Altes Modellsystem in neuem Licht

Angela Magin


Editorial

(10.11.2023) PLÖN: Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für Evolutionsbiologie züchten Bakteriophagen heran, die nicht nur Bakterien bekämpfen, sondern auch deren Resistenzen überwinden können.

Phagen kennt jeder – spätestens aus der Genetikvorlesung, vielleicht sogar schon aus der Schule. Auch das Thema Phagentherapie als Alternative zu Antibiotika ist nicht unbedingt brandneu. Tatsächlich beschrieb Félix Hubert d’Hérelle Bakteriophagen bereits 1917 und verpasste ihnen ihren Namen – wörtlich übersetzt: „Bakterienfresser“. Phagen binden an die Zellwand von Bakterien, injizieren und replizieren ihr Genom, bauen neue Phagen zusammen und lysieren schließlich die Zelle. Was wie ein alter Hut klingt, lässt die Augen von Jordan Romeyer Dherbey vom Max-Planck-Institut für Evolutionsbiologie in Plön dennoch glänzen: „Phagen gehören zu den diversesten Organismen der Welt; wir finden eine unglaubliche Vielfalt in Größe, Form und Aktivitätsmechanismen.“

Diese Begeisterung teilt Dherbey mit seinem Chef Frederic Bertels. Bevor Bertels nach Plön kam, hatte er bei Roland Regös am Institut für Integrative Biologie der ETH Zürich virale Evolutionsmechanismen am Beispiel von HIV erforscht. „Ich fand Viren sehr interessant, wollte aber nicht weiter mit HIV arbeiten“, sagt Bertels. Als er ab 2017 seine eigene Forschungsgruppe „Microbial Molecular Evolution“ aufbaute, beabsichtigte er, die mit HIV verbundenen Risiken zu vermeiden. Bei Literaturrecherchen stieß Bertels auf Bakteriophagen und wusste sofort: Das war das Modell, nach dem er suchte. Sein früherer Doktorand und jetziger Postdoktorand Dherbey schwärmt: „Die Arbeit an Phagen ist sicher, sie sind leicht zu handhaben und evolvieren schnell. Teilweise hat man interessante Mutationen bereits innerhalb eines Tages.“ Und um genau diese Mutationen geht es den Wissenschaftlern.

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„Eigentlich wollten wir uns evolutionsbiologische Ideen anschauen“, erzählt Bertels. „Aber dann haben wir gemerkt, dass noch niemand die Mechanismen der Resistenzbildung in Phi(φ)X174 genauer untersucht hat – obwohl das Modellsystem neunzig Jahre alt ist.“ Der Bakteriophage φX174 infiziert Escherichia coli und ist die einzige vom International Committee on Taxonomy of Viruses (ICTV) offiziell anerkannte Spezies in der Virusgattung Sinsheimervirus. Seine Erbsubstanz war das erste DNA-basierte Genom, das 1977 von der Arbeitsgruppe um den Nobelpreisträger Frederick Sanger vollständig sequenziert wurde, und ebenfalls das erste Virusgenom, das 2003 durch das Team von Craig Venter vollständig in vitro aus synthetisierten Oligonukleotiden zusammengesetzt werden konnte. Auch begründete der Nobelpreisträger Arthur Kornberg 1967 anhand von Experimenten mit φX174 das Zeitalter der synthetischen Biologie.

Red-Queen-Dynamik

Seit Jahrmillionen entwickeln Bakterien Resistenzen gegen Phagen wie φX174, um deren Angriffe zu überleben. Die Phagen ­ihrerseits evolvieren, um ihre bisherigen Wirte weiter attackieren zu können. Natürlich, sagt Bertels, seien in der langen Zeit der Phagenforschung viele Arbeitsgruppen über Resistenzen gestolpert. Doch in bisherigen Experimenten zur Koevolution von Bakterien und Phagen liefen komplexe, nicht nachverfolgbare Mutationsprozesse ab. „Wir wollten sehen, welche Mutationen genau dafür verantwortlich sind, dass Phagen bestimmte Phänotypen infizieren“, umreißt Bertels das Ziel ihrer Studie.

Das Autorenteam der neuesten Publikation der MPI-ArbeitsgruppeBertels
Das Autorenteam der neuesten Publikation der MPI-Arbeitsgruppe für Mikrobielle Molekulare Evolution (v.l.n.r.): Lavisha Parab, Frederic Bertels, Jordan Romeyer Dherbey und Jenna Gallie. Foto: AG Bertels

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Erfolgsrezept Diversität

So designten er und Dherbey eine Experimentenreihe, in der sie Koevolution gezielt vermieden: Zunächst erzeugte Dherbey eine Reihe von E.-coli-C-Stämmen, die gegen φX174 resistent waren und unterschiedliche Wachstumsphänotypen aufwiesen. Der E.-coli-Stamm C ist einer der fünf E.-coli-Stämme C, K12, B, W und Crooks, die für Laborzwecke als sicher eingestuft werden. Dherbey nutzte dazu natürliche Replikationsfehler in den Bakterienkulturen und zog resistente Klone auf Phagen-durchsetzten Agarplatten heran. Als Nächstes kultivierte er Phagen in flüssigen Mischkulturen aus Wildtyp-E.-coli C und einem der resistenten Bakterienstämme. Der Wildtyp diente der Vermehrung der Phagen; die resistenten E. coli gaben φX174 den Anreiz zur Evolution. Dann immobilisierte der Biologe die resistenten Bakterien auf Soft Agar und versetzte sie mit den neu evolvierten Bakteriophagen. Plaques auf den Platten zeigten an, dass die φX174-Phagen die Bakterien wieder infizieren konnten. Bei 21 von 31 E.-coli-Stämmen funktionierte all das erstaunlich schnell; zehn Stämme erwiesen sich dagegen als hartnäckiger.

Mutationsmuster der LPS-Schicht von E.coli
Je nachdem, in welchen Genen der Lipopolysaccharid (LPS)-Biosynthese Mutationen auftreten, können die LPS in der äußeren Zellmembran von E. coli ganz unterschiedlich trunkiert sein. Phagen müssen sich dann jeweils etwas anderes einfallen lassen, um die Resistenz ihrer bakteriellen Wirte zu überwinden. Illustr.: Nach Abb.2 in Mol. Biol. Evol. doi.org/gsfw8p

Dherbey hypothetisierte: „Die Phagen benötigen mehr Mutationsschritte, um diese Stämme zu infizieren.“ Also erhöhte der Wahl-Plöner die Diversität seiner Bakteriophagen, indem er Pools unterschiedlicher Phagenisolate verwendete – in der Hoffnung, dass mehrere Phagen dieselbe Zelle infizieren und während der Genomreplikation untereinander rekombinieren würden. Auch beim Wirt erzeugte der damalige Doktorand höhere Diversität. Hier kombinierte er Wildtyp-E.-coli mit einem der E.-coli-Stämme, deren Resistenz schnell von φX174 überwunden worden war, beziehungsweise mit einem der hochresistenten Stämme. Viermal täglich passagierte er die Phagen auf frische Bakterienkulturen, abends extrahierte er sie und siehe da: Je höher die Diversität bei Bakterien und Phagen, desto weniger Passagen benötigten Letztere, um die Resistenz ihrer Wirte zu überwinden (Mol. Biol. Evol. doi.org/gsfw8p).

Minutiös kontrollierte Dherbey seine Ergebnisse. „Sobald Jordan einen Plaque in der Schale der resistenten Bakterien fand, haben wir das Experiment gestoppt und geschaut, welche Mutation für die Überwindung der Resistenz verantwortlich war“, erläutert Bertels. „So haben wir den Evolutionsprozess in winzig kleine Schritte unterteilt, die wir verstehen können.“

Die Wissenschaftler verglichen die Sequenzen der mutierten und Wildtyp-Stämme. Bei den Phagen, die die bakterielle Resistenz überwunden hatten, fanden sie zwei bis vier Mutationen pro Stamm in den Genen F und H. F codiert für ein Capsidprotein, H für ein SpikeProtein, das an der DNA-Injektion in den Wirt beteiligt ist. Von beiden war bereits bekannt, dass φX174 sie braucht, um sich an neue Wirte anzupassen. Seitens der Bakterien war hingegen deren Lipopolysaccharid (LPS)-Struktur für die Resistenzbildung verantwortlich. Lipopolysaccharide als Bestandteile der äußeren Membran gramnegativer Bakterien spielen eine entscheidende Rolle bei der Bindung von Bakteriophagen an ihre Wirte. Ändert sich deren LPS-Struktur, verändern sich die Oberflächeneigenschaften der Bakterien. Entsprechend betrafen die Mutationen in den resistenten Klonen fast ausnahmslos Gene, die an der LPS-Synthese beteiligt sind.

Werkzeug Phagen

Aufgrund der Mutationen in den LPS-Synthese-Genen hatten Bertels und Dherbey acht Phänotypen mit Resistenzen gegenüber bestimmten Phagen erwartet. Als sie jedoch die Infektionsspektren ihrer φX174-Stämme überprüften, zeigten Bakterienstämme mit unterschiedlichen Mutationen innerhalb desselben LPS-Synthese-Gens zum Teil erhebliche Differenzen in ihren Resistenzeigenschaften. „Wir können hier quasi die evolvierten Phagen verwenden, um zwischen verschiedenen Mutanten im LPS-Genotyp zu unterscheiden“, interpretiert Dherbey die Ergebnisse. Bertels sieht darin eine neuartige Verwendungsmöglichkeit: „Anhand des Infektionsprofils von Bakterienstämmen können deren LPS-Profile verglichen werden.“ Auf diese Art wären akkurate Aussagen über die Oberflächenstrukturen gramnegativer Bakterien möglich. Die Spezifität, mit der Phagen an ihre Zielstrukturen binden, könnte sich in ein Werkzeug fürs Labor verwandeln lassen – vergleichbar mit Antikörpern.

Raus aus der Antibiotika-Krise

Natürlich haben die Plöner auch über Phagentherapie als Anwendung nachgedacht. Während zum Beispiel in Georgien und Polen seit Langem Programme für diese Therapieform existieren, führt sie in westlichen Ländern bisher ein Schattendasein. Dherbey erklärt: „Es gibt momentan nicht viele Patienten, bei denen Phagentherapie angewendet wurde. Meist ist es ein letztes Mittel, wenn nichts anderes mehr hilft.“ Abgeschlossene klinische Studien zur Phagentherapie gibt es kaum, auch wenn ihre Anzahl im US-Studienregister seit 2016 ansteigt. In der Literaturdatenbank PubMed finden sich hauptsächlich Fallstudien, für die Cocktails frisch isolierter Phagen verwendet werden (Cell. doi.org/gshk2f). Einzelheiten zu den Phagen sind oft unbekannt. „Phagentherapie könnte viel breiter angewendet werden“, meint Bertels, etwa bei persistenten Infektionen, die die Lebensqualität von Patienten über viele Jahre beeinträchtigen. „Aber für diese Art der Anwendung brauchen wir erstmal ein gut verstandenes Modellsystem.“

Das Gleiche gilt für die Bekämpfung antibiotikaresistenter Bakterien, die weltweit zum Problem werden. In Deutschland sind rund 54.500 Menschen pro Jahr betroffen, 2.400 von ihnen sterben (Viruses. doi.org/k2mv). Phagentherapie könnte hier nicht nur direkt, sondern auch indirekt wirken, sagt Dherbey: „Mit Phagen kann man Bakterien wieder anfällig für Antibiotika machen, gegen die sie zuvor resistent waren.“ Das funktioniert etwa, wenn Phagen durch ihre Bindung die Funktion von Effluxpumpen in den bakteriellen Zellwänden stören, die Antibiotika aus der Zelle entfernen.

Natürlich werden Bakterien auch gegen therapeutisch eingesetzte Phagen Resistenzen entwickeln. Anders als Antibiotika bringen Phagen die Lösung für dieses Problem aber gleich mit: Sie können diese Resistenzen überwinden, indem sie evolvieren – und das sollten wir nutzen, findet Bertels: „Wir zeigen in unserem Paper, dass wir Phagen gezielt so züchten können, dass sie tatsächlich nützlich werden.“