Editorial

Vom Organmodell zum Organersatz

Organoide

Andrea Pitzschke


Zu den wenigen Themen aus der Biologie, die es in letzter Zeit in die Wissenschaftsseiten und Feuilletons von Tages- und Wochenzeitungen geschafft haben, zählen Organoide. Viele sehen in den Mini-Organen die neue Wunderwaffe bei der Analyse krankheitsspezifischer Mechanismen. Es gibt aber auch skeptische Stimmen.

Organoide sind stark vereinfachte Miniaturvarianten echter Organe. Sie bestehen aus unterschiedlichen, Organspezifischen Zelltypen, die sich zu einer funktionellen Einheit formieren und teilweise die Aufgaben eines echten Organs übernehmen. Ähnlich wie bei „richtigen“ Organen bewerkstelligen die verschiedenen Zelltypen Prozesse wie Exkretion, Kontraktion und Filtration gemeinsam.

Organoide ahmen ihre Vorbilder auch hinsichtlich Zellgruppierung und räumlicher Anordnung der Zellen ziemlich gut nach. Verantwortlich hierfür ist ihre Fähigkeit, sich während der Organoid-Formierung selbständig zu organisieren. Die Zellen kommunizieren mit Signalstoffen und „machen untereinander aus“, welche Zelle sich zu welchem Zelltyp differenziert, und wo sie sich anzusiedeln hat.

Durch die Produktion unterschiedlicher Oberflächenproteine und den damit einhergehenden unterschiedlichen Hafteigenschaften finden die richtigen Partner im Organoid-Mosaik zusammen. Bereits bestehende Gewebemassen sowie die von Nachbarn vorgegebene Zellteilungsrichtung dirigieren die aus wenig-differenzierten Vorläuferzellen gebildeten Nachkömmlinge an die Oberfläche. Dort empfangen sie Signale zur endgültigen Differenzierung; Zellen die außen sitzen, verwandeln sich so schneller zum Organ-spezifischen Zelltyp.

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In cerebralen Organoiden finden sich die Zellen zu ähnlichen Strukturen zusammen, wie in einem echten Gehirn. Je besser Forscher diese Selbstassemblierungsprozesse verstehen, desto gezielter können Sie die Organoid Entwicklung in die gewünschte Richtung lenken. Zeichnung: IMBA

Stammzellen als Startmaterial

Im Labor basteln Forscher Organoide aber nicht in Fertigbauweise aus Organbruchstücken zusammen, sondern stellen sie von Grund auf neu her. Ob Nieren-, Netzhaut-, Haut- oder Hirn-Organoid – als Startmaterial dienen pluripotente Stammzellen, die sich prinzipiell in jeden beliebigen Zelltyp verwandeln können. Abgesehen von ihrer nur begrenzten Verfügbarkeit und ethischen Grenzen kommen embryonale Stammzellen jedoch nicht für alle Anwendungen in Frage. Stattdessen verwenden Forscher induzierte pluripotente Stammzellen (iPSCs), die sie durch künstliches Umprogrammieren aus nicht-pluripotenten Körperzellen gewinnen.

Auf dem Weg zum Wunsch-Organoid liegen jedoch einige Stolpersteine, die es aus dem Weg zu räumen gilt. Ein Hindernis sind zum Beispiel Stammzellen, die während der Kultivierung gerne zu runden Klumpen aggregieren. Im Inneren dieser inhomogenen Zellmasse zirkulieren andere Signalmoleküle als außen. Auch sind die Zellen je nach ihrer Entfernung zur Oberfläche unterschiedlich gut für applizierte Wirkstoffe erreichbar.

Die Gruppe der britischen Organoid-Forscherin Madeline Lancaster vom MRC Laboratory of Molecular Biology in Cambridge, UK fand zum Beispiel heraus, dass das Oberfläche-zu-Volumen-Verhältnis von Organoiden ausschlaggebend für die Zelldifferenzierung und somit für die Organoid-Zusammensetzung ist (Nat Biotechnol 35(7): 659-66).

Die britischen Forscher brachten Stammzellaggregate mit Poly(lactid-co-glycolid)-copolymer (PLGA), einem Polyester aus Milch- und Glycolsäure „in Form“. Obwohl nur ein Bruchteil der Zellen in direkten Kontakt mit dem Polyester kam, formierten sich die Stammzellen nicht mehr zu Klumpen, sondern zu flachen Gebilden, die sich binnen weniger Tage zu dreidimensionalen Aggregaten pluripotenter Stammzellen, sogenannten Micro-patterned Embryonal-Körperchen, weiterentwickelten. Nach entsprechender Induktion gelang es dem Team, aus diesen schließlich Neuroektodermal-Gewebe zu generieren.

Aber wie verleiht man den Stammzellen den richtigen „Schubs“, damit sie sich tatsächlich in Zelltypen des gewünschten Gewebes oder Organs differenzieren? Organoid-Forscher greifen hierzu auf das immer umfangreichere Know-how von Stammzellforschern und Entwicklungsbiologen zurück.

Die Möglichkeiten, Stammzellen in die richtige Richtung zu dirigieren, sind sehr vielfältig, basieren aber meist auf entsprechenden Wachstumsfaktoren und Nährmedien. Für Neuroepithelium als Vorstufe cerebraler Organoide beziehungsweise für Netzhautepithelium verwenden Forscher beispielsweise Knockout Serum Replacement (KSR), ein Serum-freies wachstumsförderndes Medium, in unterschiedlichen Konzentrationen.

Ganz ohne Stütze kommen Zellen trotz ihres „Talents“ zur Selbstorganisation nicht aus. Ihre zelleigene extrazelluläre Matrix ist hierfür zu schwach. Ein Hydrogel sorgt dafür, dass die wachsenden Organoide ihre gewünschte dreidimensionale Form und Größe annehmen und die Zellen miteinander kommunizieren können. Am häufigsten wird als Matrixmaterial „Matrigel“ eingesetzt, das aus dem Sekret einer Tumor-Zelllinie (Engelbreth-Holm-Swarm-Tumorlinie) stammt und aus einer Laminin-reichen extrazellulären Matrixsubstanz besteht.

Aber selbst wenn sämtliche Zutaten und auch Kulturbedingungen identisch sind, so ist doch jedes Organoid ein Unikat. Der Faktor Zufall bestimmt maßgeblich die relative Lage der einzelnen Gewebsregionen. Entsprechend schwierig sind Vergleichsanalysen mit solch heterogenen Probenmaterialien. Organoid-Skeptiker sehen darin eines der Hauptprobleme für die Anwendung von Organoiden und warnen deshalb vor einem voreiligen Hype um Organoide als Organmodelle (Development 144: 938-41).

Erst wenn Organoid-Forscher die Selbstorganisations-Mechanismen der Zellen im Detail verstehen, können sie diese gezielt steuern, um letztlich reproduzierbare, aussagekräftige Resultate zu erzielen (siehe hierzu auch das Interview mit dem Organoid-Spezialisten Jürgen Knoblich im Anschluss an diesen Artikel).

Dennoch liegt das größte Anwendungspotenzial von Organoiden in der Modellierung von Krankheiten, Medikamententests zur Therapieentwicklung und irgendwann vielleicht sogar im Ersatz defekter Organe. Organoid-Modelle könnten bisherige Ansätze verdrängen oder zumindest ergänzen. Im Gegensatz zu Tiermodellen fordern sie keine Opfer und bestehen, anders als Zellkulturen, aus verschiedenen Organ-spezifischen Zelltypen, die ähnlich wie in richtigen Organen physisch interagieren.

Maßgeschneiderte Organoide

Organoide sind nicht zuletzt deshalb so attraktive Forschungsgegenstände, weil sie sich „maßschneidern“ lassen. Liefert ein Patient Zellmaterial zur Organoid-Kultur, so enthält auch der fertige Organoid die individuelle genetische und immunologische Ausstattung des Spenders. Transplantate würden keine Abstoßungsreaktionen auslösen.

Auch für Medikamententests zur Entwicklung personalisierter Therapien eröffnen Organoide neue Wege. Im Fall eines 19-jährigen Mukoviszidose-Patienten war eine personalisierte Therapie nach Wirktstofftests an Organoiden bereits erfolgreich (Curr Opin Pulm Med 22(6): 610-6).

Für die Erforschung von Krankheiten, insbesondere Krebs, nutzen Forscher Organoide auf unterschiedliche Weise. Ausgangspunkt können induzierte pluripotente Stammzellen eines Patienten sein, oder bei einer Biopsie entnommenes Tumorgewebe. So legte zum Beispiel eine internationale Forschungsgruppe um den holländischen Stammzellforscher Hans Clevers vom Hubrechte Institute der Universität Utrecht eine lebende Organoid Biobank an (Cell 161(4):933-45).

Die Gruppe analysierte systematisch per Biopsie entnommene Gewebsproben von Patienten, die ein kolorektales Karzinom (CRC) trugen. Hierzu legten die Forscher Tumor-Organoid-Kulturen von 20 bisher unbehandelten CRC-Patienten an (weder medikamentös noch per Strahlenbehandlung). Parallel dazu kultivierten sie Organoide aus dem benachbarten, krebsfreien Gewebe. Hierdurch erhielten die Forscher für jeden Patienten einen unmittelbaren Vergleich zwischen gepaarten Organoiden.

Dass die CRC-Tumor-Organoide ein genügend verlässliches Abbild des ursprünglichen Tumors liefern, belegten umfangreiche Genexpressions-Analysen. Tatsächlich stimmten die genetischen Veränderungen in der „lebenden Biobank“ mit den Daten bisheriger Mutationsanalysen von CRC überein. Die CRC-charakteristischen Abweichungen kommen in beiden vor.

Die Eignung von Tumor-Organoiden für Hochdurchsatz-Screenings von Wirkstoffen zeigte das Forscherteam am Beispiel einer einzelnen Organoid-Kultur (P19b), die aus der „lebenden Biobank“ stammte. Der Organoid P19b reagiert aufgrund einer Mutation im WNT-Signalweg (RNF43) überempfindlich auf sekretiertes WNT, ist aber dennoch von diesem abhängig. Entsprechend führte die Zugabe eines Inhibitors, der ein für die WNT-Sekretion notwendiges Enzym hemmt, in einem Screen mit verschiedenen Organoiden der lebenden Biobank nur bei dem Organoid P19b zu einem deutlichen Einbruch der Viabilität. Der Inhibitor könnte also für Patienten, aus denen der Organoid P19b stammt, ein interessanter Wirkstoffkandidat für die CRC-Therapie sein.

Trotz dieser vielversprechenden Ansätze ist bei der Organoid-Kultur Vorsicht geboten. Wie bei jeder Zellkultivierung besteht ein Kontaminationsrisiko mit bakteriellen oder pilzlichen Keimen. Außerdem sind die Kulturen kaum unendlich propagierbar, da sich über kurz oder lang Fehler einschleichen können, die zur Instabilität des Genoms und unweigerlich zur Apoptose führen. Auch die Gefahr der Verfälschung beziehungsweise Verzerrung durch die An- oder Abreicherung bestimmter subklonaler Zell-Populationen ist nicht zu unterschätzen. Sie führt dazu, dass die Organoid-Kultur in ihrer quantitativen und qualitativen ­Zusammensetzung zunehmend vom Original-Tumorgewebe abweicht. Ein Tumor-Organoid wird nie ein authentisches Abbild eines echten Krebsgeschwürs sein. Während der Entwicklung ändert sich die Zusammensetzung der beteiligten Zellklontypen. Tumore sind eine heterogene Masse verschiedener Zellklone. Doch im Zuge der Kultivierung kann sich ein einzelner Sub-Klon als dominanter Bestandteil durchsetzen. Der entstandene Tumor-Organoid reagiert dann unter Umständen gänzlich anders als sein Vorbild (und ist dementsprechend wenig aussagekräftig).

Anschluß an Blutkreislauf

Bevor Organoide als Transplantate geeignet sind, muss ihr Reifeprozess verstanden und entsprechend gesteuert werden. Bisherige Arbeiten beleuchten primär die frühe Organoid-Entwicklung. Ein reifes Organ muss jedoch mit Nährstoffen versorgt werden – ohne einen entsprechenden Anschluss an die Blutbahn ist dies nicht möglich. Das hierfür nötige „Kanalsystem“ entsteht während der Formierung von Zellen zu Organoiden jedoch nicht von alleine. Manche Forscher versuchen, das Problem durch Beimengen von Endothelzellen zu lösen. Ob das immer funktioniert, ist fraglich. Auch Ingenieure sind inzwischen auf den Zug aufgesprungen und konstruieren ausgeklügelte Inkubatoren für die Organoid-Kultur. Vielleicht können sie mit ihren Geräten unkonventionelle Lösungen für die „Installation“ des Kanalsystems beisteuern.

Sind Organoide die neuen Hoffnungsträger der Stammzell- und Krebsforscher oder sind sie nur ein Hype? Kommt ein in vitro gezüchtetes Gewebe überhaupt in einer fremden Umgebung klar? Eine Leber als Ersatzteil gibt es noch nicht, menschliches Lebergewebe funktioniert aber bereits in Mäusen (Nature 499: 481-4). Hierfür kombinierten japanische Forscher drei Zellpopulationen: aus Stammzellen gewonnene Leberzellen, mesenchymale Stammzellen und Endothelzellen. Dieses Trio im richtigen Mengenverhältnis spiegelt in etwa die frühen Zelllinien bei der Leber-Entwicklung wider. In Gegenwart von Matrigel aggregierten die Zellen spontan und wie von Geisterhand entstanden dabei auch gefäßartige Strukturen. Diese ließen sich nach Organoid-Transplantation in eine Maus an das dortige Blutsystem „anschließen“, das fremde Lebergewebe wurde dadurch mit Mausblut versorgt. In letzterem fanden sich nach einer Weile tatsächlich Menschen-typische Stoffwechselprodukte.






Letzte Änderungen: 11.10.2017