Der gefallene Wunderknabe

Ralf Neumann


Editorial

Rätsel

(20.03.2018) Mindestens dreißig „unkorrekte“ Paper hat er veröffentlicht. In Amt und Würden ist er aber weiterhin – und publiziert, als wäre nichts gewesen.

Folgender fiktiver Dialog zweier Postdocs in der Kaffeeküche eines x-beliebigen Instituts:

„Du, hast du ‘n Moment Zeit? Ich muss dir was erzählen.“

„Okay, leg‘ los!“

„Vor ein paar Wochen kam ich auf die Idee, einfach mal ein anderes System zur transienten Expression bestimmter Gene in meinen Tabakpflanzen auszuprobieren.

Vielleicht könnte ich damit ja tatsächlich höhere Protein-Ausbeuten kriegen – und das kann ja nicht schaden.“

„Klar. Und?“

„Ich hab‘ dann auch schnell ein älteres Paper gefunden, das ein passendes System beschreibt. Es basiert auf einem bestimmten Virusprotein, das in den Pflanzenzellen gewisse posttranskriptionelle Blockaden unwirksam macht. Man koexprimiert also das entsprechende Virusgen zusammen mit dem Wunschgen – und voilà, schon erhält man von letzterem eine fünfzigfach stärkere Expression. Jedenfalls in dem Paper.“

„Und, hast du‘s schon ausprobiert?“

Editorial

„Ja, klar. Ich bekomme zwar nicht gleich fünfzigmal mehr Protein, aber doch wenigstens knapp zehnmal soviel wie vorher.“

„Na, dann gratuliere ich doch mal.“

„Danke! Aber das ist gar nicht mal der Grund, warum ich dir das erzähle. Die Geschichte nimmt nämlich noch eine ziemlich komische Wendung.“

„Okay. Ich bin ganz Ohr.“

„Ich hatte das Paper schon vor einiger Zeit von meinem Kumpel John in Cambridge als PDF geschickt bekommen. Und jetzt stelle ich in ganz anderem Zusammenhang fest, dass es vor einiger Zeit zurückgezogen wurde.“

„Hä, wieso das?“

„Datenmanipulation. Duplizierte Western Blot-Banden in mindestens vier Abbildungen.“

„Ja, aber die Methode funktioniert doch offenbar. Jedenfalls in deinem Fall.“

„Und in vielen hundert anderen auch, wie ich inzwischen weiß.“

„Krass. Von wem war denn das Paper?“

Editorial

„Hm, ich komm‘ gerade nicht auf den Namen, ich hab‘ doch so ein schlechtes Namensgedächtnis. Aber es ist dieser Typ mit dem Pferdeschwanz. Damals hatte ich ihn gegoogelt, und auf den meisten Fotos hatte der so einen hässlichen Karo-Pullover an. Das ist bei mir natürlich hängen geblieben.“

„Ach ja, ich weiß, wen du meinst. Dieser Wunderknabe, der bei dem Typen in England promoviert hat, von dem viele sagen, er hätte damals den Nobelpreis nur deswegen nicht mitverliehen bekommen, weil er Pflanzenforscher ist.“

„Ja, genau. Zu dumm, dass mir der Name nicht mehr einfällt... Aber ich habe dann natürlich weiter recherchiert – und gesehen, dass das Paper beileibe kein Einzelfall war. Es gab einen Riesen-Aufruhr damals – und am Ende musste er acht Artikel zurückziehen sowie 22 weitere korrigieren. Wobei manche Korrektur darin bestand, jede einzelne Abbildung gegen eine neue auszutauschen. Stell‘ dir das mal vor!“

„Hä, und warum hat man die nicht gleich auch zurückgezogen?“

„Keinen Schimmer! Doch weißt du, was das Krasseste ist?“

„Du wirst es mir gleich sagen.“

„Es gab damals gleich zwei große Untersuchungskommissionen – eine bei seinem jetzigen Arbeitgeber und eine bei dem vorigen. Doch die ‚Sanktionen‘ kannst du eigentlich vergessen. Der ehemalige Arbeitgeber, der ihn immer noch förderte, ‚suspendierte‘ ihn lediglich für zwei Jahre – was immer das heißt. Und sein aktuelles Institut hat ihn lediglich ermahnt und ihm eine Art Aufsicht an die Seite gestellt. Dies, obwohl beide mitteilten, dass sie klaren Scientific Misconduct über nahezu zwanzig Jahre festgestellt hatten.“

„Unglaublich.“

„Ja. Und weißt du was? Seitdem hat er bereits sieben neue Artikel publiziert. Als ob nichts gewesen wäre...“

„Okay, kann natürlich sein, dass die jetzt alle korrekt sind. Aber dennoch: Irgendwie verliert man schon den Glauben an die Selbstreinigungskraft der Wissenschaft. Zumindest im Hinblick auf wissenschaftliche Karrieren.“

„Wie meinst du das jetzt?“

„Na ja, nimm‘ es doch mal so: Wir beide mühen uns nach allen Regeln der guten wissenschaftlichen Praxis ab, um auf saubere Weise zu guten Ergebnissen zu kommen – und wer weiß, ob das am Ende für eine halbwegs ordentliche Karriere reicht? Und der? Zu einem gehörigen Teil ermogelt der sich eine bestens bezahlte Spitzenposition – und darf sie sogar behalten, nachdem er erwischt wurde.“

„Stimmt! Das ist wirklich kein gutes Signal für Nachwuchsforscher wie uns.“

Über wen unterhalten sich die beiden?




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Der „gefallene Wunderknabe“ ist der französische RNA-Biologe Olivier Voinnet, der trotz nachgewiesener „Schlampereien“ in mehr als dreißig Publikationen weiterhin an der ETH Zürich forscht, Studenten ausbildet – und natürlich sein Professorengehalt bezieht.