Editorial

Wozu Tierversuche? Medikamente gibt‘s doch in der Apotheke

Ulrich Dirnagl


Narr

(11.03.2020) Ethische Prinzipien zu bemühen, nach denen Tierversuche vertretbar sind, reicht nicht aus. Woran es vor allem fehlt, ist größtmögliche Transparenz der Forschungseinrichtungen.

Zugegeben, Tierversuche heikles Thema. Wer Tierversuche macht, so wie ich, redet ungern darüber – zumindest außerhalb unseres natürlichen Habitats, also fernab von Labor oder Fachkonferenzen.

Das Gleiche gilt für Einrichtungen, an denen Tierversuche durchgeführt werden. Die Max-Planck-Gesellschaft etwa hat Nikos Logothetis vom Tübinger MPI für biologische Kybernetik im Regen stehen lassen, als er in eine unter der Gürtellinie geführte (Medien-)Kampagne geriet. Jetzt ist er samt Labor und Mitarbeitern auf dem Weg nach Shanghai.

Auf den Webseiten der einschlägigen Forschungsinstitute findet sich alles Mögliche: bunte Immunohistochemie-Bildchen, Weißkittel an Computer und Mikroskop oder mit Pipetten in der Hand. Bloß Tiere sieht man keine. Am eklatantesten ist dies bei den Auftritten der universitären Krankenhäuser. Stolz weisen sie auf ihre Forschungsaktivitäten hin, bewerben begeistert (künftige) wissenschaftliche Durchbrüche der medizinischen (Grundlagen-)Forschung bis hin zu ganz neuen Therapien. Ein Hinweis auf Tierversuche auf dem Campus jedoch? Fehlanzeige.

Das ist bemerkenswert. Denn es gibt meiner Ansicht nach nur eine einzige Rechtfertigung dafür, Tiere in der Forschung zu züchten, zu halten sowie ihnen bisweilen Leid zuzufügen und sie zu töten: Nämlich wenn es dazu dient, unser Wissen über biologische Prozesse zu vertiefen, damit daraus direkt oder indirekt neue und effektivere Therapien entwickelt werden können.

Das schließt wohlgemerkt die Grundlagenforschung mit ein, welche ja das Fundament für die Überführung von Wissen in medizinisches Handeln liefert. Anekdotisch belegen die Befürworter dies mit Hinweis auf soundso viele Nobelpreise, die auf der Basis von Tierexperimenten vergeben wurden. Oder etwas pauschaler mit der Behauptung, dass letztlich ein Großteil der Errungenschaften der modernen Medizin aus Tierversuchen hervorgegangen ist oder sich dieser bedient hat.

Für die Neurologie, in der ich mich ein bisschen auskenne, erkläre ich mich hiermit d’accord mit der Aussage, dass uns mindestens fünfzig Prozent der mittlerweile tatsächlich fantastischen Therapien für schlimme Hirnerkrankungen wie Multiple Sklerose, Parkinson oder Epilepsie ohne Tierexperiment nicht zur Verfügung stünden.

Das ist aber kein Freibrief für jeden Tierversuch, der mit dem Hinweis versehen wird, dass dieser möglicherweise Wissen für künftigen humanmedizinischen Nutzen liefern würde. Ein Beispiel hierfür ist eine gerade in Nature veröffentlichte Studie von Stammzell- und Regenerationsforschern aus Boston und Sao Paulo. In ihren Versuchen setzten sie Mäuse einer Vielzahl von Foltermethoden aus, die man von der CIA oder auch aus den Konzentrationslagern der Nazis kennt: Sie wurden über viele Stunden fixiert, ständig in neue Käfige gesetzt, isoliert, feuchter Einstreu in die Käfige geworfen, diese gekippt, grelles Licht in schnellen Abständen mit Dunkelheit abgewechselt – das Ganze in unvorhersehbarer Folge oder auch in Kombination und über viele Tage. Oder es wurde den Mäusen eine extrem schmerzauslösende Substanz gespritzt.

Im Artikel nennen die Autoren diese Maßnahmen charmant „Stress Procedures“. Und wozu das alles? Um herauszufinden, dass Stress Haare ergrauen lässt, dass dies durch den Sympathikus vermittelt wird und dass dadurch Melanozyten-produzierende Stammzellen kaputtgehen – also diejenigen Zellen weniger werden, die den Farbstoff produzieren. Wer das überraschend findet, hat hundert Jahre Stressforschung verschlafen.

Die Ethikkommissionen aller beteiligten Institutionen hatten ihren Segen zu dieser Studie gegeben. Aber ist das deswegen tatsächlich ethisch vertretbar? Nein! Auch wenn das Ganze in zehn Jahren zu einem Shampoo führen sollte, das die Bildung von grauem Haar im Alter verlangsamt. Oder Folteropfern in Guantanamo ihre Haarfarbe erhält. Der mögliche Nutzen für den Menschen muss mit dem Leid, das Tieren dafür zugefügt wird, in einem gesunden Verhältnis stehen.

Sicher, dieses Verhältnis ist nicht leicht zu definieren – aber es gibt klare Grenzen. Und es gibt Dinge, die so grausam sind, dass man sie Tieren – noch dazu derart hochentwickelten wie Mäusen – gar nicht antun darf.

Dass wissenschaftliche Einrichtungen hingegen keine ethischen Probleme bei derartigen Projekten ihrer Starwissenschaftler sehen, zumal sie diese dann auch noch in Nature und Co. publizieren – das ist nicht wirklich verwunderlich. Verwunderlich finde ich allerdings, dass die Weltpresse diesen Befund mit großem „Hallo“ gefeiert hat – meist mit Abbildungen von putzigen Mäusen und einem Käsestückchen.

Nun wenden viele ein, dass Tierversuche früher vielleicht nötig waren, heute aber durch Alternativen ersetzt werden können. Die Logik dieses Gedankens ist zweifelsohne korrekt: Sollten wir in der Lage sein, die relevanten Fragen zum Verständnis von Biologie und Krankheitsmechanismen ohne den Einsatz von Tieren zu klären, dann wären Tierversuche nicht nur obsolet, sondern schlichtweg unethisch. Allerdings sind wir auch heute – im Zeitalter von Organoiden, pluripotenter Zellen oder Computersimulationen biologischer Systeme – immer noch nicht so weit. Insbesondere das komplexe Zusammenspiel von Blutzirkulation, Immunsystem und Hirnaktivität, das praktisch sämtliche Zell- und Organfunktionen moduliert und damit fast alle Krankheiten beeinflusst, lässt sich zumindest bisher nicht in vitro oder in silico modellieren. Die Betonung liegt dabei aber auf „bisher“ – und vieles, insbesondere in weniger komplexen Organen als dem Gehirn wie etwa Leber oder Lunge, lässt sich tatsächlich schon recht gut im Gläschen nachbilden. Von daher ist glasklar: Die Alternativen müssen weiterentwickelt werden, und bereits vorhandene Ansätze müssen Tierversuche weiter ersetzen.

Nun kann ich mir an dieser Stelle allerdings nicht verkneifen, auf ein paar Widersprüche und Ungereimtheiten in der Argumentation gegen Tierversuche hinzuweisen. Auch weil diese Widersprüche die wirklich relevanten Argumente gegen Tierversuche diskreditieren, die es natürlich sehr wohl gibt.

Das wichtigste – und als ethische Haltung nicht zu widerlegende – Argument gegen Tierversuche ist, die Nutzung von Tieren für menschliche Zwecke aus moralischen Gründen abzulehnen. Noch vor einigen Jahren wäre dieser Standpunkt von Tierversuchsgegnern in der Praxis nicht durchzuhalten gewesen. Denn wer so argumentiert, darf ja auch keinerlei tierische Produkte essen. Seit sogar LIDL eine vegane Abteilung hat, geht das jedoch ohne weiteres. Schwieriger ist womöglich, über Lebensmittel hinaus ohne tierische Produkte auszukommen. Aber auch das geht, schließlich können heute schon Luxuslimousinen gegen Aufpreis mit veganer Innenausstattung geliefert werden. Zum Arzt oder ins Krankenhaus darf man dann aber natürlich nicht – es sei denn, dort wird mit Bachblüten und Globuli behandelt.

Nur wer so lebt, ist ein konsequenter und glaubwürdiger Tierversuchsgegner. Allerdings gibt es davon nur ganz wenige. Viele diskreditieren vielmehr ihren Standpunkt durch unlogische Argumentation und inkonsequente Lebenshaltung. So besitzen Tierversuchsgegner häufig Haustiere. Womit es anfängt, richtig problematisch zu werden. Gar nicht mal, weil die Tiere womöglich nicht artgerecht vom Menschen gehalten werden. Denken wir nur an Hunde in der Stadt, Katzen in der Wohnung oder die vielen Züchtungen, die die Zunge nicht mehr ins Maul kriegen, epileptisch sind oder Hüftdysplasien haben. Viel gravierender scheint mir jedoch, dass solche Tierversuchsgegner mit ihren Tieren fleißig zum Tierarzt gehen. Und der verschreibt dann Mittel, die meist im Tierversuch für den Menschen entwickelt wurden – und so auf Umwegen wieder beim Tier ankommen.

Das wirft natürlich umgehend die Frage auf: Sind denn Tierversuche wenigstens für die Tiermedizin gerechtfertigt? Und es zeigt außerdem, dass sehr wohl eine prinzipielle Übertragung der Ergebnisse zwischen Mensch und Tier möglich ist.

Noch krasser wird es indes, wenn man sich vor Augen hält, was manche unserer Lieben des Nachts so treiben. Es gibt sehr solide Evidenz dafür, dass streunende Hauskatzen als die wichtigsten Verursacher anthropogener Mortalität von Vögeln und Säugern auf unserem Planeten gelten dürfen. Allein in den USA schätzt man, dass streunende Hauskatzen jährlich 2,5 Milliarden Vögel und 12,5 Milliarden Säuger töten – und dabei nicht gerade zimperlich vorgehen! Zum Vergleich: In Deutschland werden etwas mehr als zwei Millionen Versuchstiere eingesetzt.

Sicher existiert eine in sich schlüssige, biozentrische Argumentation gegen Tierversuche. Diese kann glaubwürdig vertreten, wer vegan, auch sonst Tierprodukt-frei sowie ohne Haustiere und ohne moderne Medizin lebt. Demgegenüber existieren sogar noch ältere anthropo- beziehungsweise pathozentrische Argumentationen für Tierversuche. Diese sind im Alltag einfacher durchzuhalten – was sie aber nicht richtiger macht, denn Praktikabilität ist keine ethische Kategorie. Auf der ethisch-moralischen Schiene lässt sich daher zwar trefflich streiten, aber das bringt uns hier nicht wirklich weiter.

Nun gibt es ja noch den Staat. Egal wie man sich als Individuum zu Tierversuchen stellt, hat der Staat unter Berufung auf seine Bürger durch einschlägige Gesetze letztlich Realitäten geschaffen. Und auf diese Weise den Tierschutz ins Grundgesetz aufgenommen. Obwohl diese Gesetze sich ebenfalls auf ethisch-moralische Konzepte berufen, werden sie durch staatliche Gewalt und nicht durch logische Ableitung oder Überzeugung durch überprüfbare Argumente durchgesetzt.

Aus alldem ergibt sich folglich, dass sich der Konflikt zwischen der Verpflichtung, die menschliche Gesundheit zu erhalten und zu verbessern, und dem Anliegen, Schmerzen und Leiden von Tieren zu vermeiden, weder durch rechtliche, normative oder ethische Betrachtungen auflösen lässt.

Bleibt die Frage: Gibt es denn überhaupt keine von Gegnern wie Befürwortern akzeptierten ethischen Prinzipien der Forschung an Tieren? Vielleicht am ehesten das „3R-Prinzip“ von Russell und Burch: Replacement (Ersatz), Reduction (Reduktion), Refinement (Verfeinerung). Dessen recht breite Akzeptanz ist natürlich der Allgemeinheit – man könnte auch sagen: Unverbindlichkeit – dieser Prinzipien geschuldet: Die Gegner können auf vollständigen Ersatz pochen, die Befürworter auf Reduktion und Verfeinerung. Das Prinzip gibt ja auch keine Zahlen oder Zeiträume vor. Trotzdem gibt es Preise für die Einhaltung und Beförderung der 3Rs – und wer sie als Tierexperimentator ernst nimmt und beachtet, macht sowieso alles richtig.

Alles? Ich denke nein. Denn den 3Rs fehlt Entscheidendes. Die 3Rs sind ausschließlich auf das Tierwohl fokussiert. Was ihnen fehlt, ist der Rückbezug auf den wissenschaftlichen Wert der Tierversuche! Man kann nämlich ganz tolles Refinement machen und sogar einige Reduktionen erreichen – und trotzdem wertlose und damit unethische Tierexperimente durchführen. Das ist dann der Fall, wenn diese Versuche methodisch mangelhaft durchgeführt werden – zum Beispiel wegen schlechtem Studiendesign, wegen Verzerrung durch fehlende Verblindung, wegen falsch-positiver oder falsch-negativer Ergebnisse aufgrund zu niedriger Fallzahlen, wegen selektiv verwendeter Daten, wegen falscher Auswertung (p-Hacking, HARKING). Oder wenn die Ergebnisse aufgrund von Null- oder negativen Resultaten nicht publiziert werden beziehungsweise wenn die Beschreibung der Ergebnisse nicht ausreichend ist, um sie zu wiederholen oder ihre Qualität zu beurteilen.

Hierfür braucht es gleich nochmal „3Rs“, nämlich Robustness, Registration und Reporting. Robust werden Tierversuche nämlich erst durch ausreichende interne Validität, also methodische Kompetenz und Kontrolle von Bias. Registrierung verhindert, dass Daten selektiv ausgewertet werden und Studien unter den Tisch fallen – oder dass Hypothesen zugrunde gelegt werden, die man erst nach Auswertung der Resultate gebildet hat. Und mit gutem Reporting, beispielsweise durch Einhalten von Richtlinien wie ARRIVE sowie das Zurverfügungstellen von Originaldaten, wird eine Nach- und Weiternutzung der Ergebnisse ermöglicht (FAIR-Prinzipien).

Vorausgesetzt, es wird überhaupt publiziert. Eine kürzlich veröffentlichte Studie der Gruppe um Daniel Strech an unserem QUEST-Center legt leider nahe, dass weniger als zwei Drittel aller von den Behörden genehmigten Tierversuche überhaupt das Licht der (Fach)-Öffentlichkeit erblicken. Wer schon länger im Geschäft ist oder die Literatur der Meta-Studien kennt, die all dies quantitativ untersucht, weiß, dass diesbezüglich in vielen tierexperimentellen Studien noch erheblicher Nachholbedarf besteht. Daniel Strech und ich haben daher die Forderung nach Berücksichtigung dieser zusätzlichen Prinzipien kürzlich detailliert begründet (http://bit.ly/6RArtikel).

Aber noch etwas fehlt mir in der gegenwärtigen Diskussion um Tierversuche: Volle Transparenz bei denen, die Tierversuche machen. Allen voran die wissenschaftlichen Einrichtungen, und da insbesondere die Universitätsmedizin. Jedes Universitätskrankenhaus sollte auf seinen Internet-Seiten – und zwar möglichst auf der Einstiegsseite und nicht irgendwo versteckt – auf die Tatsache hinweisen, dass dort im Rahmen des medizinischen Erkenntnisgewinns an Tieren geforscht wird. Und diese Forschung samt ihrem Zweck dann allgemeinverständlich beschreiben. Und überdies erläutern, dass man dabei auf die 6R, nicht nur auf die 3R achtet!

Tatsächlich würde ich sogar noch weiter gehen. Unikliniken sollten in die Einverständniserklärung, die jeder Patient vor Behandlungsbeginn unterschreiben muss, die folgende oder eine ähnliche Formulierung aufnehmen: „Ich bin darüber informiert worden, dass Ärzte und Wissenschaftler des Klinikums Tierversuche zur Aufklärung von Krankheitsmechanismen sowie zur Entwicklung neuer Therapien durchführen. Ebenso bin ich darüber informiert worden, dass viele Therapien, die an diesem Krankenhaus zur Anwendung kommen, direkt oder indirekt auf Tierversuchen basieren.“

Verrückt? Keineswegs. Es entspricht der Wahrheit, zwingt zum Nachdenken – und gibt voraussichtlichen Patienten die Möglichkeit, sich eben doch nicht nach modernen medizinischen Standards behandeln zu lassen, da sie damit möglicherweise die Nutzung von Tieren oder sogar Tierleid billigend in Kauf nehmen würden.

Weiterführende Literatur und Links finden sich wie immer unter: https://dirnagl.com/lj.



Letzte Änderungen: 11.03.2020