wollen sich Hübner und seine Leute anderen Mikroproteinen zuwenden. Auswahl haben sie schließlich genug. ­Ruiz-Orera schildert: „Unsere Gruppe beschäftigt sich vor allem mit kardiovaskulären Erkrankungen. Also werden wir uns unter den Tausenden von Mikroproteinen darauf fokussieren.“ Die bereits erstellten Interaktome wollen die Berliner in Herzzellen überprüfen und den Funktionen der jungen Winzlinge durch weitere Knockout-Experimente auf die Schliche kommen. Ebenso werden sie ihren Mikroprotein-Atlas weiter pflegen und durch Annotationen erweitern. An Ideen und Projekten mangelt es ihnen also nicht.