Die Ninjas des programmierten Zelltods

Anna Sternberg


Editorial

(11.10.2023) BASEL/LAUSANNE/STUTTGART: Um den Organismus zu schützen, greifen Zellen mitunter zu einer drastischen Maßnahme: dem programmierten Zelltod, an dessen Ende sie platzen. Doch ist dieses Zerbersten – wie bisher angenommen – wirklich nur eine Folge zu hohen osmotischen Drucks?

Nisten sich pathogene Bakterien in eukaryotischen Wirtszellen ein, vervielfältigen sich in ihnen und stehen kurz davor, den gesamten Wirt zu befallen, bleibt infizierten Zellen manchmal nur eines: der Opfertod. Zum Schutz des Organismus begehen sie aktiv Selbstmord. Sie reißen ihre eigene Zellmembran auf und verhindern so, dass sich die Pathogene ungehemmt vermehren können. Doch wie zerstören sie während dieser als Pyroptose bezeichneten inflammatorischen Variante des programmierten Zelltods ihre eigene Schutzhülle? Die bisherige Idee war simpel: Porenbildende Proteine wie etwa Gasdermin werden zur Plasmamembran rekrutiert. Durch diese Poren dringt Flüssigkeit in die Zelle. Der osmotische Druck steigt, die Zelle platzt.

Schema: Mechanismus Zellruptur
Im inaktiven Zustand ragen zwei α-Helices von Ninjurin-1 aus der Zellmembran heraus. Wird das Transmembranprotein aktiviert, falten sie sich in die Membran ein, wodurch sich einzelne Ninjurin-1-Proteine zusammenlagern und Löcher in der Plasmamembran bilden. Durch sie treten Danger-associated Molecular Patterns (DAMPs) und Lactatdehydrogenasen (LDH) aus und aktivieren die angeborene Immunantwort. Eine Entzündungsreaktion mit erhöhter Autophagie ist die Folge. Illustr.: Nach Abb. 4g in Nature, doi.org/gsbdpg.

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Reißverschluss auf Zellebene

Dass der finale Todesstoß jedoch bei weitem kein so passiver Prozess ist, wie bisher gedacht, beweisen die Strukturbiologen um Sebastian Hiller vom Biozentrum der Universität Basel. In ihrer jüngsten Publikation (Nature, doi.org/gsbdpg) beschreiben sie die Struktur und Funktion des Nerve Injury-induced Protein 1 (Ninjurin-1). Dieses Membranprotein ist zwar bereits seit den Neunzigerjahren bekannt, doch erst vor zwei Jahren entdeckte eine US-amerikanische Arbeitsgruppe, dass es aktiv zur Zerstörung der Plasmamembran während der Pyroptose beiträgt. Wie es dabei die Zellruptur auslöst, erwies sich allerdings als nicht ganz einfach aufzuklären. „Wir haben zwei Jahre lang intensiv zu zehnt an dem Projekt gearbeitet. Das Herzstück der Arbeit, also die Struktur von Ninjurin-1, hatten wir zwar schon ziemlich früh, aber wir wollten das Projekt holistisch angehen, um das System als Ganzes zu verstehen“, betont Hiller.

Also kombinierten die Schweizer Strukturbiologen Kryo-Elektronen-Mikroskopie (EM), Kernspinresonanzspektroskopie (NMR) und hochauflösende Mikroskopie mit ortsgerichteten Mutagenese-Assays und Computersimulationen und können die Wirkungsweise von Ninjurin-1 jetzt stolz auf atomarer Ebene präsentieren: Im inaktiven Zustand schwimmt Ninjurin-1 als Monomer in der Zellmembran, wobei zwei amphipathische α-Helices des Proteins aus der Membran herausragen. Setzt die Zelle ihr Selbstmordprogramm in Gang, wird Ninjurin-1 aktiviert. Seine α-Helices falten sich in die Plasmamembran hinein und verknüpfen einzelne Ninjurin-1-Proteine untereinander. Ein großflächiges, zaunartiges Filamentgeflecht entsteht. Im Gegensatz zum Proteinnetzwerk des Cytoskeletts stabilisiert es die Zelle allerdings nicht, sondern dient als riesige, unregelmäßige Sollbruchstelle. Ähnlich einem Reißverschluss öffnen die Ninjurin-1-Polymere die Plasmamembran. Ganze Stücke werden aus der Zellhülle gerissen und das Schicksal der Zelle ist besiegelt.

Schema: Membran mit Ninjurin-1-Löchern
Membran mit Ninjurin-1-Löchern. Illustr.: Morris Degen/Unibas

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Ein stabiles Netzwerk

Ein Detail überraschte die Basler Forscher dabei besonders: Während andere porenbildende Proteine wie zum Beispiel Gasdermin stets nach exakten stöchiometrischen Verhältnissen interagieren, folgen die durch Ninjurin-1 induzierten Membranrisse keinem definierten Muster. Das mag zunächst trivial klingen. Doch damit in einer Zellmembran ein stabiles Loch entstehen kann, müssen Bruchstellen energetisch stabilisiert werden. Andernfalls würden entstehende Risse durch den hohen Membrandruck wieder geschlossen – eine Eigenschaft, die sich Forschende beispielsweise bei der Elektroporation zunutze machen. Ninjurin-1-Filamente halten diesem Membrandruck allerdings stand, auch ohne andere Membranproteine binden zu müssen. Morris Degen, Doktorand in Hillers Gruppe und einer der drei Erstautoren der Studie, fasst zusammen: „Wir können jetzt mit Sicherheit sagen, dass Ninjurin-1 für die Membranruptur notwendig ist und selbstständig lange Oligomere formt.“

Wie es Löcher in einer Membran stabilisiert, demonstrierte Hillers Kooperationspartnerin und Juniorgruppenleiterin Kristyna Pluhackova an der Universität Stuttgart: Ihre Molekulardynamik-Simulationen bestätigten, dass Ninjurin-1-Filamente im Gegensatz zu den Polymeren anderer porenbildender Proteine hochflexibel sind. Indem sich die Filamente nach innen und außen verbiegen, halten die von ihnen induzierten Membranrupturen dem hohen Membrandruck stand und zerreißen infolge dessen die Plasmamembran. „Wir haben jetzt fundamental verstanden, dass die Zellmembran bei der Pyroptose eben nicht wie bisher gedacht von selbst bricht. Zellen benötigen Ninjurin-1-Filamente, um ihre stabilen Membranen zu zerstören“, bestätigt Hiller.

Schema: Membran mit Ninjurin-1-Löchern
Sebastian Hiller vom Biozentrum der Universität Basel (Foto: Unibas) erhielt 2018 die ICMRBS-Gründermedaille – eine der wichtigsten Auszeichnungen in der NMR-Forschung. Die Lausanner Arbeitsgruppe von Petr Broz (Foto: Unibas) validierte den Wirkungsmechanismus von Ninjurin-1 in der Zellkultur anhand einzelner Aminosäuremutanten. Kristyna Pluhackova nahm an der Universität Stuttgart () Foto: AG Pluhackova die Verformbarkeit von Ninjurin-1-Polymeren in silico unter die Lupe.

Zellruptur ist ein aktiver Prozess

Der gezielte Zelltod ist eine extreme, unumkehrbare Maßnahme von Zellen, um sich vor Pathogenen zu schützen. „Entsprechend gut muss die Pyroptose kontrolliert sein“, betont Hiller. „Das ist wie eine eingebaute Notfallsprengung einer Brücke, die nicht einfach aus Versehen losgehen darf“. Wie stark der finale Zusammenbruch der Zelle tatsächlich von Ninjurin-1 abhängt, zeigte die Kollaboration mit der Arbeitsgruppe des Immunologen Petr Broz von der Universität Lausanne. Sein Team mutierte gezielt einzelne Aminosäurereste im Protein und exprimierte die mutierten Proteine sowohl in humanen als auch in murinen Zellen. Waren die Netzwerkbildung und somit die finale Zellruptur beeinträchtigt? Tatsächlich machten bereits minimale Veränderungen seiner Aminosäuresequenz Ninjurin-1 funktionsuntüchtig. Es konnte seine typischen Proteinnetzwerke nicht länger bilden. „Bei Enzymen gibt es oft nur ein paar einzelne konservierte Reste. Doch Ninjurin-1 ist hochkonserviert. Es scheint mit seinem ganzen Wesen in seine Funktion involviert zu sein“, begeistert sich Hiller. „Es ist nicht nur ein Protein, das mit einer kleinen Stelle irgendwas macht, sondern das gesamte Protein arbeitet als Ganzes!“.

Darüber hinaus erwies sich die Netzwerkbildung von Ninjurin-1 sogar als essenziell für den Zelltod. Exprimierten die Schweizer Immunologen mutiertes, nicht funktionsfähiges Ninjurin-1 in humanen und murinen Zellen und lösten die Pyroptose dann mittels des proteolytischen Enzyms Caspase 4 aus, rupturierten die Zellkulturen nicht länger – obwohl sich in Zellmembranen Poren durch das Protein Gasdermin gebildet hatten. Der Beweis war erbracht: Pyroptotische Zellen platzen an ihrem Lebensende nicht einfach nur infolge osmotischer Druckveränderungen. Ihre Lyse ist das Ergebnis eines aktiven regulatorischen Mechanismus. Für das Verständnis von körpereigenen inflammatorischen Prozessen bietet diese Erkenntnis eine ganz neue Plattform. Auf ihrer Basis könnten beispielsweise Krebstherapeutika gezielt durch rationales Proteindesign entwickelt werden.

Gemeinsam stark

Vorerst wird Morris Degen aber weiter an Ninjurin-1 arbeiten und seine Promotion in Hillers Arbeitsgruppe abschließen. Er will mithilfe von Rasterkraftmikroskopie visualisieren, wie Ninjurin-1 zu Filamenten oligomerisiert und Brüche in der Membran induziert. Kristyna Pluhackova von der Universität Stuttgart möchte unterdessen das Zusammenspiel von Ninjurin-1 mit Membranlipiden näher beleuchten. „Experimentell lassen sich Lipid-Protein-Wechselwirkungen schlecht erforschen – nicht zuletzt, weil die Lipidzusammensetzung von Zellmembranen oft unbekannt ist“, erklärt sie. Mithilfe von Molekulardynamik-Simulationen lasse sich jedoch gezielt untersuchen, wie die Lipidkomposition die Polymerstruktur von Ninjurin-1 beeinträchtigt, sagt die Theoretische Chemikerin.

Fest steht: Ninjurin-1 kann sich nicht länger vor den Augen der Wissenschaft verbergen und erinnert nur noch namentlich an die Geheimkrieger des alten Japan. Und noch eines zeigt das Kooperationsprojekt aus Basel, Lausanne und Stuttgart: Eine gelungene Kommunikation zwischen verschiedenen Fachdisziplinen ist das A und O, um den Vorhang zum fundamentalen Verständnis von biologischen Prozessen weiter zu lüften.