Editorial

Im (Paper-)Wald, da sind die Räuber

Einsichten eines Wissenschaftsnarren

Ulrich Dirnagl


Narr

Raubverlage sind nicht wirklich unser Problem. Diese nutzen nur unsere Systemfehler. Und der größte ist die Art unseres Belohnungs- und Karrieresystems.

Ende Juli war es wieder soweit: Ein Wissenschaftsskandal erschütterte die Republik. Recherchen von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung ergaben, dass deutsche Wissenschaftler in einen „weltweiten Skandal“ verwickelt seien. Mehr als 5.000 Forscherinnen und Forscher deutscher Hochschulen, Institute und Bundesbehörden haben mit öffentlichen Geldern finanzierte Forschungsbeiträge in Online-Zeitschriften scheinwissenschaftlicher Verlage veröffentlicht, die grundlegende Regeln der wissenschaftlichen Qualitätssicherung nicht beachten. Die Öffentlichkeit, und nicht wenige Wissenschaftler, erfuhren so zum ersten Mal, dass es „Raubverlage“ und „Predatory Journals“ gibt.


Illustr.: J. de Leeuwe CC-BY

An der ganzen Sache ist einiges bemerkenswert, vieles davon stand allerdings nicht in den Zeitungen.

Raubverlage, die in ihren Phishing-Mails recht seriös auftreten, bieten Wissenschaftlern die Open-Access-(OA)-Veröffentlichung ihrer wissenschaftlichen Studien gegen Bezahlung – wobei sie suggerieren, dass ein „Peer Review“ stattfindet. Dieser findet aber nicht statt. Die Artikel erscheinen unbegutachtet auf den Webseiten dieser „Verlage“ – und sind entsprechend auch nicht in den gängigen Literatur-Datenbanken wie PubMed gelistet. Jeder Wissenschaftler in Deutschland findet mehrere solcher Einladungen pro Tag in seinem E-Mail-Postfach. Sollten Sie einer sein und keine bekommen, sollten Sie sich jetzt Sorgen machen.

Nun könnte man meinen, mit Raubverlagen seien Elsevier und Konsorten gemeint. Diese realisieren Umsatzrenditen von über dreißig Prozent, indem sie uns die Früchte unserer eigenen Arbeit verkaufen. Nachdem wir noch darum gezittert haben, dass sie dieses „Geschenk“ überhaupt annehmen – also den Artikel akzeptieren! Steuerzahler, die all dies finanziert haben, wie auch andere Unglückliche, die nicht über einen teuren institutionellen Bibliothekszugang verfügen, kommen nur mit ihrer Kreditkarte an die Früchte unserer Erkenntnis (siehe „Wissenschaftsnarr“ in LJ 5/2017: 22-23).

Aber halt, nicht so schnell! Elsevier ist doch kein Raubverlag, oder? Dort gibt es schließlich (jedenfalls zumeist) einen ordentlichen Review-Prozess.

Hier beginnt es jetzt, interessant – ja, kompliziert zu werden. Auch ich bin der Überzeugung, dass ein guter Review-Prozess wissenschaftliche Studien verbessern kann. Häufig ist dies jedoch gar nicht der Fall – er frisst massiv Ressourcen, doch es gibt keine wissenschaftliche Evidenz dafür, dass er „funktioniert“. Der Review-Prozess ist langsam, teuer, erratisch – und schlecht im Detektieren von Fehlern. Er wird häufig missbraucht und seine Resultate sind potentiell anti-innovativ.

Wir alle kennen das Problem. Artikel werden oft schon mit Blick auf potentielle Reviewer geschrieben, häufig wird in den Revisionen nichts anderes erreicht, als einen bestimmten Gutachter ruhig zu stellen. Statt sich auf die Suche nach neuer Erkenntnis zu machen, verbringen Arbeitsgruppen viel Zeit damit, genau diejenigen Ergebnisse zu liefern, die die Gutachter noch gerne sehen würden. Sicherlich wird auch manche unrettbar schlechte Arbeit aus dem Verkehr gezogen. Aber nur vorübergehend, denn sie wird – nach einer Kaskade von Einreichungen in Journalen mit abnehmendem Impact-Faktor – letztlich irgendwo anders publiziert werden. Wenn es sein muss, eben in einem räuberischen Journal! Damit der Review-Prozess letztlich fair und produktiv wird, braucht es schon einigen Aufwand und innovative Ansätze – wie beispielsweise bei den OA-Journalen von EMBO oder F1000Research.

Wieso publizieren also gestandene Wissenschaftler in Journalen, deren Namen sie vorher noch nie gehört haben? Häufig, weil sie nach einer Reihe von absolut frustrierenden und erfolglosen Einreichungen die Nerven verloren haben. Die Arbeit war vielleicht sogar richtig gut – aber zu wenig spektakulär, ein negativer Befund oder gar ein NULL-Resultat. Oder die Review-Anforderungen waren nicht zu erfüllen, da zu aufwendig. Oder der Doktorand schon über alle Berge. Dann können die Autoren schon der Verlockung erliegen, gegen Zahlung einer Gebühr die Früchte ihrer Arbeit in einem Journal mit toll klingendem Namen zu sehen. Und gleichsam eine weitere Arbeit auf ihrer Literaturliste.

Und genau hier liegt jetzt der Kern des Problems: Ein an simplen quantitativen Indikatoren orientiertes Belohnungs- und Karrieresystem. Mindestens zehn Originalarbeiten mit Peer Review als Erst- oder Letztautor werden beispielsweise von Habilitanden der Charité gefordert. Ähnliches gilt an den meisten deutschen Fakultäten.

Raubverlage nutzen also ein Grundproblem unseres akademischen Systems aus. Die Opfer der Raubverlage sind demnach auch gleichzeitig Täter! Denn wir sind es, die andere Wissenschaftler häufig nach quantitativen, leicht messbaren Größen (Anzahl und Impact-Faktor der Publikationen, eingeworbene Drittmittel,...) beurteilen, welche oft genug nur wenig mit der Qualität der Wissenschaft oder deren wissenschaftlicher beziehungsweise gesellschaftlicher Relevanz zu tun haben. Der Blick auf den Inhalt und die Bedeutung der Forschung kommt aus Zeitgründen zu kurz.

Dazu kommt, dass Studien im wesentlichen danach beurteilt werden, ob sie ein positives Resultat haben, aber nicht ob sie gut gemacht waren und demnach ein verlässliches Ergebnis verkünden. Deshalb lesen wir auch jeden Tag in der Zeitung über die demnächst bevorstehende Heilung von Alzheimer, Krebs oder Ähnlichem, ohne dass diese bisher eingetreten wären.

Apropos Heilungsversprechen: Es wird ja auch behauptet, von den „Prädatoren“ gehe die Gefahr aus, dass „Fake Science“ publiziert und dann in klinische Anwendungen gebracht würde – was wiederum die Patienten gefährde. Dies mag in Einzelfällen tatsächlich passiert sein. Allerdings wird auch in seriösen wissenschaftlichen Zeitschriften Fake Science publiziert. Und wenn das dann in The Lancet geschieht, werden gleich Hunderttausende geschädigt: Andrew Wakefield und die Anti-Vaxxer lassen grüßen.

Auch sollten wir nicht vergessen, dass etwa 50 Prozent aller abgeschlossenen klinischen Studien gar nicht publiziert werden. Meist, weil die Ergebnisse schwieriger zu publizieren sind, wenn sie nicht eindeutig sind oder die Studienhypothese nicht belegen. Weil wir also „Positives“ und Spektakuläres fetischisieren. So gesehen könnte man den Prädatoren sogar fast zugutehalten, dass sie für die Öffentlichmachung von ansonsten unzugänglicher Evidenz sorgen!

Langsam wird also klar: Es wird viel zu viel (Positives) publiziert – egal ob bei Elsevier et al. oder bei Prädatoren. Warum? Weil wir Publikationen an sich belohnen – aber nicht, ob sie eine wichtige Frage untersucht haben und methodisch gut gemacht sind. Kommissionen können all unsere Publikationen gar nicht mehr überprüfen, geschweige denn lesen.

Das gilt übrigens auch für die Wissenschaftler selbst. Allein PubMed listet für 2017 fast 1,3 Millionen erschienene Artikel. Mehr als 90 Prozent der publizierten Literatur (ohne die Raubverlage, wohlgemerkt!) werden dabei gar nicht gelesen. Trotzdem werden etwa 50 Prozent davon mindestens einmal zitiert – häufig also ungelesen! Wir zählen also einfach Publikationen, egal was drin steht. Oder wir addieren deren Impact-Faktor. Ohne zu berücksichtigen, dass dieser ja nichts über den jeweiligen Artikel aussagt, da er nur die durchschnittliche Zitierhäufigkeit des Journals misst.

Tragisch auch, dass die Affäre um die Raubverlage sehr gute Open-Access-Zeitschriften und das Prinzip dahinter in Verruf bringt. Beispielsweise wird das Pay-per-Article-Prinzip mit schlechter Qualität gleichgesetzt, obwohl zwischen beiden kein Zusammenhang besteht. Zur Stigmatisierung von OA führt auch, dass viele Verlage den Autoren nach Ablehnung ihres Artikels in einem „normalen“ Journal anbieten, diesen an ein OA-Journal aus dem selben Hause (mit meist niedrigerem Impact-Faktor) „weiterzureichen“. Noch komplizierter wird alles dadurch, dass es bei einigen Verlagen gar nicht so einfach zu sagen ist, ob sie Prädatoren sind. Manche der Zeitschriften, die heute als Prädatoren gelten, waren früher in allen relevanten Datenbanken gelistet und hatten ordentliche Impact-Faktoren (zum Beispiel Oncotarget).

Es geht also gar nicht um Raubverlage. Diese nutzen nur unsere Systemfehler. Was können, was müssen wir tun? Eine Stigmatisierung derer, die ordentliche Studien in Raubverlagen veröffentlicht haben, bringt uns nicht weiter. Kurzfristig müssen wir vor allem aufklären. Denn vielen Kollegen ist ja gar nicht klar, was ein „räuberisches Journal“ ist und wie man es erkennt. Aber auch darüber aufklären, wie das institutionelle Subskriptionsmodell finanziert wird. Manch ein Kollege glaubt immer noch, dass das scheinbar „kostenlose“ Herunterladen von beliebigen wissenschaftlichen Artikeln schon Open Access ist!

Entscheidend wird aber sein, das akademische Anreiz- und Karrieresystem so zu verändern, dass neben quantitativen Faktoren wieder mehr qualitative, qualitätsorientierte Indikatoren Eingang finden. Neben der Frage, wie innovativ Forschung ist, müssen auch Kriterien wie etwa wissenschaftliche Sorgfalt, Transparenz, Verfügbarmachen der Daten für andere oder Einbeziehung von Patienten in die Planung klinischer Studien („Partizipation“) bewertet und belohnt werden. Dann werden wir letztlich auch herausfinden, ob innovative Formate wie Preprint Server (zum Beispiel Bioarxiv), Post-Publication Review und Registered Reports nicht auf viel effektivere Weise qualitativ hochwertigere Veröffentlichungen ermöglichen.

Unter https://dirnagl.com/lj findet sich eine Auswahl einschlägiger Literatur und Links zum Thema.



Letzte Änderungen: 07.09.2018