Ein Donut voller Joghurt

Larissa Tetsch


Editorial

(08.09.2023) MAINZ: Trotz ihrer Bedeutung für den geregelten Austausch zwischen Zellkern und Cytoplasma ist die Struktur von Kernporen bislang nur teilweise aufgelöst. Der Grund: Porenproteine, die nicht ganz einfach zu enträtseln sind ...

Im Zellkern lagert das Kostbarste, das ein Organismus besitzt – das Erbgut und damit die eigene Identität. Dessen Schutz hat für die Zelle höchste Priorität: Bei Eukaryoten hält die doppelte Hüllmembran des Zellkerns alles draußen, was im Kern nichts zu suchen hat. Gleichzeitig darf die Abriegelung nicht hermetisch sein. Auf der einen Seite müssen Transkripte ins Cytoplasma zu den Ribosomen wandern können, auf der anderen Seite herrscht auch im Zellkern Bedarf an Metaboliten und neu synthetisierten Proteinen, etwa für Replikation und Transkription. Den geregelten Austausch zwischen Kern und Cytoplasma vermitteln rund 2.000 Kernporen. Kleine Moleküle durchqueren die Kanäle in der Kernmembran alleine durch Diffusion; größere Moleküle benötigen Unterstützung. So müssen sich Proteine, die in den Zellkern gelangen wollen, mit einem „Passwort ausweisen“ – der Kernlokalisationssequenz. Gebunden an Transportproteine können sie dann die Pore passieren und werden im Inneren des Kerns unter Energieverbrauch freigesetzt.

Schaubild Kernporen
Innerhalb von Kernporen kann FG-NUP98 ein breites Spektrum an Konformationen einnehmen – von dichtgedrängten Polymerbürsten (links) bis hin zu kollabierten Domänen (rechts). Illustr.: Aus Abb.3 von Nature, doi.org/gr6pc3.

Editorial

Kernporen gehören mit ihren 120 Megadalton und gut eintausend verschiedenen Proteinen zu den komplexesten molekularen Strukturen, die bislang bekannt sind. Ihr Gerüst ist strukturell zwar bereits recht genau aufgelöst. Anders sieht es jedoch mit der Transportmaschinerie im Inneren der Pore aus. Dort wird die eigentliche Transportbarriere von sogenannten FG-Nukleoporinen (FG-NUP) gebildet. FG steht für die Aminosäuren Phenylalanin und Glycin, die in den FG-NUPs in hoher Anzahl vorkommen. Vor allem Phenylalanin ist wichtig für den Transportvorgang, da Proteine an dessen aromatischen Ring binden können. Zwar ist jede einzelne Bindung nur schwach. Da in der Pore aber unzählige Phenylalanine vorliegen, können sich die Transportproteine an ihnen entlanghangeln, indem sie für jede gebrochene Bindung eine neue knüpfen. Wie die FG-NUPs in der Pore angeordnet sind, war bislang allerdings nicht bekannt. Denn sie gehören zur Gruppe der intrinsisch ungeordneten Proteine (IDP), die keine oder nur kurzzeitig ausgeprägte Sekundär- und Tertiärstrukturelemente besitzen. Aufgrund ihrer strukturellen Flexibilität lassen sich IDPs mit gängigen Methoden zur Strukturbestimmung nicht abbilden.

Edward Lemke
Der Mainzer Biophysiker Edward Lemke ist auch Sprecher des DFG-Schwerpunktprogramms „Molekulare Mechanismen funktioneller Phasenseparation“. Foto: T. Hartmann/IMB
Auf Unordnung fokussiert

Auf die Erforschung von IDPs hat sich Edward Lemke spezialisiert, der seit Anfang 2018 die Professur für Synthetische Biophysik ungeordneter Proteine am Institut für Molekulare Biologie (IMB) der Johannes Gutenberg-Universität Mainz innehat. „Immerhin fast ein Drittel aller Proteine bei Eukaryoten sind IDPs“, weiß der Chemiker. „Viele von ihnen sind an der Entstehung von Krankheiten beteiligt, weil sie aufgrund ihrer flexiblen Struktur leicht aggregieren.“ Wenig überraschend spielen IDPs deshalb vor allem bei Alterserkrankungen wie Morbus Parkinson und Morbus Alzheimer eine Rolle, die mit der Bildung von amyloiden Plaques einhergehen (siehe dazu auch „Intrazelluläre Irrläufer“ - Link - und „Noch ein Amyloid“ - Link - auf LJ online). Weil IDPs methodisch schwer greifbar sind, stehen ihrer Erforschung viele Hürden im Weg. „Wir bezeichnen sie deshalb gern als das ‚dunkle Proteom‘ “, schmunzelt Lemke.

Doch mithilfe von Fluoreszenz-basierten Werkzeugen macht Lemkes Arbeitsgruppe die flexiblen Proteine zeitlich und räumlich aufgelöst sichtbar – und bringt so im wahrsten Sinne des Wortes Licht ins dunkle Proteom: „Uns interessieren die Funktionen der IDPs und ihre evolutiven Vorteile“, erklärt der Mainzer. „IPDs kommen bei Prokaryoten nur selten vor; es muss also einen Grund haben, warum die Natur sich dafür ‚entschieden‘ hat, sie im Laufe der Evolution anzureichern.“ Vermutlich spielt ihre Vielseitigkeit eine Rolle, betont Lemke: „In ein flexibles Protein kann man mehr Funktionen einprogrammieren als in einen festen Baustein.“

Editorial
Als Forschungsobjekte dienen den Mainzern molekulare Maschinen, in denen IDPs mitwirken. Für ihre aktuelle Studie (Nature. doi.org/gr6pc3) fiel die Wahl auf die Kernpore, deren Gerüststruktur mithilfe von Kryo-Elektronentomographie bis fast auf Aminosäurelevel aufgelöst ist. In der Mitte des Strukturmodells klafft aber noch immer ein Loch von 30 bis 60 Nanometern Durchmesser. „Dieses Artefakt entsteht dadurch, dass die FG-NUPs im Inneren der Pore für die Kryo-Elektronentomographie unsichtbar sind“, erklärt Lemke. Mit einer Kombination aus Förster-Resonanzenergietransfer (FRET)-Analysen ist es seiner Arbeitsgruppe nun gelungen, dieses Loch zu stopfen – mit Marie Skłodowska-Curie Postdoc Fellow Miao Yu als Erstautorin und in Zusammenarbeit mit Gerhard Hummer, Direktor am Max-Planck-Institut für Biophysik in Frankfurt am Main.
Vorstoß ins dunkle Proteom

Einzelmolekül-FRET ermöglicht es, die Struktur von Proteinen in Lösung zu untersuchen. Dazu wird ein Polypeptid mit zwei verschiedenen Fluoreszenzfarbstoffen markiert, die bei räumlicher Nähe miteinander wechselwirken: Ein Farbstoff fungiert als Donor, der andere als Akzeptor für eine Energieübertragung. Nimmt die Donorfluoreszenz ab oder die Akzeptorfluoreszenz zu, liegen die markierten Aminosäuren im Protein nah beieinander. Der Energietransfer kann durch verschiedene Methoden gemessen werden. Lemkes Team verwendet die Fluoreszenzlebensdauer-Bildgebung (FLIM), bei der eine Verkürzung der Fluoreszenzzeit des Donors gemessen wird. Diese ist unabhängig von Konzentrationsschwankungen der Fluorophore, wodurch FLIM weniger fehleranfällig ist als Methoden, die die Fluoreszenzintensität messen.

Für ihre Analyse konzentrierten sich die Mainzer auf NUP98, da es für die Transportprozesse in der Kernpore essenziell ist: „Ein Ausfall von NUP98 ist letal“, sagt Erstautorin Yu. „Mutationen in ihm führen zu verschiedenen Alterskrankheiten sowie mehreren Arten von Blutkrebs.“ Im ersten Schritt erstellten Lemkes Biophysiker 18 NUP98-Konstrukte, bei denen eine Fluoreszenz-Markierung immer an der gleichen Stelle saß, die andere an unterschiedlichen Positionen im Protein – und damit unterschiedlich weit entfernt von der ersten Markierung. Als Negativkontrollen dienten verschiedene NUP98-Varianten, die jeweils nur eine Markierung an den 19 ausgewählten Positionen trugen. Sie alle zeigten vergleichbare Fluoreszenz. Auch stellten die Biophysiker sicher, dass Donor und Akzeptor nur innerhalb des selben Proteins miteinander wechselwirkten.

Um die Fluoreszenzmarkierungen so anzubringen, dass sie NUP98 möglichst wenig beeinflussen, musste Lemkes Arbeitsgruppe indes in ihre Trickkiste greifen. Die Forscher ersetzten Codons an den gewünschten Stellen durch das Stoppcodon TAG und programmierten eine Translationsmaschinerie, um das Stoppcodon in die nicht-kanonische Aminosäure trans-Cyclooct-2-en-L-Lysin (TCO*A) zu übersetzen. „Die Grundlagen dieser Methode entwickelte Peter Schultz bereits vor 20 Jahren“, erklärt Lemke. „Sie erzeugt aber einen recht großen Hintergrund, weil etwa ein Fünftel der zellulären Proteine mit dem Amber-Stoppcodon enden und dann eben auch zum Teil markiert werden.“ Die Lösung besteht aus einem künstlichen Organell, das auf dem Prinzip der Phasenseparation beruht und der Außenseite der Mitochondrienmembran aufsitzt. In diesem Proteintröpfchen befinden sich die Komponenten für die maßgeschneiderte Translation – also mit TCO*A beladene tRNAs mit zum Stoppcodon passenden Anticodons plus eine t-RNA-Synthetase mit passender Bindetasche für die nicht-kanonische Aminosäure. Die Forschenden dirigierten die NUP98-mRNA spezifisch in dieses Organell und konnten das NUP98-Protein auf diese Weise spezifisch fluoreszenzmarkieren. „Nach zwei Methoden-Publikationen in Science (doi.org/gkbzmt) und Cell (doi.org/gpvk2p) konnten wir jetzt die erste spannende Anwendung für unser System publizieren“, freut sich Lemke (mehr zum Science-Paper in „Das Leben neu erfinden“ in LJ 06/2020 ab S. 18 - Link).

Illustration Kernpore unter Wasser mit Forscher als Taucher auf Entdeckungstour
Illustr: SarahMingu/IMB

Wie weichgekochte Spaghetti

Tatsächlich erlaubte es diese trickreiche Methodik den Forschern, die konformationelle Flexibilität des NUP98-Proteins zu vermessen. Typisch für ein IDP liegt es in der Kernpore extrem entspannt und gelöst vor. Doch als Lösungsmittel dienen ihm nicht etwa nur die Karyolymphe, sondern die FG-NUPs selbst. Aufgrund ihrer hohen Konzentration in den Kernporen interagieren sie gerne und vielfach miteinander – hauptsächlich über π-π-Wechselwirkungen ihrer aromatischen Phenylalanin-Ringe. „Interessant ist“, fügt Lemke hinzu „dass wir uns dabei in der Nähe der Phasengrenze befinden.“ Bei schlechterer Löslichkeit verknäult das Protein und klebt im Wesentlichen am Porengerüst. Bei besserer Löslichkeit wird NUP98 dagegen zu flexibel. „In beiden Fällen geht seine Barrierefunktion verloren.“

Das Verhalten von NUP98 bei unterschiedlichen Löslichkeiten leiteten die Biophysiker aus Moleküldynamik-Simulationen ab, die die Arbeitsgruppe um Gerhard Hummer durchführte. „Für unsere Simulationen sind Lemkes Messungen aus Mainz ein Glücksfall“, freut sich der Physiker. Denn die Kernpore wird zwar seit 20 Jahren modelliert, doch bestand bisher keine Möglichkeit, Simulationsergebnisse mit der Realität abzugleichen. „Jetzt verfügen wir aber über Messwerte, die wir in unsere Simulationen einsetzen können und bekommen damit eindeutige Ergebnisse“, erklärt Hummer. Das Ergebnis des Kooperationsprojekts lautet zusammengefasst so: NUP98 ist über einen gefalteten Teil mit dem Porengerüst verbunden. Sein flexibler Teil ragt wie gekochte Spaghetti in langgestreckter Konformation und ständiger Bewegung ins Innere der Donut-ähnlichen Pore – und bildet damit eine Barriere, die für einen gleichzeitig selektiven und schnellen Transport bestens geeignet ist.

Ein wenig komplexer ist die Situation allerdings. Denn in der Pore liegen rund zehn NUP-Varianten mit durchschnittlich 32 Kopien vor. „Das ist eine riesige Menge an Proteinen, die eine dickflüssige Joghurt-artige Konsistenz erzeugen“, so Lemke. Die Arbeit an den FG-NUPs soll deshalb in Mainz weitergehen – und auch in Asien: Postdoc Yu hat derzeit die Auswahl zwischen zwei Professuren in China und Singapur und möchte dort zukünftig zwei IDPs untersuchen, die bei der Amyotrophen Lateralsklerose (ALS) und der Frontotemporalen Demenz (FTD) eine Rolle spielen. Lemke selbst bleibt NUP98 treu. Aber auch die anderen FG-NUPs der Kernpore stehen auf seiner To-do-Liste. „Wir haben erstmals eine Methode gefunden, um die Struktur von IDPs in einer lebenden Zelle abzubilden. Diese Methode können wir nun auf alle IDPs ausweiten“, ist der Chemiker überzeugt. „Und wenn es dann darum geht, wie die Prozesse der Kernpore reguliert werden, haben wir noch Arbeit für die nächsten Jahrzehnte.“