Der Suffix-Präger

Ralf Neumann


Editorial

Vergröbertes Bild der zu erratenden Persönlichkeit

(12.12.2022) Als Protagonist der chemischen Industrie seiner Zeit blieb er der Grundlagenforschung zeitlebens verbunden. Seine Fußstapfen hat er in beiden Welten hinterlassen.

Das Verfahren zur Gewinnung der neu entdeckten Wirksubstanz beschrieb unser Gesuchter im Jahre 1833 mit seinem Co-Autor folgendermaßen:

„Hier ist die Methode, mit der es am besten gelungen ist: Man zerstampft frisch gekeimte Gerste in einem Mörser, tränkt sie mit etwa der Hälfte ihres Gewichts an Wasser und setzt diese Mischung einem starken Druck aus. Die entstehende Flüssigkeit wird mit so viel Alkohol vermischt, dass ihre Viskosität eliminiert wird. Dabei fällt auch der größte Teil des stickstoffhaltigen Materials aus, welches man durch Filtration abtrennt. Die filtrierte, mit Alkohol ausgefällte Lösung liefert die unreine [Wirksubstanz]; diese wird durch dreimaliges Auflösen in Wasser und Ausfällen mit Alkohol bis zum Überschuss gereinigt. Die [Wirksubstanz]-Lösung, entweder rein oder zuckerhaltig, trennt auch Dextrin von allen Stärken und stärkehaltigen Stoffen und ermöglicht so die direkte Analyse von Mehl, Reis und Brot.“

Klar, das Autoren-Duo schrieb nicht „Wirksubstanz“. Stattdessen steht im Original bereits der Name, auf den unser Chemiker das aufkonzentrierte Makromolekül getauft hatte. Diesen Namen musste es zwar später gegen einen besser passenden eintauschen, die letzten drei Buchstaben jedoch – das Suffix – blieben ihm erhalten. Denn längst wurde dieses Suffix per Übereinkunft zur namentlichen Kennzeichnung aller Vertreter der großen funktionellen Substanzklasse verwendet, für die unser Gesuchter und sein Partner die Premiere geliefert hatten.

Editorial

Nur ein paar Jahre später sollte unserem Mann nochmals ein solches Suffix-Kunststück gelingen. Im Gegensatz zu Kollegen wie etwa Joseph Louis Gay-Lussac hatte er erkannt, dass Holz keine einheitliche Substanz ist, sondern vielmehr aus mindestens zwei sehr unterschiedlichen chemischen Bestandteilen zusammengesetzt ist. Sein chemischer Analyseeifer war damit geweckt. Als er Holz schließlich mit Salpetersäure aufschloss, erhielt er eine faserige Substanz, die sich als relativ resistent gegen diese Behandlung entpuppte. Die Elementaranalyse offenbarte, dass sie dieselbe chemische Zusammensetzung wie die zuvor von ihm untersuchte Stärke aufwies – auch wenn sie deutlich andere Eigenschaften zeigte. Wiederum führte unser Analytiker die Substanz mit einem Namen in die chemische Literatur ein, dessen Drei-Buchstaben-Suffix prägend für die gesamte Stoffklasse werden sollte – auch wenn in diesem Fall der eine oder andere Vertreter schon sehr lange unter anderem Namen bekannt war.

Natürlich konnte es nicht ausbleiben, dass sich unser „Stoffklassen-Täufer“ auch für das eigentliche holzige Material interessierte, das er ja im Rahmen seiner chemischen Malträtierungen erfolgreich von obiger Substanz getrennt hatte. Auch hier ermittelte er für das Grundmolekül die chemische Zusammensetzung und bezeichnete sie diesmal schlichtweg – und Suffix-los – als „inkrustierende Substanz“. Den Namen, unter dem die hochgradig Polymer-bildenden Moleküle heute firmieren, kennt wohl jeder.

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Holz und Stärke waren jedoch nur zwei von vielen Betätigungsfeldern unseres chemischen Tausendsassas. Geboren wurde er, als sein Heimatland mitten in einer der folgenreichsten Revolutionen der europäischen Geschichte steckte. Deren Ereignisse führten auch dazu, dass sein Vater seinen Job verlor und daraufhin rund um einen alten Jagdsitz in der Nähe der Hauptstadt nacheinander eine Bleicherei, eine Kattun-Druckerei und eine Gelatine-Fabrik errichtete – ein Industriekomplex, der bald noch um die Herstellung von Schwefelsäure, Chlorwasserstoff und Borax sowie um die Raffination von Zucker erweitert wurde.

Nachdem der Vater unseren Gesuchten fernab der Schule selbst unterrichtet hatte, schickte er ihn in die Hauptstadt zum Studium der Chemie, Physik und Mathematik. In der Zwischenzeit hatte die Revolution ihre Kinder gefressen, und der selbstgekrönte Kaiser wurde endgültig in die Verbannung geschickt, als unser Gesuchter gerade sein Studium abschloss. Also übernahm der Absolvent mit 21 Jahren umgehend die Borax-Raffinerie – und, als sein Vater gestorben war, vier Jahre später 25-jährig die Leitung des gesamten Industriekomplexes.

19 Jahre später hatte er alle Fabriken verkauft. Bis dahin hatte er unter anderem eine Methode zum Bleichen von Zucker mittels Tierkohle erfunden, ein billiges Syntheseverfahren von reinem Borax entwickelt, die Lebensmittelanalytik und den Düngemitteleinsatz vorangetrieben, ein anwendungswissenschaftliches Standardwerk über die Kartoffel geschrieben – und der chemischen Nomenklatur die beiden beschriebenen Suffixe geschenkt.

Die restlichen 32 Jahre seines Lebens verbrachte der Ex-Industrielle als Forscher und Lehrer auf Chemie-Lehrstühlen an gleich zwei Hochschulen der Hauptstadt. Er starb fast zeitgleich mit dem offiziellen Ende eines verlorenen Krieges gegen einen Bund nordöstlicher Nachbarn, als er eine Tagung der Nationalen Akademie für Medizin besuchte. Bei Betreten des Sitzungssaals traf ihn ein Hirnschlag, drei Tage später lebte er nicht mehr.

Wie heißt er?






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„Der Suffix-Präger“ ist Anselme Payen, der mit der Amylase (damals „Diastase“) das erste Enzym entdeckte und das Suffix „-ase“ als Bezeichnung für die gesamte funktionelle Stoffklasse prägte. Ebenso schuf er die Endung „-ose“ als namentliche Kennzeichnung für Kohlenhydrate.