Gut vernetzt

Angela Magin


Editorial

(11.10.2023) BERLIN/MAINZ: Forschende aus Neurophysiologie und theoretischer Biologie beschreiben gemeinsam einen neu entdeckten Mechanismus zur Steuerung des Flügelschlags bei Insekten und zeigen: Gap Junctions können auch anders!

In erster Näherung ist jedes Tier auf der Erde ein Insekt, schrieb der Ökologe Robert May. Die kleinen Krabbler begleiten unser Leben in Alltag und Wissenschaft: Sechs Nobelpreise gab es für Arbeiten an Drosophila melanogaster, von Morgan 1933 bis zu Hall, Rosbash und Young 2017. Damit zählt die Taufliege zu den bestuntersuchten Organismen. Für Überraschungen ist sie indes immer noch gut – das bewiesen die Arbeitsgruppen von Susanne Schreiber an der Humboldt-Universität zu Berlin und Carsten Duch an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (Nature. doi.org/gr9d4d).

Das insektenbegeisterte Team untersuchte, wie Taufliegen ihren Flügelschlag regulieren. Ein Gemeinschaftsprojekt im besten Sinne: „Wir haben nicht nur Daten ausgetauscht, sondern uns auch gegenseitig besucht und über die Schulter geschaut“, berichtet Schreibers Postdoktorand Jan-Hendrik Schleimer. Zusammen mit Doktorand Nelson Niemeyer modellierte und simulierte er in Berlin den Regelkreis, der den Flug der Fliegen steuert. Die Mechanik ist bekannt, sagt Schleimer. „Was aber immer noch ein Rätsel war: Wie sehen die Muster der neuronalen Inputs und motorischen Outputs aus und was ist der Mechanismus, der sie generiert?“

mehrere Drosophila im Flug
Foto: S. Hürkey/IDN

Editorial
Schneller als Neuronen feuern

Drosophila nutzen, wie mehr als 600.000 andere Insektenarten, den asynchronen Flug. Ihr Flügelschlag erfolgt also mit höherer Frequenz als die Nervenimpulse, die ihn steuern. Hierfür bilden zwei antagonistische Muskelgruppen im Thorax der Fliegen ein oszillierendes System: Kontrahiert der eine Muskel, dehnt er zugleich den gegenüberliegenden. Die Dehnung löst dessen Kontraktion aus, wodurch wiederum der erste Muskel gedehnt wird – und so weiter. Die Bewegung zieht die Flügel mit enormer Geschwindigkeit abwechselnd nach oben und unten. Zweihundertmal pro Sekunde vibriert das System in Drosophila.

Symbolbild: Experimentelle Methodik
Fünf Motoneurone (MN) innervieren die sechs Muskelfasern von Drosophilas dorsalem Flügeldepressor-Muskel (DLM). Milhilfe von in filigraner Handarbeit inserierter Wolframelektroden detektierte Silvan Hürkey die Aktivitätsmuster aller Motoneurone, während er gleichzeitig die Schlagfrequenz der Flügel mit einem Laser aufnahm. Illustr.: Nach Abbildung 1a in Nature. doi.org/gr9d4d

Doch die Muskeln kontrollieren den Flug nicht allein, erklärt Schleimer: „Im Muskel braucht man eine hinreichende intrazelluläre Calciumkonzentration, die die Kontraktion ermöglicht. Diese Konzentration wird durch die permanenten Nervenimpulse gesteuert, die auf den Muskel treffen und das System modulieren: Wenn die Gesamtfrequenz der Aktivität des neuronalen Mustergenerators zunimmt, steigt auch der Calciumlevel in den Muskeln. Das manipuliert deren Frequenz und Amplitude.“

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Mit Feinmotorik zur Aktivität

Nur fünf miteinander vernetzte Motoneurone steuern im Drosophila-Körper den dorsolongitudinalen Muskel, der sich entlang des gesamten Thorax erstreckt und den Flügel nach unten zieht. Auf dieses Kontrollnetzwerk konzentrierte sich das Team. Um die Aktivität der Neurone zu messen, fixierte Carsten Duchs Doktorand Silvan Hürkey im Mainzer Labor Drosophila an winzigen Haken und gab ihnen Styroporkügelchen als Sitzplatz. Dann versah er einzelne Muskelfasern mit Elektroden aus Wolframdraht. Die Aktivität der Muskelfasern liefert ein indirektes Maß für die Tätigkeit der Motoneurone, da sie einander exakt zugeordnet sind. Alle für ein komplettes Aktivitätsmuster nötigen Elektroden anzubringen, war diffizil, sagt Hürkey: „Eine Elektrode einzustechen, ist einfach; aber wenn man zwei weitere einsticht, schiebt man die erste wieder raus.“ Hürkeys Feinarbeit beeindruckt Schleimer: „Früher nutzte die Physiologie Modellorganismen, deren Neurone besonders groß waren, etwa die Riesenaxone bei Tintenfischen. Hier sind wir beim Gegenteil – so ziemlich beim Kleinsten, was man haben kann.“ Niemeyer fügt hinzu: „Und es ist cool, dass die Fliege trotzdem noch fliegt!“. Sobald sie Bodenkontakt verliert oder einen Luftzug spürt, reagiert sie unmittelbar.

Mittels Lasermessung zeichnete Hürkey den Flügelschlag auf und verglich ihn mit dem Aktivitätsmuster der Motoneurone. Jedes Neuron feuerte alle zwanzig bis vierzig Flügelschläge, wobei eine lineare Korrelation zwischen der Häufigkeit der Aktionspotenziale und der Schlagfrequenz der Flügel bestand. Der Abstand zwischen den Pulsen war für alle Neurone gleich, aber sie feuerten nicht synchronisiert. Im Gegenteil: Ihre Ausschläge verteilten sich so, dass sich die Abstände zwischen ihnen maximierten. Außerdem blieb die Reihenfolge, in der sie feuerten, meist dieselbe.

Asynchron verknüpft

Dieser asymmetrische Zustand wurde bereits in den 1970er-Jahren beschrieben. Eine Hypothese ist, dass die Neurone dabei über inhibitorische chemische Synapsen verbunden sind. „Aus mathematisch-theoretischer Sicht hätte das stimmen können, aber es ist nicht die einzige Möglichkeit“, erläutert Schleimer. Für die Modellierung definierten die Forschenden einfache mathematische Regeln: Geht ein Fremdimpuls kurz vor dem eigenen ein, müsste daraus eine Verzögerung des Aktionspotenzials resultieren; geht er kurz nach dem eigenen ein, sollte das zur Beschleunigung führen. „Wenn diese Kriterien erfüllt sind, desynchronisieren die Nervenzellen“, beschreibt Schleimer die modellgenerierten Daten. Aber passten die auch zur Biologie? Laut Theorie zur Membrandynamik von Nervenzellen durchaus, sagt Schleimer.

Für die Kopplung der Neurone kamen neben inhibitorischen Synapsen auch Gap Junctions – also elektrische Synapsen – in Frage. Doch es erschien abwegig, dass Letztere an der Erzeugung asynchroner Muster mitwirken sollten. Schließlich sind Gap Junctions interzelluläre Kanäle, die einen direkten Zell-Zell-Transfer von Ionen vermitteln, was zur Angleichung der Membranpotenziale der Zellen und deren Synchronisierung führen sollte. Doch als Hürkey Farbstoff in eines der Motoneurone injizierte, verteilte der sich auch in den übrigen Nervenzellen, was die Hypothese zu ihrer Verbindung durch Gap Junctions stützte. Juniorgruppenleiterin Stefanie Ryglewski bestätigte den Befund: Mit unendlichem Fingerspitzengefühl nahm sie per Patch-Clamp-Technik die Membranpotenziale zweier Motoneuronen simultan auf und zeigte, dass ein Strom in einer Zelle unmittelbar eine Antwort im zweiten, elektrisch gekoppelten Neuron hervorruft. Mehr noch: In Fliegen, die das für Gap Junctions wichtige Gen ShakB überexprimieren, feuern die Motoneurone synchron, was die Schlagfrequenz der Flügel schwanken lässt. „Als wir das gesehen haben, sind wir hier in Berlin fast vom Stuhl gefallen!“, begeistert sich Schleimer.

Zurück in den Computer

Mithilfe dieser Daten erweiterte Niemeyer das einfache mathematische Modell zu einer komplexen biophysikalischen Computersimulation, die die Leitfähigkeit der einzelnen Neurone abbildet. „Darin ist jedes Neuron ein System von Differentialgleichungen“, erklärt er. „Sie werden stark reduziert, aber man kann ihnen verschiedene Eigenschaften geben, anhand derer sie miteinander agieren können.“ Er modellierte die Ströme zwischen den Neuronen und simulierte das Auslösen von Pulsen. So zeigte er, dass die Motoneurone zwar gekoppelt sein müssen, die Kopplung jedoch nicht zu stark ausfallen darf. „Wir brauchen ein gewisses Level an Gap Junctions; das ist so eine Art Sweet Spot“, fasst Schleimer zusammen.

Portraitfoto von Nelson Niemeyer, Jan-Hendrik Schleimer, Silvan Hürkey
Nelson Niemeyer (links, © ECN/Berlin) und Jan-Hendrik Schleimer (Mitte, © BCCN Berlin) arbeiteten in Berlin an der mathematischen Modellierung und Computersimulation des Fliegenflugs. Silvan Hürkey (rechts, © AG Duch/IGN) lieferte in Mainz die notwendigen physiologischen Daten. Vor allem schauten sie sich aber gegenseitig über die Schulter.

Anhand des Modells erkannte das Team, dass die Zusammensetzung der Ionenkanäle in der Membran – vor allem die Anzahl der Kaliumkanäle – über die nötige Erregbarkeit der Motoneuronen entscheidet. Hürkey überprüfte das anhand des Kaliumkanals Shab, der in der Neuronenmembran für fünfzig Prozent des Kalium-Auswärtsstromes verantwortlich ist. Wenn er das Kanalprotein selektiv in den Flugmotoneuronen des dorsolongitudinalen Muskels überexprimierte, synchronisierten sich die Pulse der Neurone – wie vom Modell vorhergesagt.

Effizienz auf kleinstem Raum

„Nun wollten wir noch zeigen, dass die Musterbildung in den Motoneuronen stattfindet und nicht schon vorher. Dazu haben wir die vorgeschalteten Interneurone mit Channelrhodopsinen ausgestattet, sodass wir sie mit Licht aktivieren konnten“, sagt Hürkey. Die Aktivierung ließ die Motoneurone schneller feuern, aber ihre Phasenhistogramme veränderten sich nicht. Sie blieben sogar gleich, wenn die Mainzer die Channelrhodopsine direkt in den Motoneuronen exprimierten und aktivierten. „Die Motoneurone machen das unter sich aus“, stellt Hürkey klar.

Fünf Neurone mit schwacher elektrischer Kopplung genügen also, um autonom ein Aktivierungsmuster zu generieren – ein effizienter Mechanismus mit minimalem Platzbedarf, der gängige Annahmen über den Haufen wirft: Eine Desynchronisation, die beim langen tonischen Feuern ausschließlich über Gap Junctions gesteuert wird, sei noch nie zuvor beschrieben worden, hebt Hürkey hervor. Schleimer ergänzt: „Das Wechselspiel zwischen Synchronisation und Desynchronisation ist auch für unser Gehirn wichtig. Es gibt Pathologien, die mit zu viel Synchronisation assoziiert werden, etwa Epilepsien.“ Die Arbeit zeige außerdem, wie allein die Art und Weise, mit der einzelne Nervenzellen Pulse generieren – sozusagen die Persönlichkeit der Neurone – , das Verhalten gesamter neuronaler Netzwerke bestimmen kann, betont Susanne Schreiber, Leiterin der Berliner Arbeitsgruppe.

Die weitere Zusammenarbeit im Rahmen eines größeren Konsortiums ist fest geplant, denn die Liste an neuen Fragen ist lang: Warum verwendet das Steuerungssystem überhaupt Gap Junctions? Gibt ihre Geschwindigkeit den Ausschlag oder macht ihre gleichbleibende Stärke sie chemischen Synapsen überlegen? Wie werden sie reguliert, um die Systeme robust zu halten? „Das ist das, was uns in Zukunft bewegt“, freut sich Schleimer.